Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Hrsg.): 19 Tage Hamburg

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Titel
19 Tage Hamburg. Ereignisse und Entwicklungen der Stadtgeschichte seit den fünfziger Jahren


Herausgeber
Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg
Erschienen
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Goch, Institut für Stadtgeschichte, Gelsenkirchen

Vielleicht ist es gar nicht mehr möglich, die Geschichte einer Stadt zu schreiben, sondern nur Stadtgeschichten im Plural, weil ja Modernisierung auch die Ausdifferenzierung und Heterogenisierung von städtischen Gesellschaften bedeutet. Und damit gibt es in unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, Milieus und Gemeinschaften sowie bei den verschiedenen Akteuren ganz viele Ereignisse und Entwicklungen nebeneinander und auch ganz verschiedene Wahrnehmungen und Erinnerung. Dies gilt wohl besonders für eine so große Stadt wie Hamburg mit ihren zahlreichen Geschichten. Auch für kleinere und homogenere Städte gibt es wenig Versuche, die eine "ganze" Stadtgeschichte zu schreiben, trotz der nicht unumstrittenen Forderung, die Eigenlogik von Städten zu berücksichtigen, also gewissermaßen das Einzigartige einer Stadt herauszuarbeiten.

So ist es nur folgerichtig, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg mit ihrem Umfeld bei verschiedenen Wissenschaftseinrichtungen aus Hamburg und Umgebung die Stadtgeschichten, hier eben 19, in der Zeit der lebenden Generationen in "dichten Beschreibungen" darstellen. Die Stadtgeschichten, die jeweils bis zur Gegenwart prägende Entwicklungen in Stadtgesellschaft und Stadtpolitik aufgreifen, werden jeweils an einem zentralen Ereignis mit einem Datum festgemacht. Damit orientiert man sich ein wenig an der medialen Inszenierung von Geschichte als Abfolge wichtiger Ereignisse und großer Männer (und Frauen), die die Welt bzw. die Stadt bewegten. Zu Recht wird am Schluss des Bandes festgestellt und von den Beiträgen eingelöst, dass die Ereignisse von den Autorinnen und Autoren in größere Entwicklungen und Zusammenhänge eingebettet werden. Auch findet eben keine Inszenierung statt, sondern die Beiträge sind aus den Quellen erarbeitet.

Nach der Einleitung zur "Historisierung der jüngsten Hamburger Stadtgeschichte" orientiert sich die Auswahl der Geschichten an der "prägenden persönlichen Erinnerung an herausragende Ereignisse der Stadtgeschichte", greift Landmarken aus dem Stadtbild von immer wieder verwendeten (Presse-)Fotos auf und beruft sich natürlich auf das kollektive Gedächtnis Hamburgs – oder, wohl zutreffender: der der Hamburgerinnen und Hamburger. Dabei greifen die Autorinnen und Autoren auf verschiedene wissenschaftliche Zugänge und unterschiedliche Quellen zurück – wie es eben Stadtgeschichten im Plural notwendig machen. Der angesichts der Unabgeschlossenheit vieler Prozesse der Zeitgeschichte recht hohe Anspruch, "thematische und methodische Pfade in eine wissenschaftlich anschlussfähige Stadtgeschichte" zu suchen (S. 12), bleibt aber bestehen. Die interessante Frage, was ein Schlüsselereignis ausmacht und für wen, wird allerdings nicht wirklich diskutiert. Dem Nicht-Hamburger erschließt sich nicht auf Anhieb, warum manche sicherlich spannende Stadtgeschichte ein Meilenstein der Stadtgeschichte Hamburg ist oder auch aus einer übergreifenden Perspektive unbedingt erwähnt werden muss. Nicht immer wird deutlich, welche Rolle spezielle Hamburger Ereignisse und Entwicklungen in übergreifenden Prozessen spielen und inwieweit sie Folge allgemeiner sozialgeschichtlicher Prozesse sind.

