E. Conze u.a. (Hrsg.): Aristokratismus und Moderne

Titel
Aristokratismus und Moderne. Adel als politisches und kulturelles Konzept, 1890–1945


Herausgeber
Conze, Eckart; Meteling, Wencke; Schuster, Jörg; Strobel, Jochen
Reihe
Adelswelten 1
Erschienen
Köln 2013: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Kubrova, Internationales Graduiertenkolleg "Formenwandel der Bürgergesellschaft", Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Die neue Reihe „Adelswelten“ möchte ein Forum für Beiträge zur historischen Adelsforschung bieten, um epochenübergreifend, transnational und interdisziplinär Forschungsentwicklungen zu bündeln und voranzutreiben. Zur derzeit maßgeblichen, seit dem Jahr 2000 von Heinz Reif herausgegebenen Reihe „Elitenwandel in der Moderne“ tritt eine Unternehmung, die über den Adel als Forschungsgegenstand im engeren Sinn hinausweist und sich als Teil einer allgemeinen Geschichte begreift. Der Reihe ist Erfolg zu wünschen und ihr erster Band an dieser Stelle zu besprechen.

Der Sammelband „Aristokratismus und Moderne“ geht auf eine Tagung zurück, die 2009 an der Philipps-Universität Marburg stattfand. Hier diskutierten Vertreter/innen verschiedener Disziplinen über adeligen Habitus und Neuadelsdiskurse. Der Tagungsband selbst spiegelt in 17 Aufsätzen vornehmlich die Ergebnisse aus historischer und literaturwissenschaftlicher Sicht. Herausgegeben und eingeleitet wird der Band von dem Historiker Eckart Conze, der Historikerin Wencke Meteling und den Literaturwissenschaftlern Jörg Schuster und Jochen Strobel, die zugleich eigene Aufsätze beisteuern.

Der Band beschränkt sich raumzeitlich im Wesentlichen auf Deutschland in den Jahren von 1890 bis 1945. Dabei gehen die Herausgeber von der unstrittigen Feststellung aus, dass der historische Geburtsadel im Untersuchungszeitraum an gesellschaftlicher Bedeutung verlor. Zugleich sei aber ein Aufkommen neuer Ideen und Konzepte von „Adel“, vom „Aristokratischen“ in unterschiedlichsten Diskursen zu beobachten, die sich auf die soziale Gruppe beziehen konnten, aber auch zunehmend ohne Bezug zum historischen Adel fungierten. Die Ausweitung der Adelssemantik ist deshalb das Thema, welches im größeren Forschungskontext der sich entfaltenden Hochmoderne und der die Zeitgenossen umtreibenden Suche nach dem „neuen Menschen“ steht. Die als Krise wahrgenommene und gedeutete Moderne setzte Selbstverständigungsdebatten frei, in denen nicht nur Unsicherheiten in politischer, sozialer und kultureller Hinsicht artikuliert wurden, sondern auch darüber nachgedacht wurde, wie eine künftige Gesellschaft grundlegend neu gestaltet sein sollte. Auf dieser Folie situieren die Herausgeber die Diskurse über „Aristokratismus“ und „neuen Adel“. Diese waren zumeist mit Elite- und Machtansprüchen sowie kulturellen Hegemoniebestrebungen verbunden und wurden von heterogenen Gruppen und Strömungen getragen. Mit der These einer engen Verbindung „zwischen dem Funktionsverlust des Adels, der Ausdehnung der Adelssemantiken und der Suche nach einem ‚neuen Adel‘“ (S. 22) zielen die Herausgeber darauf ab, die „vielschichtigen, zeitgenössischen Deutungen von ‚Adel‘ […] ein[zu]fangen“ (S. 13).

