Cover
Titel
Kritik von Lebensformen.


Autor(en)
Jaeggi, Rahel
Reihe
suhrkamp taschenbuch wissenschaft
Erschienen
Berlin 2014: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
451 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Lukas Held, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

Was ein gutes Leben sei, gilt in liberalen Gesellschaften als Privatsache. Toleranz zu üben gegenüber der Art und Weise, wie andere ihr Leben führen, heißt nicht nur, sie gewähren zu lassen, sondern darüber hinaus auch, sich eines wertenden Kommentars zu enthalten. Wer gegen diese Norm verstößt, setzt sich leicht dem Vorwurf der Intoleranz aus, und ein solcher Vorwurf scheint schwerer erträglich zu sein als ein Anderer, dessen Lebensform einem zweifelhaft dünkt und dem man zur Not einfach aus dem Weg gehen kann. Insofern mag es auf den ersten Blick reaktionär erscheinen, wenn Rahel Jaeggi in dem hier zu besprechenden Buch „Kritik von Lebensformen“ die These aufstellt, mit eben dieser liberalen Enthaltsamkeit stimme etwas nicht, ja, diese Enthaltsamkeit sei heute zum Problem geworden. Verdankt die pluralistische Gesellschaft ihre bereichernde Vielfalt nicht eben jener zur Enthaltsamkeit gemahnenden Toleranz gegenüber dem Verschiedenen, dem Anderen? Läuft eine Kritik an Lebensformen nicht auf einen Monismus hinaus, für den es am Ende nur noch die eine richtige Lebensform geben kann? Die vorgreifende Antwort lautet: Nicht die historische Errungenschaft dieser liberalen Toleranz soll in Zweifel gezogen werden, noch viel weniger geht es Jaeggi darum, Vorschläge für Richtlinien des guten Lebens im Sinne einer Leitkultur zu unterbreiten. Nichts läge ihr ferner. Vielmehr vertritt sie die These, dass es keine einzige perfekte Lebensform, keinen einzigen vollständig überzeugenden Vorschlag für das gute Leben gibt und geben kann, weil Lebensformen als Problemlösungsinstanzen dynamische soziale Formationen sind, die sich permanent verändernden Rahmenbedingungen anpassen müssen. Ihr mehr oder weniger gutes Funktionieren ist stets vorläufig, und die Kritik hält das Bewusstsein für diese Vorläufigkeit wach. Lebensformen lassen sich als Experimente verstehen, deren Gelingen oder Misslingen gerade durch immanente Kritik steuerbar wird. Mit anderen Worten: Das liberale Gebot zur Enthaltsamkeit hinsichtlich der Kritik von Lebensformen verhindert Lernprozesse und kann im schlimmsten Falle dazu beitragen, dass Regressionen unerkannt bleiben und zu offenen Krisen oder sozialen Pathologien führen.

Als Lebensformen bezeichnet Jaeggi Ensemble sozialer Praktiken, die funktional und normativ aufeinander bezogen sind und deshalb als zusammenhängend aufgefasst werden können. Funktional sind Praktiken aufeinander bezogen, insofern sie einander bedingen. Normativ sind sie aufeinander bezogen, insofern einzelne Praktiken immer schon in bestimmter Weise aufgefasst, das heißt interpretiert werden, also zu etwas gut sein sollen und sich somit in ein größeres Ganzes einfügen. Ein weiteres Merkmal von Lebensformen ist ihr dynamischer Charakter, das heißt ihr Vermögen, sich selbst neu zu verfassen. Die innere Funktionalität normativ und funktional ineinandergreifender Praktiken hängt immer auch von den Rahmenbedingungen ab, unter denen sie als aufeinander bezogen interpretiert werden und als funktionierend gelten können. Ändern sich diese Rahmenbedingungen, so ändert sich gleichsam die Geschäftsgrundlage der Lebensform, und ein Sich-neu-Ausrichten wird nötig. Neue Rahmenbedingungen lassen sich aus der Perspektive einer bisher gut funktionierenden Lebensform als Problem auffassen, zu dem sich die Lebensform verhalten muss. Im Anschluss an John Dewey versteht Jaeggi ein solches Sich-Verhalten als Lernprozess, der gelingen oder scheitern kann. Diesem Verständnis gemäß kommt zur Überwindung eines Problems noch eine Reflexion über den Problemlösungsprozess selbst hinzu, also ein Sich-darüber-klar-Werden, wie das Problem in eine Lösung überführt wurde. Nicht schon die Beseitigung eines Hindernisses für sich genommen stellt demnach eine adäquate Reaktion einer Lebensform auf sich ändernde Rahmenbedingungen dar, indem beispielsweise einzelne Praktiken aufgegeben oder verändert werden, sondern die Lebensform muss zusätzlich in der Lage sein, ihre davon betroffene Gesamtverfasstheit neu auszutarieren, so, dass ihr inneres Passungsverhältnis wieder stimmig und ein reibungsloses Funktionieren gewährleistet ist.

