Cover
Titel
Paper Knowledge. Toward a Media History of Documents


Autor(en)
Gitelman, Lisa
Erschienen
Anzahl Seiten
XI. 210 S.; 11 Abb.
Preis
$22.95 / £14.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Bickenbach, Institut für deutsche Sprache und Literatur I, Universität zu Köln

Zwischen deutscher und nordamerikanischer Medienwissenschaft zieht sich der Graben der Sprachbarriere. Was nicht übersetzt ist, so fasste es jüngst Jürgen Trabant aus eigener Erfahrung zusammen, „kommt in der abgeschlossenen Anglo-Welt nicht vor.“1 Aber auch umgekehrt wird die Produktivität der Media Studies in den USA hierzulande zu wenig beachtet. Über „paper technologies“ reflektiert die deutsche Medienwissenschaft zum Beispiel noch kaum. Zu etabliert scheint die Unterscheidung zwischen Büchern und technischen Medien. Die Folge ist eine disziplinäre Spaltung: Entweder wird literatur- und buchgeschichtlich geforscht, oder Medienwissenschaftler widmen sich den „Revolutionen“ neuer Medien. Ein Begriff wie „paper technologies“ unterläuft jedoch die Unterscheidung, auch weil er den eingeschränkten Begriff der Technik öffnet, so wie es hierzulande der Begriff der „Kulturtechniken“ vorschlägt.2 Vorteilhaft ist dies in mehrfacher Hinsicht. Es erlaubt sowohl den Blick auf das Neue als auch auf das Alte im Neuen und das Neue im Alten. Erst so wird etwa Blättern in Büchern als spezifische Kulturtechnik erkennbar.3 Die Fixierung auf Buchdruck lässt leicht vergessen, dass Papiere auch in anderen Formen immer schon mit an unseren Gedanken und Institutionen gearbeitet haben – als Zettel, Memo oder Akte.4 Statt Mediengeschichte entlang „großer“ Leitmedien zu denken, ist eine historisch wie medial differenzierte Beobachtung gefordert, die Variation und Vielfalt erfassen kann.5

Mit Lisa Gitelmans „Paper Knowledge. Toward a Media History of Documents“ liegt nun ein Buch vor, an dem man diesen Blick üben und sich von ihm faszinieren lassen kann. Aber interessieren „job printer“ in Cincinnati um 1870 oder Standardisierung des Dokumentarwesens durch das „Joint Committee“ um 1930 die deutsche Literatur- und Medienwissenschaft? Wohl kaum. Doch es geht nicht nur darum, was Gitelman erzählt, sondern wie sie es tut. Immer wieder werden aus dem historischen Material heraus überraschende Bezüge zu aktuellen Fragen aufgeworfen. Mit kritischer Schärfe und zuweilen mit Kühnheit thematisiert Gitelman Grundsatzfragen: Sind Medien Gattungen? Was ist ein digitaler Text? Welche Rolle spielen Amateure in der Mediengeschichte? Dass Bruno Latour, Niklas Luhmann, Marshall McLuhan oder Walter Benjamin zitiert und Michel de Certeaus „Jedermann“ und die Praktiken (bzw. Taktiken) des Alltags hervorgehoben werden, zeigt die Orientierung an, doch Gitelman stützt sich nicht auf Theoriereferenzen. Statt Theorie „von oben“ konzipiert sie den Blick „von unten“. Es geht um lokale und selektive Fallgeschichten des Mediengebrauchs. Deren Akteure sind allerdings stets als Agenten der Gesellschaftsgeschichte reflektiert.

Das Vorwort beginnt mit einer Beschreibung der Komplexität von Sterbeurkunden. Doch um solche offiziellen Dokumente geht es gerade nicht. Explizit wird keine Geschichte des Dokuments konzipiert (vgl. S. 6). Die Betonung des Titels liegt auf dem „toward“: Für eine andere Mediengeschichte. Nicht „the Media“ sei Aufgabe, sondern to aim at media (S. 19). Statt durch Begriffe den Gegenstand vorauszusetzen, seien Medien in ihrer Genese zu beobachten: „Better instead to resist any but local and contrastive logics for media; better to look for meanings that arise, shift, and persist according to the uses that media […] familiarily have. Better, indeed, to admit, that no medium has a single, particular logic […]“ (S. 9).

