E. Sanders: Envy and Jealousy in Classical Athens

Cover
Titel
Envy and Jealousy in Classical Athens. A Socio-psychological Approach


Autor(en)
Sanders, Ed
Erschienen
Anzahl Seiten
XIII, 207 S.
Preis
£47.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Judith Hagen, Facheinheit Geschichte, Universität Bayreuth

Im Gegensatz zum deutschsprachigen Raum ist in der angelsächsischen Forschungslandschaft die Emotionsgeschichte („history of emotions“) bereits längere Zeit als altertumswissenschaftliche Teildisziplin fest etabliert; seit etwa zwanzig Jahren wächst die Zahl der Neuerscheinungen besonders stark.1 In seiner Anfang dieses Jahres erschienenen Monographie, bei der es sich um die zweite Publikation aus der Reihe „Emotions of the Past“ handelt, befasst sich Ed Sanders mit Neid und Eifersucht im klassischen Athen, zwei Emotionen, deren enge Verknüpfung er in seiner Arbeit aufzeigt. Schon bei einem Blick in das Inhaltsverzeichnis gewinnt man den Eindruck, dass es sich um eine sorgfältig konzipierte Arbeit handelt, und dieser findet bei der Lektüre seine Bestätigung.

Die Untersuchung gliedert sich in zwei Teile: einen grundlegenden theoretischen (S. 1–78) und einen darauf aufbauenden, der sich ausschließlich der Textanalyse widmet (S. 79–168). Im ersten Kapitel (S. 1–12) legt Sanders seine Vorgehensweise dar und stellt das aus der modernen Psychologie stammende Modell der Emotionsszenarien („emotional episodes/scenarios“) vor, auf das er im Verlauf seiner Analyse zurückgreift: Situative Vorbedingungen („situational antecedants“) werden von demjenigen, der sie wahrnimmt, interpretiert; es erfolgt eventuell ein Versuch, die Emotion zu steuern oder zu bewältigen; daraus resultieren verbale oder physische Handlungen (S. 2). Ebenso grundlegend ist die Unterscheidung zwischen Basisemotionen wie Liebe, Hass, Furcht oder Trauer und sekundären Emotionen, die sich oftmals aus diesen zusammensetzen (S. 3). Der genuine Ansatz der Studie wird dann als eine Verknüpfung von lexikalischem Zugang, wie er von einem großen Teil der bisherigen Forschung betrieben wird, mit dem von Robert A. Kaster vertretenen Ansatz der Emotionsskripte („emotion scripts“) beschrieben2, für den Sanders die Bezeichnung „script methodology“ (S. 7) wählt. Wie im Titel angegeben, erstreckt sich die Untersuchung zeitlich auf das klassische Athen (479–322 v.Chr.) und innerhalb dieser Periode auf die zur Aufführung bestimmte Literatur, also Tragödie, Komödie und Reden.

Im zweiten Kapitel (S. 13–32) setzt sich Sanders mit modernen theoretischen Ansätzen aus Philosophie, Kognitionspsychologie, Psychoanalyse, Soziologie und Ethnologie auseinander und entwickelt mit deren Hilfe Skripte für „Neid“ und „Eifersucht“ (vgl. die tabellarische Übersicht auf S. 31), so etwa „missgönnender Neid“ („begrudging envy“: jemand ist verärgert, dass ein anderer etwas besitzt, und will es ihm wegnehmen) und „habsüchtiger Neid“ („covetous envy“: jemand ist verärgert, dass ein anderer etwas besitzt, und will es selbst haben), die beide böswillige Tendenzen besitzen. Zu beachten ist dabei, dass „Neid“ in den Texten nicht notwendigerweise verbatim aufgeführt wird, sondern oftmals Emotionen wie Unwille oder Zorn ihm gewissermaßen als Maske dienen können (S. 23–25). Für das Empfinden von Neid sind drei Eindrücke relevant: jemand besitzt etwas; ein anderer besitzt es nicht; der Neidende hält diesen Zustand für falsch (S. 15).

Diesen modernen Skripten werden im dritten Kapitel (S. 33–57) solche der griechischen Welt gegenübergestellt, die sich großenteils mit ihnen decken (auf S. 46 werden auch sie tabellarisch dargestellt). Dabei bezieht sich das griechische phthonos, dessen umfangreiches Bedeutungsspektrum anhand weitgestreuter antiker Beispiele aufgezeigt wird, auf envy und jealousy scripts gleichermaßen; andere Begriffe, darunter auch zēlos, spielen im Vergleich dazu eine untergeordnete Rolle. Ergänzend und kontrastierend erörtert Sanders im vierten Kapitel (S. 58–78) die Stellung des phthonos in der Rhetorik sowie den ethischen Schriften des Aristoteles. Anders als moderne Theorien und seine Zeitgenossen bezieht Aristoteles den Charakter des Beneidenden in seine Überlegungen ein: Er unterscheidet zwischen der moralisch verwerflichen Emotion phthonos und dem moralisch untadeligen to nemesan (bzw. nemesis, „gerechter Unwille“), dessen Begriffsinhalt bei anderen Autoren mit phthonos abgedeckt ist (S. 76f.). Seine Ambiguität wird durch eine auf Grundlage des Skript-Konzepts vorgenommene Abgrenzung von „gutem phthonos“ (missbilligende Kritik an einer anderen Person, etwa wegen ihrer politischen Macht) gegen einen „schlechten“ (der von den restlichen Skripten beschrieben wird) deutlich (S. 78).

