D. Lehnert (Hrsg.): Sozialliberalismus in Europa

Titel
Sozialliberalismus in Europa. Herkunft und Entwicklung im 19. und frühen 20. Jahrhundert


Herausgeber
Lehnert, Detlef
Reihe
Historische Demokratieforschung 4
Erschienen
Köln 2012: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
301 S.
Preis
€ 42,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mark Willock, Baden-Baden

Dieser Sammelband, der zum großen Teil auf den Ergebnissen einer im Juli 2012 abgehaltenen Tagung beruht, widmet sich einem Thema, das seit den frühen 1980er-Jahren selbst innerhalb der historischen Liberalismusforschung immer mehr zu einem Randphänomen verkümmert ist. Hatte die Erforschung des Sozialliberalismus in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren Hochkonjunktur, so ist sie seit den 1980er-Jahren immer mehr ins Abseits geraten – vermutlich eine nicht ganz zufällige Tendenz, die allgemeine politische Entwicklungen wie auch intellektuelle Strömungen in den 1980er- und 1990er-Jahren widerspiegelte. Insofern ist es durchaus zu begrüßen, dass dieser Band das Thema erneut aufgreift und sich ihm in einer international vergleichenden Perspektive annähert. Die darin enthaltenen Beiträge berühren nicht nur bekanntes historisches Terrain, sondern bieten selbst für ausgewiesene Kenner der Liberalismusforschung durchaus Neues.

Was aber genau ist der Sozialliberalismus? Und lässt er sich einer bestimmten Epoche wie etwa der Wende vom 19. zum 20 Jahrhundert zuordnen? Oder ist er eher als epochenübergreifendes Phänomen zu verstehen? Es wird schnell klar, dass der Begriff Sozialliberalismus sich einer klaren inhaltlichen und zeitlichen Eingrenzung entzieht. Hier schlägt Detlef Lehnerts einleitender Beitrag eine sinnvolle Lösung vor, die den weiteren inhaltlichen Rahmen des Sammelbands absteckt: Sozialliberalismus kann als Feld innerhalb des Liberalismus, als Bezeichnung für eine tatsächliche oder angestrebte Kooperation des Liberalismus mit der Sozialdemokratie sowie als eine besonders sozialpolitisch akzentuierte Ausrichtung des organisierten bzw. weltanschaulichen Liberalismus gelten.

„Am Anfang war der soziale Liberalismus.“ Mit diesem plakativen Satz greift Dieter Langewiesche als erster von drei Autoren das Problem der zeitlichen Einordnung des Sozialliberalismus auf und zeigt, dass die langjährige Fokussierung auf Friedrich Naumann und die Ära der Hochindustrialisierung die sozialpolitischen Impulse des Liberalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überdeckt hat. Diese hätten sich etwa in den Agrarreformen, in der Politik für den gewerblichen Mittelstand oder dem genossenschaftlichen Liberalismus niedergeschlagen – freilich nicht immer mit dem von den Liberalen erhofften Erfolg. Langwiesches Thesen stehen allerdings in einem gewissen Widerspruch zum nächsten, eher theoretischen Beitrag von Hans-Georg Fleck, der – hier eher traditionellen Deutungen der Liberalismusforschung folgend – immer noch die Rolle des Markts als Ordnungsprinzip und Motor der Freiheit und der Effizienzsteigerung im frühliberalen Gedankengut betont. Flecks zweiter, inhaltlich wie argumentativ überzeugender Beitrag in diesem Themenblock arbeitet klar und plastisch das spannungsgeladene Verhältnis zwischen der liberalen Gewerkschaftsbewegung und der Deutschen Fortschrittspartei in den 1860er- und 1870er-Jahren heraus. Er schildert einerseits die eher dilettantischen Bemühungen liberaler Arbeitervertreter, sich größeren Einfluss innerhalb der Partei zu verschaffen, und andererseits die hartnäckige Weigerung der Parteieliten, die legitimen Forderungen organisierter Interessengruppen innerhalb des Liberalismus zu berücksichtigen. Ursula Reuter skizziert den politischen Werdegang des Unternehmers Paul Singer vom Anhänger des Berliner Demokraten Johann Jacoby zum (später führenden) Sozialdemokraten: allerdings fragt man sich, ob dieser Aufsatz nicht mehr über die liberal-demokratischen Wurzeln der Sozialdemokratie verrät als über einen wie auch immer definierten Sozialliberalismus.

