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Titel
Jürgen Habermas. Eine Biographie


Autor(en)
Müller-Doohm, Stefan
Erschienen
Berlin 2014: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
750 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Timothy Goering, Fakultät Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum

Jürgen Habermas wurde am 18. Juni dieses Jahres 85 Jahre alt und erhielt vom Suhrkamp Verlag zum Geburtstag eine Biografie über sich selbst. Geschrieben hat sie Stefan Müller-Doohm, emeritierter Soziologe der Universität Oldenburg, der schon einige Jahre zuvor als Biograf von Theodor Adorno in Erscheinung getreten war. Runde Geburtstage von Habermas zu feiern, wird allmählich – zumindest seit mindestens 35 Jahren – zu einem akademischen Ritual, in dem Superlative emsig bemüht werden. Und auch diese Biografie ist eine erneute Demonstration des fast überlebensgroßen Prestiges von Habermas, der ohne Zögern zum bedeutendsten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts gezählt werden kann. Schließlich ist er spätestens seit den 1960er-Jahren eine bundesrepublikanische Omnipräsenz, der sich Historiker, Soziologen, Philosophen und Politikwissenschaftler nicht füglich entziehen können.

Im Laufe seiner philosophischen Entwicklung stutzte Habermas die performativen Widersprüche der verfallsverliebten Ideologiekritik seiner Frankfurter Lehrer. Verwandelt hat er die negative Dialektik in eine normativ-kommunikative Dialektik und spannte die einträglichsten Elemente hermeneutischer und sprachanalytischer Philosophie zusammen. Sein Stil bezaubert auf eigentümliche Art, jedoch ohne hermeneutische Mystik oder neuphilosophischen Metaphern-Terrorismus. Ihm ist es überdies gelungen, eine wehrhafte Schülerschaft ohne Sektenverdacht auszuheben. So hat er, nachdem er in zweiter Generation der Frankfurter Schule ein neues Gesicht verliehen hatte, eine mittlerweile starke „Frankfurter Schule 3.0“ geprägt, die auf festen Lehrstühlen sitzt und in frisch gegossenem Beton steht. Und wem das noch nicht genug Demonstrationen sind: Heute dienen sogar seine Bücher als Quizfragen von angesagten Gesellschaftsspielen.1

Mit anderen Worten: Es ist kein kleines Kunststück, sowohl den Lebenslauf von Habermas als auch die Tiefendimension seines ausufernden Werks in eine biografische Darstellung zu pressen. Das selbst erklärte Doppelanliegen des Buches ist „die Darstellung des verschlungenen Ineinanders von Haupt- und Nebenberuf, der Wechselbeziehung zwischen den Denkentwicklungen des Philosophen und den Interventionen des öffentlichen Intellektuellen vor dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Ereignisse“ (S. 13). Nie lange bei einer biografischen Episode verweilend schreitet Müller-Doohm virtuos durch die verschiedenen Stationen des Lebenslaufs des Philosophen, von denen hier nur wenige erwähnt werden können.

Die Kindheit und Jugend, die der 1929 in Düsseldorf Geborene im „Dritten Reich“ verlebte, werden ohne Pathos dargestellt. Habermas wuchs in einem konservativen Haushalt auf, ging bekanntlich zur Hitler-Jugend und musste als 15-jähriger als Fronthelfer an den „Westwall“. In den Trümmerhaufen des Nachkriegsdeutschlands startete seine akademische Ausbildung. Philosophisch groß geworden ist der junge Student im dunklen Wald des Existentialismus, wo sich Sein und Zeit gute Nacht sagen. Habermas heideggerte seine Seminararbeiten und schließlich auch seine Dissertation über „Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken“, die er 1954 bei Erich Rothacker einreichte. Für diejenigen, die nur die späteren Schriften von Habermas kennen, könnte diese Periode seines Lebens einige Überraschungen bergen. Es wird nämlich deutlich, dass der junge Habermas bis tief in die 1950er-Jahre ein „treuer Heideggerianer“ (S. 76) gewesen ist, der gerne kulturkritische Zeitungsartikel im „Heidegger-Sound“ (S. 73) schrieb mit Überschriften wie „Autofahren. Der Mensch am Lenkrad“ (S. 101ff.). Erst nach dem Erscheinen von Martin Heideggers „Einführung in die Metaphysik“ (1953) rief Habermas in einer Rezension, die für große Furore sorgte, zum zivil-philosophischen Ungehorsam gegen den heimlichen König der deutschen Philosophie auf.2 In den 1960er-Jahren streifte Habermas den Heidegger-Hut schließlich endgültig ab.