Nach dieser lexikalischen wie sozio-psychologischen Standortbestimmung wendet sich Sanders in der zweiten Hälfte seiner Arbeit der Analyse von Beispielen aus den drei genannten literarischen Genera zu. Für die attischen Redner (S. 79–99) spielte das Erregen von Emotionen bei ihrem Publikum eine herausragende Rolle, da sie die Entscheidung der Richter maßgeblich beeinflussten. Allerdings taten sich bei der Erzeugung von Neid Probleme auf, legte doch ein Redner, dessen guter Charakter als effektivstes Überzeugungsmittel gelten konnte, durch die Verwendung von Neid schlechte Züge seiner Persönlichkeit offen. Somit konnte er sich weder als phthoneros präsentieren noch „schlechten“ Neid bei seinen Mitbürgern hervorrufen; dies wurde als unangemessen gewertet. Ihm standen aber mehrere Möglichkeiten offen, diese Emotion dennoch sehr wirksam in seine Strategie einzubeziehen: Die Motivation des Gegners war oftmals mit Neid zu erklären; zudem konnte der Redner offen oder verdeckt phthonos erzeugen, wie es etwa in Lysias’ Gegen Ergokles der Fall ist, wo der Sprecher wiederholt darauf hinweist, dass der Angeklagte sich auf Kosten des Volkes bereichert habe und dadurch nicht nur Zorn, sondern auch („schlechten“) Neid bei den Hörern habe aufkommen lassen (S. 95f.).

Derartige Konzepte machte man sich auch in der Alten Komödie (Kapitel 6, S. 100–117) zunutze, da davon auszugehen war, dass ein latenter Neid im Athener Publikum vor allem auf Politiker (bzw. deren gesellschaftliche und finanzielle Vorteile) bestand. Sanders führt dazu Beispiele aus Aristophanes an, in denen Demagogen, Gesandte und Generäle angeschuldigt und zugleich lächerlich gemacht werden.3 Das letzte Kapitel innerhalb dieses thematischen Blocks untersucht, wie phthonos-Szenarien auf der Bühne dargestellt werden (S. 118–129). Da dies – im Gegensatz zu den Reden – eher selten der Fall ist und fast nie das Wort selbst auftaucht, ist hier die Anwendung der zuvor entwickelten Skripte besonders hilfreich. So konstatiert Sanders etwa für den sophokleischen Ajax, diesem habe nicht nur Zorn, Hass und ein verletztes Ehrgefühl, sondern auch – als eine vierte, weniger starke Emotion – Neid innegewohnt. Odysseus hat etwas, das Ajax selbst nicht hat, das ihm aber seiner Ansicht nach zusteht – nämlich die Waffen des Achill. Dadurch lässt sich erklären, dass die destruktiven Handlungstendenzen gegen Odysseus stärker als die gegen die beiden anderen Heerführer ausgeprägt sind, denn Ajax will diesen nicht nur töten, sondern zuvor noch foltern (S. 122–125). Insgesamt spielt phthonos im engeren Sinn im Drama gegenüber anderen Emotionen eine untergeordnete Rolle.

Sexuelle Eifersucht bzw. sexueller Neid („sexual jealousy“) ist dagegen von eminenter Bedeutung in der Tragödie, diese Emotion ist auch bei den attischen Rednern und in der Neuen Komödie zu finden (S. 129). Ihr ist das letzte und deutlich längste Kapitel gewidmet (S. 130–168), das zuallererst auf die Tatsache verweist, dass im klassischen Griechisch kein Begriff für diese Emotion existiert, weshalb sie sich einem lexikalischen Zugriff entzieht. Mit Hilfe seiner Skript-Methode gelingt es Sanders aber, plausibel nachzuweisen, dass die in seinen Beispielen auftretenden Eifersuchtsszenarien den heutigen vergleichbar sind. Ausführlich legt er dar (S. 130–142), wie das Verhalten der Medea in der Tragödie des Sophokles durch Trauer, Zorn, Hass und verletzten Stolz motiviert ist, aber ebenso Neid als eine fünfte Emotion ausfindig gemacht werden kann, die sich durch das Stück zieht und erkennbar wird, wenn man die genannten Gefühle in Bezug zueinander setzt. Medea handelt erstaunlich modern, nämlich so, wie es Psychologen für Menschen konstatieren, die eifersüchtig sind: Sie reden über ihre Wut und die Untreue des Partners und versuchen, eine Maßnahme zur Rache zu ergreifen (S. 139). Die Rache der betrogenen Tragödienheldin an ihrem Mann ist nicht nur von Hass, sondern auch von phthonos (laut Sanders wäre dies die angemessene Wiedergabe von „sexual jealousy“ im Griechischen) angetrieben, und daher soll Jason am Leben bleiben, um die Auswirkungen seines Verhaltens vor Augen geführt zu bekommen. Im Rest des Kapitels wird an weiteren Beispielen verdeutlicht, dass sexueller Neid Bestandteil des Emotionshaushalts im klassischen Griechenland war. Anregend ist die aus der Gender-Perspektive erfolgte Beobachtung, dass eine so geartete Eifersucht für Männer in der Tragödie unangebracht4, in der Komödie aber möglich war.