Um diese Vielschichtigkeit analytisch zu fassen, präsentiert die Einleitung drei Zugänge, die in den Beiträgen jeweils Verwendung finden. Zu den bekannten gehört zum einen das Konzept „Adeligkeit“ (Funck/Malinowski), wonach die kollektiven Selbstdeutungen und Handlungsorientierungen im historischen Adel als substantielle Kernbestände eines Habitus zu betrachten sind. Zum anderen die von Marburg und Matzerath vertretene Position des Adels als „Erinnerungsgruppe“, die das, was als adelig gelten soll, in binnenkommunikativen Prozessen hervorbringt. Mit der Analysekategorie „Aristokratismus“ bringen die Herausgeber einen neuen Zugang ins Spiel, der dem Phänomen „vagabundierender Adeligkeit“ (Charlotte Tacke) im Untersuchungszeitraum Rechnung tragen soll. „Aristokratismus“ bezieht sich zunächst auf den zeitgenössischen Begriff als „Vorliebe für aristokratische Vorrechte und Gebräuche“.1 Analytisch erweitert wird er um „Wahrnehmungen und Deutungen von ‚Adel‘, Aristokratie‘ und des ‚Aristokratischen‘“, die den literarisch-ästhetischen Gebrauch einschließen und eher auf Fremdzuschreibungen denn Selbstzuschreibungen abzielen (S. 12). Des Weiteren sollen auch „jene Deutungen als Aristokratismus [begriffen werden], die unter Verwendung der Begriffe ‚Adel‘ und ‚Aristokratie‘ gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen entwarfen.“ (S. 12) Im Vergleich zum Bisherigen schließt „Aristokratismus“ auch die von Nicht-Adeligen getragenen Vorstellungen von „Adel“ ein, ob in der literarischen Produktion, der politischen Publizistik oder in Fragen des Lebensstils. Zweifellos erweitert sich hierüber der Gegenstandsbereich der Adelsforschung in der Moderne, doch worin der Erkenntnisgewinn liegen soll, erschließt sich nicht.

Von der Einleitung eines ersten Bandes einer neuen Reihe hätte man ein ambitioniertes Konzept erwarten können. Das ist nicht der Fall. Es ist die Rede von „interdisziplinärer Perspektive“ und einer „‚Adelsgeschichte in der Erweiterung‘“ (S. 10), doch der Aussagegehalt bleibt im Unbestimmten. Vor dem Hintergrund der semantischen Ausdehnung des „Aristokratischen“ in den politisch-sozialen Ordnungsvorstellungen und in der ästhetisch-literarischen Moderne griffe eine sozialhistorische Betrachtung ebenso kurz wie eine begriffsgeschichtliche. Das ist zwar richtig, doch lösen die dagegengehaltenen „[k]ulturgeschichtlichen Betrachtungsweisen“ (S. 15) keinen Aha-Effekt aus. Zugespitzt formuliert, ist die Einleitung ohne Positionsbestimmung, gibt es keine inspirierten, erkenntnisleitenden Fragestellungen. Diese Abwesenheit mag insofern verständlich sein, als dass noch immer mit den Fragen gerungen wird, warum, wie und zu welchem Zweck man zum 20. Jahrhundert, in dem sich die Geschichtsmächtigkeit des Adels rasant verliert, adelshistorisch forschen sollte.

