D. Cantor u.a. (Hrsg.): Stress, Shock, and Adaptation

Cover
Titel
Stress, Shock, and Adaptation in the Twentieth Century.


Herausgeber
Cantor, David; Ramsden, Edmund
Reihe
Rochester Studies in Medical History
Erschienen
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
£ 80.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heiko Stoff, Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover

Nachdem in kurzem Zeitabstand mit Patrick Kurys Buch „Der überforderte Mensch“ und Mark Jacksons „The Age of Stress“ zwei Standardwerke zur Geschichte des Stresskonzeptes publiziert worden sind und das zentrale Erklärungsmodell des Leidens an der hochmodernen Lebensweise endlich historiografisch erfasst worden ist1, scheint jetzt die Phase der Ausdifferenzierung einzusetzen. Was über einen langen Zeitraum versäumt wurde, wird nun, wie es sich für das Thema gehört, in hoher Geschwindigkeit nachgeholt. Der britische Medizinhistoriker David Cantor hat zusammen mit dem Wissenschaftshistoriker Edmund Ramsden einen Sammelband vorgelegt, der aus einer Tagung der amerikanischen National Institutes of Health zum Zusammenhang von Stress, Trauma und Adaptation im 20. Jahrhundert hervorgegangen ist. Die Publikation vereint ein breiteres Spektrum zum Thema, das allerdings geschlossen medizinhistorisch ausgerichtet ist. Den Historikern geht es dabei weder um eine Dekonstruktion des Stresskonzeptes noch um die Nacherzählung einer medizinischen Erfolgsgeschichte, die traurigerweise mit der zivilisierten Lebensweise zusammenzuhängen scheint. In ihrer Einleitung betonen die Herausgeber hingegen, „this book provides a close contextual reading of the proliferation of stress as an explanation for the problems of the modern world from a number of different historical perspectives“ (S. 4). Dieses Programm ist so breit wie vage; abgesehen vom Leben und Überleben im Krieg bleibt zumeist unklar, was jenseits eines zivilisationskritischen Diskurses die „Probleme der modernen Welt“ denn eigentlich sind.

Cantor und Ramsden haben das Buch in sechs Kapitel unterteilt, die, wie es bei Sammelbänden so üblich ist, ein wenig gezwungen die eigenwilligen Beiträge zusammenzurren. Im ersten Abschnitt, sinnigerweise „Packaging Stress“ betitelt, führen Mark Jackson und Elizabeth Siegel Watkins, beide sehr vertraut mit dem Themengebiet, in eine Geschichte des Stress ein. Während Jackson sich auf die Rolle des Hormonforschers Hans Selye konzentriert, der unbestritten für das endokrinologische Stressmodell federführend war, betont Watkins die enge Verzahnung von medizinischer und populärer Wissenschaft. Jackson stellt zu Recht die von Selye selbst unermüdlich wiedergegebene Erfolgsgeschichte in Frage, die von der Laborforschung über ein Modell des „General Adaptation Syndrom“ bis zu einem klinischen Krankheitsbild führt. Seiner Forderung nach einer Historisierung Selyes sind die aktuellen Arbeiten zur Geschichte des Stresskonzeptes aber bereits nachgekommen. Watkins zeigt sehr genau, wie Stress zur Diagnose von Angstzuständen herangezogen wurde, aber vor allem als Risikofaktor bei chronischen Krankheiten, namentlich Herz-Kreislauf-Erkrankungen. In diesem eher psychologischen Diskurs fand dann auch die Vermarktung von entsprechenden Medikamenten statt sowie die Popularisierung des Stressmotivs in Zeitschriften und Ratgeberbüchern.

Das zweite und das dritte Kapitel gehen am deutlichsten auf die erwähnte medizinhistorische Tagung zurück; im Mittelpunkt stehen hier die Themenkomplexe Trauma und Krieg. Allan Young gelingt eine sehr lesenswerte Studie zur Entwicklung von Resilienzvorstellungen, also zur gelungenen Anpassung an Stresssituationen, die mit der Etablierung des Diagnosekonzeptes der Posttraumatischen Belastungsstörung (Post-Traumatic Stress Disorder) einherging und durch „9/11“ in den Vereinigten Staaten große Bedeutung erhielt. Otniel E. Dror stellt wiederum den in der Stressforschung allgemein akzeptierten Zusammenhang von Zivilisation und Stress auf den Kopf, wenn er das Phänomen des „Sudden Unexpected Death“ in Bezug auf die von Walter B. Cannon schon in den 1930er-Jahren vorgenommene Bezeichnung als „Voodoo Death“ analysiert. Voodoo und Stress als ein omnipräsentes Phänomen stehen, so Dror, zur Erklärung des plötzlichen Todes in einem genealogischen Verhältnis.

