C. Oberhauser: Die verschwörungstheoretische Trias

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Titel
Die verschwörungstheoretische Trias. Barruel – Robison – Starck


Autor(en)
Oberhauser, Claus
Reihe
Quellen und Darstellungen zur europäischen Freimaurerei 15
Erschienen
Innsbruck 2013: StudienVerlag
Anzahl Seiten
405 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrew McKenzie-McHarg, Centre for Research into the Arts, Social Sciences and Humanities, University of Cambridge

Im Jahre 1913 – dreißig Jahre nach dem Tod von Marx – würdigte Lenin den von ihm verehrten Meisterdenker mit einem kurzen Artikel, der in der Zeitschrift Prosveščenie (Aufklärung) erschien. Marx habe – so Lenin – das Beste übernommen und zusammengefügt, was die europäischen nationalen Traditionen im 19. Jahrhundert hervorgebracht hatten: deutsche Philosophie, englisch-schottische Nationalökonomie sowie französischen Sozialismus. Diese drei Elemente bildeten das Fundament für eine der „großen Erzählungen“ der Moderne. Aber an der Schwelle zum 19. Jahrhundert hatte bereits eine andere „große Erzählung“ begonnen, unzählige Menschen in ihren Bann zu schlagen. Interessanterweise entstammten einzelne Beiträge auch in diesem Fall der deutschen, der französischen sowie der britischen Kultur. Oder vielleicht besser: einzelne Fassungen dieser Erzählung, denn die Werke des schottischen Naturwissenschaftlers John Robison (1739–1805), des französischen Ex-Jesuiten Augustin de Barruel (1741–1820) sowie des deutschen Theologen und Freimaurers Johann August (von) Starck (1741–1816) standen eher unter dem Zeichen der Konvergenz als der Synthese. Jedenfalls vermittelte der sehr heterogene Charakter dieser „Trias“ diesen Eindruck. Dem Anschein nach waren sie – ganz unabhängig voneinander – zu demselben aufsehenerregenden Schluss gelangt: nämlich dass die Französische Revolution die Folge einer von langer Hand angezettelten Verschwörung gewesen sei.

Die geheime Geschichte hinter der Geburt der Neuzeit lasse sich also in der Form einer Verschwörung erzählen. Aber die Werke, in der diese geheime Geschichte erzählt und angeblich belegt wurde, hatten ihre eigene geheime, ja sogar bewusst verschleierte Geschichte. Es ist das Verdienst von Claus Oberhauser, in seiner 2013 publizierten Dissertation zu zeigen, wie hinter den Kulissen doch eine Art Synthese – oder wenigstens Zusammenarbeit – stattfand. Zwar durchschaute bereits Vernon Stauffer in seiner 1918 veröffentlichen Untersuchung zur Illuminaten-Legende in Amerika die vorgegebene Konvergenz im Werk von Barruel und Robison1, und spätere Historiker wie Rolf Haaser mit seiner Studie zu Akteuren im intellektuell-publizistischen Milieu um die Universitätsstadt Gießen haben wichtige Puzzleteile geliefert.2 Aber erst Oberhauser hat das Netz von Anregungen, Vermittlungen und Materiallieferungen in seinem ganzen Umfang und mit seinen vielen Verästelungen akribisch rekonstruiert.

Die Hochkonjunktur verschwörungstheoretischen Denkens am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts wurde gespeist von der inzwischen veröffentlichten Korrespondenz der führenden philosophes sowie vom Material, das durch die Aufhebung des Geheimbundes der Illuminaten in Bayern bekannt geworden war. Dabei fällt auf, dass den Juden zu diesem Zeitpunkt noch keine Rolle in der Subversion der alten Ordnung zugeschrieben wurde. Aber Oberhausers Werk wartet nun mit einem Fund auf, der die Rezeptionsseite der antirevolutionären Verschwörungstheorie betrifft und damit eine Verbindung zu der unseligen Weiterentwicklung dieses Denkens anzeigt: Am 20. August 1806 erhielt Barruel einen Brief, in dem ein piemontesischer Soldat namens Jean-Baptiste Simonini ihm zu seinen Mémoires gratulierte und zugleich auf eine tiefere Ebene der Manipulation aufmerksam machte. Simonini zufolge hielten von dort aus die Juden die Fäden in der Hand, mit denen sie angeblich den Lauf der Geschichte lenkten. Da der moderne Antisemitismus seine Virulenz zu einem beträchtlichen Teil gerade aus der verschwörungstheoretischen Verdächtigung der Juden herleitete, wirkt der Simonini-Brief wie ein fernes ominöses Wetterleuchten. Seine Authentizität ist bis vor kurzem immer wieder bestritten worden. Zu den signifikantesten Forschungsergebnissen der vorliegenden Dissertation gehört nun die Entdeckung von drei zeitgenössischen Abschriften des berüchtigten Briefes sowie von Barruels Kommentaren dazu.