Wie aber sollten Lebensformen als überindividuelle Praxiszusammenhänge auf sich selbst reflektieren können? Die Lösung für dieses Problem liegt für Jaeggi in der spezifischen Verschränkung individueller und überindividueller Deutungsprozesse. Eine Lebensform lernt immer dann, wenn Individuen in ihr lernen. Verändert sich eine einzelne Praxis, das heißt, handeln Individuen vor dem Hintergrund spezifischer Erfahrungen anders, hat das notwendigerweise Auswirkungen auf das Gesamtgefüge der Lebensform, das diesem Handeln seinen Sinn verleiht. Eine Lebensform lässt sich für Jaeggi deshalb auch als Lernumgebung auffassen, „die dadurch, dass in ihr gelernt wird, gleichzeitig selbst lernt“ (S. 331). Oder anders gesagt: Eine Lebensform kann als reflektiert gelten, wenn sie Lernprozesse in ihr zulässt, während sie sich selbst in Reaktion darauf zugleich als Deutungsrahmen verändert.

Hieraus ergeben sich weitreichende geschichtsphilosophische Implikationen, die Jaeggi im letzten Teil ihres Buches unter Rückgriff auf Hegel und Alasdair MacIntyre entfaltet, was gerade für Historiker nur schwer zu verdauen sein dürfte. Beruhen nämlich die Krisen, in die Lebensformen geraten können, auf Widersprüchen, so wird dem geschichtlichen Verlauf implizit eine Rationalität unterstellt, gegen die gleichsam verstoßen werden kann. Das aber bedeutet, Geschichte muss zumindest der Möglichkeit nach als Fortschrittsgeschehen aufgefasst werden. Wie Jaeggi mit dieser schweren Hypothek umgeht, kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Die Lektüre dieses spannenden vierten Teils ihres Buches aber lohnt sich.1

Nun verlaufen Lernprozesse bei Lebensformen aber weder automatisch noch immer erfolgreich. Sowohl der Versuch, auf sich aktuell stellende Probleme adäquate Antworten zu finden, als auch der Modifikationsprozess von Lebensformen kann defizitär vonstattengehen. Jaeggi spricht in solchen Fällen von Lernblockaden, deren Ursachen sichtbar zu machen eine wesentliche Funktion immanenter Kritik ist.

Die Stärke immanenter Kritik liegt in ihrer hohen Sensibilität für die Kontextgebundenheit normativer Ansprüche. Das heißt, immanente Kritik geht davon aus, dass die Gültigkeit von Normen insofern von der Praxis abhängig ist, auf die sie sich bezieht, als diese Praxis deren Realisierungsoptionen eingrenzend vorgibt. Normative Ansprüche, die diesen Einschränkungen durch die bestehenden Verhältnisse nicht hinreichend Rechnung tragen, können dann selbst als Problemursache identifizierbar werden, weil sie nicht nur Unerreichbares fordern, sondern darüber hinaus zu einer falschen Auffassung der Wirklichkeit Anlass geben – sie werden als Ideologien erkennbar, als Überzeugungssysteme also, die Herrschaftsverhältnisse verschleiern helfen. Ein auf diese Weise widersprüchlich verfasstes Normensystem (Aspekte der Wirklichkeit nicht Rechnung tragend und die Wirklichkeit verzerrt auffassend) – darin besteht die Pointe von Jaeggis Ansatz –, untergräbt sich über kurz oder lang selbst, eben weil es seine innere Widersprüchlichkeit in reale Krisen übersetzt.2 Dies heißt allerdings nicht, dass widersprüchlich verfasste Lebensformen sich gleichsam selbst abschaffen würden. Ideologische Systeme können schließlich sehr stabil sein, nur halten sie eben nicht, was sie versprechen.