Die amerikanische Geschichtsschreibung – hier Theodore M. Brown und Tulley Long als Autoren des dritten Kapitels – kann sehr pointiert zeigen, dass das Stressmodell im Zweiten Weltkrieg psychiatrisch, physiologisch und psychologisch ausformuliert worden ist; die maßgebliche Militärforschung zum Stress fand bei den US Armed Forces statt. Der eigentliche Ort des Stresses aber, so wird es seit den 1980er-Jahren in den Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaften unermüdlich erklärt, ist der Arbeitsplatz. Joseph Melling gelingt es im vierten Kapitel, dazu eine longue durée-Perspektive einzunehmen, ohne das Stresskonzept überzustrapazieren. Mediziner und Psychiater interessierten sich im industrialisierten England schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts für die Belastungen am Arbeitsplatz und intervenierten entsprechend in Arbeitsprozesse, mit dem Ziel der Produktivitätssteigerung. Das mittlerweile gut erforschte Gebiet der Psychotechnik schloss hier an. Mit dem Konnex von „Work, Stress and Depression“ im heutigen Japan befasst sich Junko Kitanaka, wobei dem an sich spannenden Beitrag eine mehr historische Herangehensweise gut getan hätte.

Die beiden abschließenden Kapitel („Managing Stress“ und „Surveilling Stress“) beschäftigen sich dann mit Fragen, die uns besonders interessieren: Wie kann Stress wissenschaftlich erfasst werden – und vor allem, wie gelingt es, mit Stress umzugehen? Robert G. W. Kirk erinnert im fünften Kapitel daran, dass entsprechendes Wissen in Tierversuchen erpresst wurde, also am mutwillig gestressten Tier. Der Mitherausgeber David Cantor widmet sich seinem Spezialgebiet, der Geschichte des Krebskonzeptes, um zu zeigen, wie in den 1950er-Jahren mit dem „Stress“ von Krebserkrankten umgegangen wurde. Sehr ergiebig ist der Beitrag Edmund Ramsdens, des anderen Herausgebers, der sich im sechsten Kapitel mit der Produktivität des Stressbegriffs auseinandersetzt. In einer Lokalstudie zum Londoner West End gelingt es ihm zu zeigen, wie die Sozialwissenschaften der 1960er-Jahre das in der Stressforschung gesammelte Wissen in einen Bereich wie die Stadtplanung übersetzten. Methodisch ähnlich zeigt Rhodri Hayward abschließend am Beispiel einer Studie zu Stress und Depressionen, die 1969 bis 1973 in Camberwell durchgeführt wurde, wie in die Darstellung der deprimierenden Lebensumstände evolutionspsychiatrische Konzepte aufgenommen wurden. Nachkriegsengland und das Pleistozän stehen mit dem Stressmodell plötzlich in einem inneren Zusammenhang.

Der Band ist für medizinhistorische Spezialthemen höchst interessant und liefert gerade in den Grenzbereichen und lokalgeschichtlichen Studien viele spannende Ergebnisse. Allerdings wird zur Geschichte des Stresskonzeptes selbst wenig Neues beigetragen. Eben jene von den Herausgebern in Aussicht gestellte Thematik eines Zusammenhangs zwischen der Entwicklung des Stressmodells – ob in Abgrenzung oder Fortsetzung zur Neurasthenie um 1900 – und den „Problemen der modernen Welt“ wird in den Einzelbeiträgen nicht aufgegriffen. Und so wünscht man sich für die weitere Forschung zur Geschichte des Stresses mehr diskurs-, körper- oder sozialhistorische Arbeiten, die eine über medizinische Aspekte hinausgehende Perspektive einnehmen.

Anmerkung:
1 Patrick Kury, Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout, Frankfurt am Main 2012; rezensiert von Jens Elberfeld, in: H-Soz-u-Kult, 28.02.2013, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-1-134> (26.09.2014); Mark Jackson, The Age of Stress. Science and the Search for Stability, Oxford 2013; siehe dazu meine Rezension, in: H-Soz-u-Kult, 19.07.2013, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-3-047> (26.09.2014).