„Paper Knowledge“ wird lesbar als Wissen, das im konkreten Umgang mit Medien liegt: historisch vielfältig und lokal variabel. Der Blick „von unten“ öffnet ein Archiv der „little tools of knowledge“. Es ist aufschlussreich, dass Gitelman aufzählt, was Benjamin auslässt: „Benjamin’s discussion of art in the age of reproducibility leaves out carbon paper, ditto, blueprint, mimeograph, and photo-offset […]. And Benjamin’s hopes for cinema never mention microfilm“ (S. 79). Erzählt werden Fallgeschichten, bei denen der Status des Dokuments unklar ist. Es geht um „job printer“ um 1870, um Hektographien für interne Wissenschaftskommunikation um 1930, um den Status der Fotokopie als öffentliches Dokument um 1960 und um den des PDF, des „printable document file“. Die Kapitel verbindet die Frage der Reproduzierbarkeit, an die Dokumentation verwiesen ist.

Den Druckerzeugnissen der „job printer“ gilt das erste Kapitel als „A Short History of _“. Nach einem Exkurs zu „blanks“ in der Literatur, Gitelman liest Poes „The Purloined Letter“ als entwendeten Buchstaben, betont sie kritisch, inwiefern „blank books“ der Wahrnehmung, die am Paradigma Buchdruck orientiert ist, entgehen. „Job printer“ selbst sind eine blinde Stelle der Mediengeschichte. Kein Archiv dokumentierte ihre Erzeugnisse. Aber es sind hoch spezialisierte Dokumente des Alltagslebens, die, wie Kalender oder Formulare, normative Ordnungsfunktionen etablieren. Die moderne Bürokratie selbst resultiere aus ihnen. Die konkrete Fallstudie gilt einem speziellen „job printer“ und einem Buch. Oscar Harpels „Typograph“ (Cincinnati 1870) versammelt Typographien für Firmenwerbung, Einladungen, Briefbögen usw. Gitelman liest dieses Musterbuch als Dokumentation der lokalen Wirtschaft, aber auch als Paradox: Ein Buch aus Drucken jenseits des Buchdrucks, das dokumentiert, was nie dokumentiert wurde. Aus Harpels Druckerei sind genau zwei Briefumschläge erhalten. Die dichte Beschreibung des Falls und der Genres des „blank book“ wird gerahmt von einem Feuerwerk an Ideen und Perspektiven. Gitelman zieht etwa Parallelen zum papierlosen Büro oder zu Notizzetteln auf Computerbildschirmen. Am Ende beruhigt sie den Leser, dass es fortan linearer zugehen werde.

Das Kapitel zum „typescript book“ behandelt ein spezielles System: die Wissenschaft. Wie können Forschungsergebnisse effizient dokumentiert und ausgetauscht werden, vor allem Arbeitspapiere, die vorläufigen Charakter haben? Lange vor dem Zeitalter der E-Mails wird in den USA 1930 eine Institution gegründet. Das „Joint Committee on Materials for Research“ vereint Institutionen des Bibliothekswesens und arbeitet an Konzepten, die Dokumentation vereinheitlichen sollen. Robert Binkley ist Gründungsmitglied. Er wird 1939 den Mikrofilm mit einführen. Dafür wurde er jüngst von Nicholson Baker prominent gescholten, weil Mikrofilm keine Bilder und Farben, sondern nur Text dokumentiert. Diese Löschung von Information durch Reproduktion bildet die implizite Problemstellung des Kapitels. Gitelman stellt Binkley aber mit einem anderen Projekt vor. 1931 veröffentlicht er ein hektographiertes „Buch“: „Methods of Reproducing Research Materials“. Es ist ein internes Arbeitspapier in Kleinstauflage und besteht aus verschiedenen Hektographieformen. Es thematisiert, was es ist: die Frage preiswerter Reproduktion für Wissenschaft, aber auch von Materialien für Lehrer oder Büros. Im Kontext der Institutionengeschichte und Binkleys zahlreichen Aktivitäten entstehen Standards, die Netzwerke erlauben, in denen tausende Amateure Lokalgeschichte dokumentieren.

Die Grundsatzfrage des Kapitels aber geht weit über Lokalgeschichte hinaus. Es geht um das Verhältnis von Reproduktion und Repräsentation. Sollen reproduzierende Medien nur „Inhalte“ bewahren oder sollen auch formale, letztlich mediale Formen des Reproduzierten bewahrt werden? Dass dies eine zentrale Frage der „Digital Humanities“ ist, wird eingangs des Kapitels thematisiert – als Diskurs, dessen Voraussetzungen „grossly understudied“ seien (S. 55). Binkleys „Buch“ plädiert dafür, dass die Vorlage nicht relevant sei. Es komme auf Information und Ökonomie an. Doch dieser Vorschlag wird in verschiedenen Formen der Hektographie gemacht. Auf ihnen ist notiert, welche Kosten-Nutzen-Relation sie eröffnen, doch nur sie selbst zeigen die Unterschiede der Reproduktionsqualität. Reproduktion ist immer schon Repräsentation. Die Konsequenzen dieser Einsicht sind denkbar weitreichend.