Obwohl der vorliegende Band mit diesen Beiträgen die enge Fokussierung der Forschungsdebatte auf das ausgehende 19. und das frühe 20. Jahrhundert aufbrechen will, so kommt er – bedingt auch durch den von der Tagung gesetzten inhaltlichen Rahmen – letzten Endes doch nicht umhin, dieser Epoche den weitaus größeren Raum einzuräumen. Insgesamt vier Beiträge widmen sich Friedrich Naumann und seinen sozialliberalen Zeitgenossen, darunter auch Lujo Brentano und Gustav Stresemann. Jürgen Frölich nimmt pointiert Stellung zu den Interpretationen, die nicht nur Friedrich Naumanns Einordnung als Liberalen in Frage stellen, sondern in jüngster Zeit Naumann auch zum Vorläufer des Nationalsozialismus abstempeln. Völlig zu Recht kommt Frölich zu dem Schluss, dass Naumann als Liberaler gelten darf und mit seiner Neudefinition des liberalen Freiheitsbegriffs auch maßgeblich zur Regeneration des spätwilhelminischen Liberalismus beitrug. Instruktiv ist ebenfalls Karl Heinrich Pohls Beitrag über Gustav Stresemanns sozialliberales Wirken – sowohl als Syndikus des Verbandes Sächsischer Industrieller, der die freien Gewerkschaften als Tarifvertragspartei anerkannte, als auch als Reichstagsabgeordneter und engagierter Befürworter des 1911 verabschiedeten Angestelltenversicherungsgesetzes. Im Falle der Angestelltenversicherung zeigt Pohls Beitrag allerdings eindrücklich, dass eine sozial akzentuierte liberale Politik nicht zwangsläufig auf eine Annäherung von Liberalen und Arbeiterschaft zielen musste, sondern von den Liberalen auch bewusst dazu benutzt werden konnte, das Sonderbewusstsein des eigenen mittelständischen Wählerklientel zu stärken und damit eigenen Parteiinteressen zu dienen. Vier weitere Beiträge lenken schließlich den Blick auf die europäischen Nachbarn: auf die soziale Frage in den Schriften des Philosophen und späteren tschechoslowakischen Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk, auf den Sozialliberalismus in Skandinavien zwischen 1890 und 1940, auf den Sozialliberalismus unter dem italienischen Ministerpräsidenten Giolitti sowie auf den sozialen Liberalismus im Frankreich der Dritten Republik.

An diesem verdienstvollen Band gibt es nur wenige Kritikpunkte. Das Fehlen eines Beitrags über den Sozialliberalismus („New Liberalism“) in Großbritannien hinterlässt eine – freilich vom Herausgeber ursprünglich nicht beabsichtigte – inhaltliche Lücke. Auch über das Ausklammern des Themas Sozialliberalismus in der Kommune darf man geteilter Meinung sein. Da ein 2014 erschienener, ebenfalls von Detlef Lehnert herausgegebener Sammelband diesen Themenkomplex allerdings ausführlich behandelt, ist der Verzicht auf das Thema in vorliegendem Band durchaus legitim.1 Aber damit geht die Bedeutung der Kommunalpolitik als Motor für die Herausbildung sozialliberaler Bündnisse wie auch als Betätigungsfeld für eine von Liberalen vorangetriebene Sozialpolitik im vorliegenden Band leider etwas unter. Ein Aufsatz hätte genügt, um die Bedeutung dieses Aspektes für die Geschichte des Sozialliberalismus zu unterstreichen und zugleich eine inhaltliche Brücke zum anderen Sammelband zu schlagen. Auch die Antwort auf die zeitliche Einordnung des Sozialliberalismus bleibt angesichts der in diesem Band gesetzten zeitlichen Parameter etwas ambivalent. Sicherlich würde man den epochenübergreifenden Charakter des Sozialliberalismus noch stärker fassen können, wenn man den Blick auf die Zeit nach 1918 oder gar nach 1945 lenken würde. Dann könnte man auch stärker der Frage nachgehen, wer zum Haupterben des Sozialliberalismus geworden ist. Insgesamt sind dies aber kleine Mängel in einem insgesamt lesenswerten und informativen Buch, das zu einer weiteren Beschäftigung mit einem lange vernachlässigten Thema anregt.

Anmerkung:
1 Detlef Lehnert (Hrsg.), Kommunaler Liberalismus in Europa. Großstadtprofile um 1900, Köln u.a. 2014.