Es folgten die Frankfurter Jahre, in denen Habermas Theodor Adorno kennenlernte und eine sehr „wechselvolle Beziehung“ (S. 113) zu Max Horkheimer pflegte. Vor allem Adorno habe „mit seiner Art des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft einen neuen Typus“ (S. 96) des Intellektuellen geschaffen, der Habermas in den Bann zog. Die Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, die aufgrund der Probleme mit Horkheimer erst bei Wolfgang Abendroth in Marburg eingereicht werden konnte, katapultierte Habermas zu Beginn der 1960er-Jahre in das Zentrum der akademischen Öffentlichkeit.

1971 schien Habermas auf der Höhe seiner steilen Laufbahn angekommen zu sein, als er von Frankfurt nach Starnberg zog, um als Ko-Direktor gemeinsam mit Carl Friedrich von Weizsäcker das „Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt“ zu leiten. Erst später entpuppte sich die Arbeit am Max-Planck-Institut als Fehltritt. Nachdem man jahrelang mit sich selbst zu kämpfen hatte, nahm das Starnberger Experiment schließlich 1981 sein Ende. Dieser Teil der Biografie zählt zu den interessantesten. Scheinbar lagen die Hauptprobleme des Instituts in den gestörten Verständigungsprozessen sowie am fehlenden interdisziplinären Konsens aller Mitglieder. Nicht nur der hyperkritische Ton der Vortragsdiskussionen des Instituts, sondern sogar deliberative Kaffeegespräche gerieten in einen reißenden Sog des einzig besten Arguments. „[S]elbst die informellen morgendlichen Teerunden in den Sekretariatsräumen seien wortreich geführte Demonstrationen situativer Genialität gewesen“ (S. 239), notiert Müller-Doohm über das Arbeitsklima. Anscheinend litt die Zusammenarbeit im Institut unter einer Tyrannei der Gründe, die keine sozialintegrative Kraft entfalten ließ. So verwandelte sich das Max-Planck-Institut für Habermas von einem Lorbeerkranz zum kaudinischen Joch. Und das zu einer Zeit, in der es Habermas gelang, sein Hauptwerk zu verfassen. Noch im gleichen Jahr, als das Institut geschlossen werden musste, wurde sein Magnum Opus „Theorie des kommunikativen Handelns“ veröffentlicht. Die große Ironie dieser Umstände entgeht Müller-Doohm: Gerade als Habermas sein Manuskript zum Hauptwerk der Kommunikationstheorie verfasste, führte der bohrende Argumentationsfetischismus des zwanglosen Zwangs des besseren Arguments in kommunikative und intersubjektive Sackgassen.

Durch die gesamte Biografie ziehen sich wie ein roter Faden diverse Streitgespräche, in die Habermas als öffentlicher Intellektueller hineingeriet und die er häufig selbst vom Zaun brach. Ob als Adornos Scharfschütze im Positivismusstreit, sympathisierender Kritiker der 1968er-Bewegung, Wächter der Vergangenheit im Historikerstreit, humorloser Leser Peter Sloterdijks oder als Alt-Protestierender gegen den Irakkrieg: Habermas machte in seinem Nebenberuf als öffentlicher Intellektueller häufig Überstunden, um mit den „John Waynes unter den Intellektuellen um den schnellsten Schuss aus der Hüfte zu wetteifern“, wie sich Habermas selbst einmal karikierte.3 Auch wenn Müller-Doohm fast immer Habermas' Engagement lobend hervorhebt, gelingt ihm an einer Stelle eine eigenständige kritische Bewertung: „In der Rolle des öffentlichen Intellektuellen greift [Habermas] des Öfteren bewusst ins Arsenal ideenpolitischer Waffen […], wohl wissend, dass die Ideenpolitik, die er damit betreibt, polarisierende Effekte hat, die Argumentation verflacht und somit seinem Aufklärungsideal widerspricht. Hier scheint der Zweck die Mittel zu heiligen.“ (S. 351)