Nach einer einleitenden Präsentation des allgemeinen Phänomens des Verschwörungsdenkens nähert sich Oberhauser dessen empirischer Realität im 18. Jahrhundert durch eine Sichtung der diversen Themenkomplexe, welche die Weltanschauungen der drei Protagonisten prägten: Man erfährt Näheres über Barruels Verachtung aller vertragstheoretischen Legitimationsmodelle, über Robisons Präferenz für die Phlogiston-Theorie, über Starcks eigenwillige Schaffung eines neuen freimaurerischen Systems im so genannten Klerikat. Aus diesen Erkundungen der vielfältigen Diskurslandschaft der Spätaufklärung ergeben sich interessante und oft unerwartete Überschneidungen – beispielsweise weisen Barruel und Robison eine Affinität sowohl in ihrer Verehrung Newtons als auch in ihrem Interesse an dem jesuitischen Polyhistor Boscovich auf. Für den Jesuitenorden selbst, dem sich Barruel durch seine eigene Vergangenheit eng verbunden fühlte, lässt Starck in seinen Schriften eine offenkundige Sympathie erkennen. Dagegen hätte die von alten protestantischen Feindbildern getragenen Angst vor Jesuiten – eine Angst, die auch ihren Niederschlag bei Robison findet und die Starck zur Zielscheibe heftiger Anfeindungen macht – es eigentlich Starck als lutherischem Prediger ratsam erscheinen lassen müssen, gerade eine solche Sympathie ganz zu verschweigen.

Nach einem schwerpunktmäßig durchgeführten Vergleich der drei Versionen der Verschwörungstheorie geht Oberhauser dazu über, das Netzwerk von Figuren zu beleuchten, die als Ideengeber oder Vermittler zur Entstehung der Verschwörungslegende beitrugen, aber dabei ihre Rollen eher im Hintergrund spielten. Mit gewissem Recht kann man die Untersuchung in diesem bedeutendsten Teil der Arbeit als ein Beispiel für jene Konstellationsforschung auffassen, die auf eine Sensibilität für Gesprächslagen und Austauschprozesse setzt. Bekanntlich hat Dieter Henrich diesen Ansatz in seinen Untersuchungen zur Entstehung des deutschen Idealismus entwickelt; neuerdings ist seine Anwendung auf andere „Konstellationen“ von Martin Mulsow und anderen erprobt worden.3 Mit dem antirevolutionären Verschwörungsdenken hat man einen weiteren Fall, an dem sich das heuristische Potential der Konstellationsforschung testen lässt, zumal dieses Denken zweifellos einen Abstieg vom geistigen Niveau des frühen Idealismus darstellt und daher exemplifiziert, wie Interaktion unter Gleichgesinnten das Denken genauso gut verflachen wie ihm kreative Impulse verleihen kann.

Obwohl Oberhausers Untersuchung viele Qualitäten dieser Forschungsrichtung bereits demonstriert, fragt es sich, ob er nicht besser beraten gewesen wäre, sein Schiff explizit unter ihrer Flagge segeln zu lassen, denn die sehr eklektische Reihe von Ansätzen (Luhmann, Derrida, Žižek etc.), mit denen er sein Werk einleitet, stehen recht unvermittelt dem empirischen Material gegenüber. Womöglich hätte dieser Ansatz dem Werk auch die Unsicherheit erspart, die im Umgang mit dem Begriff der „Gegenaufklärung“ zum Vorschein kommt. So sehr sich Oberhauser auch der Tücken eines hypostasierten Verständnisses dieses Begriffs bewusst ist, vermag er doch der Gefahr der Inkohärenz nicht ganz zu entkommen: Robison gilt etwa als prominenter Vertreter der schottischen Aufklärung, und doch glaubt Oberhauser, „ihn trotzdem als Gegenaufklärer bezeichnen“ (S. 281) zu müssen. Ein Ansatz, der – wie der der Konstellationsforschung – an solchen Stellen eine situative Differenzierung aufzuweisen erlaubt, hätte hier womöglich Abhilfe geschaffen.