Die einzelnen Beiträge sind dennoch mit Gewinn zu lesen. So unterstreicht Josef Matzerath seine gegen „Adeligkeit“ gerichtete Position und zeigt, dass das Handeln des niederen Adels sehr viel stärker von den Eigenlogiken in Staatsverwaltung, Rittergut und Parlament als von herkunftsspezifischen Interessen geprägt war. Auch Daniel Menning zielt auf eine grundlegende Korrektur unseres bisherigen Wissens um „Adeligkeit“. Das hierzu gehörende Familienmodell ist mit Menning keineswegs ein unveränderliches Adelsspezifikum, sondern wird erst seit Ende des 19. Jahrhunderts erfolgreich vom Adel für sich reklamiert. In den Debatten um eine „neue Aristokratie“, die auch entlang von Reproduktion geführt wurden, stilisierte er sich mit den Kriterien von Blut, Genealogie und Vorbildlichkeit zum Vorreiter eines neurechten Familienverständnisses. Damit untermauerte der Adel seinen Teilhabeanspruch an der neuen Aristokratie, in der er freilich nurmehr eine Teilmenge darstellen konnte. Fast alle Beiträge referieren auf die für die Neuadelsvorstellungen grundlegenden Monographien von Stephan Malinowski und Alexandra Gerstner.2 Malinowski hat nicht nur die affine Haltung des „Kleinadels“ zum Nationalsozialismus analysiert, sondern ebenso beschrieben, wie sich unter dem Leitbegriff „Führertum“ die Diskussionen zwischen der neuen Rechten und dem alten Adel überschnitten. Gerstner zeichnet aristokratische Elitekonzepte von Intellektuellen unterschiedlicher sozialer Herkunft und politischer Anschauung nach. Das Adelsbild der Intellektuellen bezog sich hierbei kaum auf den realen Adel, wohl aber auf die Utopie eines „neuen Adeligen“, verstanden als Tatmensch, dazu berufen, die orientierungslosen Massen zu führen. Adeliges wie nichtadeliges Nachdenken über einen neuen Adel zielte gerade nach 1918 auf die Überwindung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung und war antidemokratisch, antibürgerlich, autoritär und elitär ausgerichtet. Dieser Befund wird in den Beiträgen variiert, differenziert und in zeitlicher Hinsicht spezifiziert. Thematisch spannt die Publikation einen weiten Bogen von der Nietzsche-Rezeption (Ulrich Sieg) zur „Geistesaristokratie“ (Alexandra Gerstner), vom „Deutschen Adelsblatt“ (Michael Seelig) zum letzen deutschen Kaiser (Martin Kohlrausch), vom Offizierskorps (Wencke Meteling) zu den Nationalrevolutionären der Zwischenkriegszeit (Ulrich Fröschle), von völkischen Neuadelssehnsüchten (Ingo Wiwjorra) zu rassistischen Vorstellungen der SS (Eckart Conze). Das „Aristokratische“ in der Literatur und als Lebensstil findet sich im Dandytum (Günter Erbe), in den poetologischen Konzepten von Rilke und Hoffmannsthal (Jörg Schuster) und im männerbündischen Kreis um Stefan George (Barbara Stiewe).

Auch wenn der Neuadelsdiskurs in das 18. Jahrhundert zurückreicht, so legen die Beiträge insgesamt den Schluss nahe, dass das „Aristokratische“ in den Jahrzehnten nach 1890 mehr denn je die Phantasien von (nicht)adeligen Menschen (hier: Männern) anleitete, um eine als aus den Fugen wahrgenommene Welt in eine neue Ordnung zu zwingen, deren Führung in den Debatten um den „Neuen Adel“ diskutiert wurde.

Ein letzter Kommentar zur Interdisziplinarität: Jochen Strobel weist in seinem Beitrag aus literaturwissenschaftlicher Perspektive einen möglichen Weg interdisziplinären Arbeitens, indem er für eine „umfassende Historische Semantik“ (S. 367) plädiert, welche die Trennung von ästhetischer und historisch-politischer Begriffsgeschichte aufheben sollte. Bezeichnungen, die den historischen Adel markieren und sich zunehmend vom Referenten entfernen, ließen sich hierüber systematisch als Diversität von Gebrauchsweisen beschreiben. Und die neu vorgeschlagene Kategorie „Aristokratismus“ könnte an analytischer Schärfe gewinnen.

Anmerkungen:
1 Meyers Großes Konversationslexikon, Leipzig 1888 und 1905, nach: Conze u. a. (Hrsg.), Aristokratismus, S. 12.
2 Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003; Alexandra Gerstner, Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008.

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