Das Werk, das Müller-Doohm vorgelegt hat, gleicht einem kontrastreichen Werk Rembrandts. Sehr hell leuchten die brillanten Zusammenfassungen der komplexen Werke und Gedanken Habermas', die gekonnt chronologisch in den biografisch-historischen Kontext eingeflochten werden. Ohne die labyrinthischen Sprachkonstruktionen von Habermas nachzuahmen, werden die Kerngedanken verflüssigt und in eigene argumentative Bahnen gelenkt. Aber so hell wie einige Aspekte dieser Studie strahlen, so dunkel sind andere. Die grundsätzliche Schwäche der Biografie wurde bereits angedeutet. Die gebotene analytische Distanz zum Subjekt wird im Vollzug der Arbeit leider zu selten gewahrt. Rückblickende Kommentare von Habermas, die sich in einigen seiner Aufsätze finden lassen, werden bis zum letzten Tropfen ausgeschöpft, um frühere biografische Ereignisse auszulegen. Einige Beispiele seien erwähnt: Die angeborene Gaumenspalte habe „seine Denkwege nicht unwesentlich beeinflusst“, da sie „‚den Sinn für die Relevanz des Umgangs mit Anderen geweckt‘ habe“ (S. 34, Hervorhebung im Original); diese Behinderung habe ihn auch davor geschützt, „sich mit der herrschenden Ideologie [des Nationalsozialismus] zu identifizieren“ (S. 44); Habermas' politische Grundhaltung nach dem Weltkrieg sei das „Produkt der ‚reeducation‘ gewesen“ (S. 55); als Familienvater hätte er „öfter […] da sein müssen“ (S. 87); mit dem bekannten Schlagwort des „linken Faschismus“ habe Habermas „‚eine Nuance zu sehr als bürgerlicher Intellektueller reagiert‘“ (S. 193). Sein Erfolg als öffentlicher Intellektueller wird lediglich daran gemessen, ob es seiner eigenen Theorie des kommunikativen Handelns entspreche (S. 337ff.). Selbst der 80. Geburtstag und die bekannte ZEIT-Schlagzeile „Weltmacht Habermas“ wird durch die selbstreflexive Brille von Habermas erzählt (S. 531). Problematisch ist hierbei weniger, dass Müller-Doohm die autobiografischen Rückblicke gezielt zu platzieren weiß, als dass er sie nicht historisch-kritisch aufarbeitet und hinterfragt. Im Vorwort spricht der Biograf die „Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz, zwischen der Außenperspektive neutralen Analysierens und der Binnenperspektive des hermeneutischen Erschließens und emphatischen Verstehens“ (S. 15) an und ist sich der Gefahr der fehlenden Distanz bewusst. Leider meistert Müller-Doohm diesen Balanceakt nicht durchgehend.

Auf dem Buchumschlag der Biografie sieht man den latent schmunzelnden 85-Jährigen. Eingerahmt durch seinen eigenen Namen zieren die großen Buchstaben „Jürgen Habermas“ sowohl vertikal als auch horizontal den Umschlag, sodass Jürgen Habermas buchstäblich auf sich selbst trifft. Der Umschlag verleitet dazu, symbolisch gelesen zu werden: Wer zu dieser Biografie greift, sieht zu, wie ein rückblickender Habermas der Gegenwart auf einen historischen Habermas der Vergangenheit trifft. Man erfährt einiges darüber, wie Habermas sein eigenes Leben aus der Rückschau betrachtet. Ob das im Sinne des Philosophen war? Hätte Habermas eine Autobiografie verfasst, wäre sie womöglich kritischer ausgefallen.

Anmerkungen:
1 Siehe das Quizspiel „Bezzerwizzer“ (2010), Fragekarte 54. In der Kategorie Gesellschaft steht die Frage: „Welcher deutsche Philosoph befasste sich in den 1960er Jahren mit dem ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit‘? Antwort: Jürgen Habermas (geb. 1929)“.
2 Jürgen Habermas, Mit Heidegger gegen Heidegger denken – Zur Veröffentlichung von Vorlesungen aus dem Jahre 1935, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 170, 25.07.1953, S. 4.
3 So die aufschlussreiche Selbstbezeichnung von Habermas in seiner Dankesrede zur Friedenspreis-Verleihung im Oktober 2001, die von Müller-Doohm zusammenfassend wiedergegeben wird (S. 382).

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