Das Problematische, das darin steckt, „Gegenaufklärung“ als Erklärungsschema zu bemühen, ohne Klarheit über dessen begrifflichen Status und heuristischen Wert zu erlangen, verschärft sich, wenn es darum geht, die Verbindung mit dem Verschwörungsdenken herzustellen. Der genaue Charakter dieser Verbindung verdient durchaus eine nähere Betrachtung, zumal viele Denker, die als Aufklärer gelten, ebenfalls eine hohe Anfälligkeit für dieses Erklärungsmuster zeigten. Angesichts einer Gesellschaft, deren Komplexität rapide gewachsen war, die aber noch nicht über das konzeptuelle Vokabular der Sozialwissenschaften verfügte, postulierten Autoren dieser Zeit – ungeachtet ihrer (proto-)ideologischen Ausrichtungen und (proto-)parteiischen Zugehörigkeiten – fast zwangsläufig geheime Pläne, als deren Realisierung sie die beobachteten Entwicklungen verstehen wollten.

Aufgrund dieses Arguments erkannte der amerikanische Historiker Gordon Wood 1982 in einem wegweisenden Aufsatz der Verschwörungsfigur einen epistemischen Status für das 18. Jahrhundert zu und meinte, damit ihrer ubiquitären Präsenz im politisch-sozialen Diskurs dieser Zeit gerecht zu werden.4 Die Raffinesse seiner Erklärung wird anhand eines Vergleichs mit älteren Werken der Ideengeschichte deutlich. Als Beispiel scheint der Verweis auf Jacques Barzuns 1942 veröffentlichten Untersuchung Darwin, Marx, Wagner: Critique of a Heritage passend, da es hier auch um eine Trias geht.5 Die Trias wird allerdings auf der Basis einer diffusen Vorstellung des Zeitgeistes konstruiert. Dementsprechend erscheint Marx’ Denken nicht als Schmelztiegel (wie bei Lenin), sondern als Symptom für eine allgemeine Tendenz des „Zeitgeistes“ hin zum Materialismus. Dank Oberhauser wissen wir, dass die Affinitäten, die im von ihm behandelten Fall zur Rede von einer Trias berechtigen, nicht nur mit einem alles durchströmenden „Zeitgeist“ oder fundamentalen epistemischen Erklärungsmustern zu tun hatten, sondern ebenso viel mit empirisch belegbaren Wechselwirkungen, die diese Akteure der Spätaufklärung vor allem in dem dadurch hergestellten Kontext als Wortführer einer paranoiden Gegenaufklärung auftreten ließen.

Anmerkungen:
1 Vernon Stauffer, New England and the Bavarian Illuminati, New York 1918.
2 Rolf Haaser, „… als wenn ich ein Erzaufklärer wäre“. Der Gießener Regierungsdirektor und reaktionär-konservative Publizist Ludwig Christian Adolf von Grolman, in: Christoph Weiß / Wolfgang Albrecht (Hrsg.), Von ‚Obscuranten‘ und ‚Eudämonisten‘. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizistik im späten 18. Jahrhundert, St. Ingbert 1997, S. 305–366.
3 Martin Mulsow / Marcelo Stamm (Hrsg.), Konstellationsforschung, Frankfurt am Main 2005.
4 Gordon Wood, Conspiracy and the Paranoid Style: Causality and Deceit in the Eighteenth Century, in: The William and Mary Quarterly 39 (1982), S. 401–441, hier S. 402–411.
5 Jacques Barzun, Darwin, Marx, Wagner: Critique of a Heritage, London 1942.

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