Die Themen seien hier aufgezählt: Kontinuitäten der Erinnerungspolitik und -kultur an das "Dritte Reich", Hamburger Kaffeehandel, städtische "Außen(wirtschafts)politik" bei der Städtepartnerschaft mit Leningrad, der Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde, die abbrechende Gedenkkultur Hamburger Schülerinnen und Schüler zum "Tag der deutschen Einheit", jugendliche (Live-)Jugend-(Musik-)Kultur um den legendären Star-Club, Studentenproteste an der Hamburger Universität, die Containerisierung des Hafens, Veränderungen bei gewerkschaftlichen Mai-Kundgebungen, Großsiedlungsbau am Beispiel des Stadtteils Steilshoop, die Internationale Gartenbauausstellung 1973 als frühe Festivalisierung und Eventisierung, die Rivalitäten der beiden zunehmend kommerzialisierten Hamburger Fußballvereine, die Anfänge der grün-alternativen Bewegung in Hamburg, die Entwicklung der Migrationspolitik in der Stadt, friedenspolitische Debatten vor Ort, Stadterneuerungsmaßnahmen in einem Problemstadtteil, die bekannten Auseinandersetzung um besetzte Häuser in der Hafenstraße, die nachlassende Religiosität und die Legalisierung des Drogenkonsums.

Obwohl es um Ereignisse und Entwicklungen in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft (S. 11) gehen soll, werden ökonomische Faktoren eher vernachlässigt, die soziale Lage unterer Schichten, die es doch auch im reichen Hamburg gibt, kommt wenig vor – immerhin empfangen ja auch etwa 10 Prozent der Hamburgerinnen und Hamburger Hartz IV-Leistungen. Gleichzeitig hat Hamburg das höchste Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, was eine deutliche soziale Ungleichheit vermuten lässt. Die sozialräumlichen Strukturen werden aber bestenfalls nebenbei deutlich gemacht.

Besonders stark thematisieren die Beiträge den Wandel von Politik und Kultur in den 1960er- bis 1980er-Jahren und berücksichtigen eher (Protest-)Bewegungen jüngerer Generationen. Die behandelten Akteure tragen dabei mehr oder weniger erfolgreich und mehr oder weniger langfristig zur "Bearbeitung" von Problemen in der Stadtgesellschaft bei. Dabei sind die Themen und ihre Bearbeitung recht "politiklastig". Die Beschäftigung mit der lokalen Politik zeigt gerade auch ein städtisches Gemeinwesen, das immer wieder versucht, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und sich mit seiner Identität auseinandersetzt. Bei allen Schwierigkeiten werden zwar nicht Erfolgsgeschichten erzählt, aber doch ein Bemühen um Problemlösungen und mindestens ansatzweise guter Wille nachgewiesen. Nicht dass Stadtgeschichte eine Stadt "schlechtschreiben" muss, aber die in der vermeintlich so liberalen und sozialdemokratisch geprägten Hansestadt erstaunlichen Erfolge von rechtsextremistischen und -populistischen Bewegungen hätten auch behandelt werden können.

Im Ausblick am Ende des Buches wird zu Recht darauf hingewiesen, dass die Untersuchung der Wirtschaft "lange Zeit ein Stiefkind der Zeitgeschichtsforschung" war und zukünftig auch soziale Konflikte und die Vielfalt der Großstadt berücksichtigt werden sollen. Hier wird nun auch die neoliberale Austeritätspolitik, die Stadtgeschichte der letzten Jahrzehnte mitprägt, erwähnt. Zu Recht wird konstatiert, dass Zeithistoriker viel mehr Themen und Projekte planen können, als sie kurzfristig zu bearbeiten in der Lage sind. So fällt es nicht nur schwer, die eine ganze Stadtgeschichte zu schreiben, so ist es eben auch zu viel verlangt, dass 19 Stadtgeschichten die ganze Stadtgeschichte Hamburgs abdecken. Entsprechend schließt eine eindrucksvolle Bibliographie zu jüngeren Veröffentlichungen zu Themen der Zeitgeschichte Hamburgs den Band ab – als Aufforderung zu weiterer Beschäftigung.

Eindrucksvoll dokumentiert der Band die für eine breite Öffentlichkeit lesbare wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte Hamburgs, also des Erfahrungsbereichs der Lebenden. Er erreicht hoffentlich sein Ziel, einen "Dialog über Perspektiven der jüngsten Stadtgeschichte" zu vertiefen.

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