Das Kapitel „Xerographers of the Mind“ gilt folgerichtig dem Fotokopierer. Ist die Kopie eines Dokuments ein Dokument? Eine Abbildung zeigt den Scan einer kopierten Kopie eines Geheimdokuments (vgl. S. 90). Doch nicht die Differenz von Kopie und Original interessiert Gitelman, sie verfolgt vielmehr die Differenz von intern und öffentlich. 1969 fotokopierte Daniel Ellsberg Geheimdokumente des Pentagons über den Vietnamkrieg und brachte sie so an die Öffentlichkeit – ein medialer Vorfahre Snowdens. Fotokopieren impliziert juristische wie öffentliche Belange und das Kapitel zeigt dies detailliert an den Beispielen der politischen und geheimdienstlichen Instanzen, die damals mit diesem Problem beschäftigt waren. Nebenbei verweist Gitelman darauf, dass zwar Chester Carlson als Erfinder der xerographischen Reproduktion bezeichnet werden kann und Xerox 1960 die Maschinen erfand, „[…] but the photocopy itself was invented by users and on the fly“ (S. 84). Der Kopierer war nur für niedrige Auflagen und interne Bürokommunikation konzipiert, 5–20 Exemplare, zu viele für Carbonpapier, zu wenige für eine Matrize zur Hektographie. Die Käufer der Geräte nutzten Fotokopie jedoch von Beginn an anders: für massenhafte Reproduktion. In einem Monat wurde mehr kopiert, als für ein Jahr kalkuliert war.

Das letzte Kapitel, „Near Print and beyond Paper. Knowing by *.pdf“, gilt der Frage, was ein digitaler Text ist. Eine weitere Paradoxie. Digitale Dokumente sind universell manipulierbar, doch Adobes PDF bewahrt bekanntlich die Form des Textes, was es plattformübergreifend zum Standard werden ließ. Was Gitelman interessiert, ist die Veränderung des Textbegriffs angesichts von Kodierungen, die digitale Texte erst erscheinen lassen. Diese Geschichte ist eng mit der Entwicklung grafischer Benutzeroberflächen verbunden. Am PDF kondensieren sich weitere Fragen: Die Differenz von Autor und Leser, die im Buchdruck konstitutiv war, scheint vom Internet suspendiert, wird aber vom PDF wieder eingeführt. Der Zusammenhang von Reproduktion und Standardisierung führt zur Diskussion von Gebrauchsanweisungen und „Open Source“, was am Ende noch einmal den Amateur als Akteur der Mediengeschichte ins Spiel bringt.

Gitelman erzählt Fallgeschichten, die zentrale Fragen aufwerfen: Fragen der Zugänglichkeit, der Standards und der Repräsentation von Information. Die „know-show-function“, die das Dokument definiert, einleitend eingeführt, wird als medienhistorische Variable sichtbar. Der Genese solcher Wissensordnungen sollte man in diesem klugen und anregenden Buch selbst nachgehen – gerade wenn es nicht übersetzt wird.

Anmerkungen:
1 Jürgen Trabant, Der sprachliche Provinzialismus gefährdet das Denken, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 10.05.2014, S. 23.
2 Lorenz Engell / Bernhard Siegert (Hrsg.), Kulturtechnik, Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, 10 (2010), 1.
3 Harun Maye, Blättern, in: Heiko Christians / Matthias Bickenbach / Nikolaus Wegmann (Hrsg.), Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs, Köln 2014, S. 135–148. Vgl. ferner Bonnie Mak, How the page matters, Toronto 2011.
4 John Guillory, The Memo and Modernity, in: Critical Inquiry 31 (2004), 1, S. 108–132. Gitelman verweist auf Markus Krajewski, Paper Machines, About Cards and Catalogs, 1548–1929, Cambridge MA 2011 und Cornelia Vismann, Files, Law and Media Technology, Stanford 2008.
5 Das heißt nicht, dass solche Ansätze nicht vorhanden wären. Gitelman betont die Produktivität der „media archeology“ (S. 19). Zitiert wird Jussi Parikka, What Is Media Archaeology?, Cambridge 2012.

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