In seiner wohldurchdacht aufgebauten Studie zeigt Sanders komplexe emotionale Strukturen auf; sein methodischer Zugang zu Neid und Eifersucht macht theoretische Überlegungen aus Soziologie und Psychologie5 für den Historiker nutzbar. Die Verbindung von lexikalischem mit Skript-Ansatz ist nicht nur sehr kreativ, sondern führt zu erstaunlichen Ergebnissen, wie der von großer Präzision gekennzeichnete Analyseteil belegt. Dieser hätte ruhig noch etwas ausführlicher ausfallen und mehr Beispiele einbeziehen können, allerdings ist eine umfassende Behandlung des phthonos in den dort behandelten literarischen Genera natürlich ohnehin kaum möglich, und die gebotenen Interpretationen erzeugen ein schlüssiges Gesamtbild. Die umfangreiche Bibliographie wird ein nützliches Instrument für jeden sein, der sich mit dem phthonos, aber auch der Emotionsgeschichte im Allgemeinen beschäftigt.6 Mit „Envy and Jealousy in Classical Athens“ hat Ed Sanders eine durch ihre Ausgewogenheit und nicht zuletzt durch ihr hohes stilistisches Niveau bestechende Monographie vorgelegt, die ihren selbst gesetzten Zielen (vgl. S. 1) vollauf gerecht wird: die Facetten des Neids zu untersuchen und einen methodischen Ansatz zu entwickeln, der zu der aktuell diskutierten Frage beiträgt, wie Emotionen in der Geschichte erforscht werden können.

Anmerkungen:
1 Gleich am Anfang seiner Arbeit nennt Sanders die wichtigste englischsprachige Forschungsliteratur, vgl. S. 1, Anm. 1. In deutscher Sprache böte sich vor allem ein Hinweis auf Diana Bormann / Frank Wittchow (Hrsg.), Emotionalität in der Antike zwischen Diskursivität und Performativität, Berlin 2008 an. Die nur wenige Seiten umfassende Einführung in die Emotionsgeschichte von Angelos Chaniotis, Unveiling Emotions in the Greek World. Introduction, in: ders. (Hrsg.), Unveiling Emotions. Sources and Methods for the Study of Emotions in the Greek World, Stuttgart 2012, S. 11–36 verdeutlicht, wie sehr diese im angelsächsischen Bereich bereits zum Kanon der historischen Teildisziplinen hinzugezählt werden kann und wie stark hier offensichtlich die Unterschiede zur deutschsprachigen Forschung sind – es wird nach Methoden und Inhalten gefragt; dass die „history of emotions“ unabdingbar für das grundlegende Verständnis antiker Lebenswirklichkeit ist, wird als selbstverständlich betrachtet.
2 Robert A. Kaster, Emotion, Restraint, and Community in Ancient Rome, 2005. Mit einem „emotion script“ ist gewissermaßen das „Drehbuch“ gemeint, nach dem eine Emotion bzw. emotionale Reaktion abläuft.
3 Es ist unbedingt zu erwähnen, dass Sanders hierbei die soziokulturelle Bedeutung der attischen Komödie verdeutlicht. Die aufgezeigten Strukturen zum phthonos als ambivalente Emotion waren den Zuschauern vermutlich gar nicht bewusst, sonst hätten sie sich wegen der Inakzeptanz offen gezeigten Neides unbehaglich gefühlt und nicht über das Dargestellte lachen können (S. 117). Obwohl die auf der Bühne vorgebrachten Anschuldigungen in der Regel im wirklichen Leben nicht haltbar waren, hatten sie doch im politischen Leben Athens eine wichtige Funktion, denn die Tatsache, „that they can be made, and regularly are, shows one way in which the Athenian system evolved institutions that had a symbiotic relationship with the democracy – in the case of political abuse in comedy, helping to keep the majority of politicians reasonably honest, and thus reinforcing the stability of the democratic system“ (S. 116f.).
4 Eine Ausnahme bildet Orestes, der S. 155f. bei der Analyse von Euripides’ Andromache Erwähnung findet.
5 Die Bezeichnungen der Skripte sind allerdings nicht daraus übernommen, sondern von Sanders geprägt und sollen der besseren Handhabung für den Leser dienen (vgl. S. 16 u. 20), was durchaus der Fall ist.
6 Die deutschsprachige Literatur auf diesem Gebiet fällt bisher weniger stark ins Gewicht; erwähnenswert wäre dennoch Jan Plamper, Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012.

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