Wenn aber Praxis und Norm einander nicht mehr unverbunden gegenüberstehend gedacht werden, dann kann das Ziel von Kritik nicht darin bestehen, zwischen beiden eine Differenz ausfindig zu machen und eine bessere Übereinstimmung einzufordern. Vielmehr müssen dann sowohl die Praxis als auch die Norm zum Gegenstand einer transformierenden Kritik werden. Darin liegt ein performatives Moment und zugleich ein wichtiger Unterschied zur Genealogie als Kritik in der Tradition Michel Foucaults. Während der Genealoge seine verflüssigende Machtkritik gegen potentiell alles richtet, was einen Geltungsanspruch erhebt und ihm subjektiv problematisch dünkt, da er sich generell für die Genese von Geltung interessiert, nähme sich der im Zeichen immanenter Kritik arbeitende Historiker nur solche Machtkonstellationen vor, denen eine empirisch aufweisbare Krisenhaftigkeit eigen ist. Nicht, wie bei Foucault, das Problem der Macht und der Ausschließung an sich steht bei Jaeggi im Zentrum, sondern die Frage, wie gut Lebensformen den sich ihnen stellenden Problemen gerecht werden. Immanente Kritik verfährt negativ, indem sie im Gang der Analyse systematisch verursachte Dysfunktionalitäten aufzeigt, ohne anzugeben, was positiv an deren Stelle treten soll. Dieser Aufweis aber ist die Voraussetzung für eine Transformation des Bestehenden zum Besseren und damit mehr als „das Aufreißen eines Raums von Möglichkeiten für andere Haltungen, Handlungen und Identitäten“3, die bei Foucault stets aus dem Nichts zu kommen scheinen, aus dem pauschalen Jenseits aktueller Machtbeziehungen. Von Rahel Jaeggis Ansatz her besehen erweisen sich die analytischen Werkzeuge des Genealogen auf spezifische Weise unpräzise und die Genealogie als tendenziell politisch opportunistisch – jeder kann sich ihrer bedienen und das ihn Störende dekonstruieren, um Veränderungen in seine Richtung in die Wege zu leiten. Und eben dieser Opportunismus findet dann in einer liberalen Enthaltsamkeit seine entsprechende Haltung.4

Anmerkungen:
1 Nur so viel: Gänzlich überwunden wird durch die Verbindung von Dewey, MacIntyre und Hegel die Vorstellungen, die Geschichte bewege sich von immanenten Widersprüchen angetrieben in rationaler Weise automatisch auf ein Endziel zu, „an dem die Freiheit wie ein Pokal entgegengenommen werden könnte“ (S. 424).
2 Vgl. hierzu neben dem dritten Teil in „Kritik von Lebensformen“ auch Rahel Jaeggis Aufsatz „Was ist Ideologiekritik?“ in: Rahel Jaeggi, Was ist Kritik, Frankfurt am Main 2009, S. 266–295.
3 Zit. Martin Saar, Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt am Main 2007, S. 294.
4 Zur Frage, wie Rahel Jaeggi sich ihren Ansatz gleichsam in praxi vorstellt, siehe ihren Aufsatz: Rahel Jaeggi, Kein Einzelner vermag etwas dagegen: Adornos Minima Moralia als Kritik von Lebensformen, in: Axel Honneth (Hrsg.), Dialektik der Freiheit, Frankfurt am Main 2005, S. 115–141.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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