Titel
Hitler's Deserters. When Law Merged with Terror


Autor(en)
Petersson, Lars G.
Erschienen
Stroud 2013: Fonthill Media
Anzahl Seiten
173 S.
Preis
€ 25,09
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Magnus Koch, Hamburg

Der Titel sollte sicher verkaufsfördernd sein, er wirkt nur leider etwas beliebig. Gleichwohl hat der Autor ein gut lesbares Sachbuch über das Thema vorgelegt, das einer breiteren Leserschaft einen Einstieg in die Materie ermöglicht. Petersson selbst wird eingangs als Aktivist vorgestellt, der sich u.a. mit Friedenspolitik und Themen wie Umwelt sowie Menschenrechten beschäftigt. Der Text enthält keine Fußnoten, leider wurde auch auf einen Bildnachweis verzichtet – angesichts des aufklärerischen Gestus’ des Buches keine glücklichen Entscheidungen.

Petersson gliedert seine Darstellung in 29 thematische Kapitel zum Thema militärjustizielle Verfolgung meist einfacher Soldaten nebst der Nachkriegsgeschichte in beiden deutschen Staaten; dabei verwendet er die Biografien dreier Zeitzeugen als Unterfaden, die immer wieder in die Abschnitte eingewoben werden. Das Buch beginnt mit der unmittelbaren Vorgeschichte der Wehrmachtjustiz seit dem Ersten Weltkrieg und endet mit Diskussionen über die Nachgeschichte der deutschen Militärgerichtsbarkeit bis hinein in unsere Tage. Mit den Wehrmachtsdeserteuren Ludwig Baumann, Helmut Kober und Peter Schilling hat Petersson Interviews geführt; auf diese stützt sich die Darstellung weitgehend, zumal – außer für Ludwig Baumann – entsprechende Aktenüberlieferungen der Wehrmachtjustiz nicht oder kaum überliefert sind.

Ludwig Baumann (geb. 1921), seit 1991 Vorsitzender der Bundesvereinigung „Opfer der NS-Militärjustiz“, desertierte 1942 gemeinsam mit seinem Freund Kurt Oldenburg aus dem besetzten Frankreich, wurde kurz darauf verhaftet und zum Tode verurteilt. Nach Umwandlung seines Urteils in eine Zuchthausstrafe durchlief er die Emslandlager und das Wehrmachtgefängnis Torgau bevor er 1944 in eine „Bewährungseinheit“ gepresst wurde. Nach einer Verwundung überlebte er den Krieg am Ostabschnitt der Front. Traumatisiert durch diese Erlebnisse konnte Baumann in der Bundesrepublik zunächst nicht Fuß fassen, als Deserteur erfuhr er Ablehnung und Feindschaft. Erst im Rahmen der Neuen Sozialen Bewegungen seit den 1970er-Jahren widmete er sich öffentlich politischen Fragen; die Aufhebung der Urteile wegen „Wehrkraftzersetzung“ (1998), Fahnenflucht (2002) und „Kriegsverrat“ (2009) durch den Deutschen Bundestag gehen zu einem erheblichen Teil auf sein Engagement zurück.

Helmut Kober (geb. 1922) stammte aus einer sozialdemokratisch-freidenkerischen Familie; seine Zeit als Wehrmachtsoldat erzählt er in Episoden von Resistenz, moralischer Empörung und Solidarität gegenüber den Leidtragenden der deutschen Kriegführung, vor allem in der Sowjetunion. In Frankreich habe er 1944 Kontakte zur Résistance geknüpft und an diese wertvolle Informationen weiter gegeben. Gegen Ende des Krieges lief er zur Roten Armee über und betätigte sich dort beim Nationalkomitee Freies Deutschland. Später, nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft, wirkte er beim Deutschen Freidenker-Verband. Zudem verfasste er einige Bücher, auch über seine Kriegserlebnisse.

Peter Schilling, Jahrgang 1923, Spross einer Pastorenfamilie aus dem Westfälischen gab im Interview an, zunächst begeistert in den Krieg gezogen zu sein. Die Informationen über Kriegsverbrechen der Wehrmacht habe ihn allerdings bald zu dem Entschluss gebracht, in die Schweiz zu fliehen. Obwohl Schilling dort interniert und somit dem Krieg entronnen war, floh er erneut, diesmal um aktiv Widerstand gegen die deutsche Besetzung Frankreichs zu leisten. Er wurde ergriffen, vor ein Kriegsgericht gestellt, und überraschenderweise nicht zum Tode, sondern zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Gegen Kriegsende lief er als Angehöriger einer Bewährungseinheit zu den Westalliierten über. Nach dem Krieg ging er zunächst in die SBZ/DDR, wo er bald erkennen musste, dass sein Traum vom Sozialismus dort nicht zu realisieren war, er lebte dann bis zu seinem Tod vor einigen Jahren zunächst als Erzieher und später als Dolmetscher in den Niederlanden.

Petersson beginnt seine Darstellung mit der Urteilspraxis der Militärjustizapparate im Ersten Weltkrieg, wobei er auf deutscher Seite die Bedeutung der Dolchstoßlegende hervor hebt; und in der Tat finden sich in zahlreichen Urteilstexten der Wehrmachtrichter Verweise darauf, dass harte und abschreckende Urteile – allein aufgrund der vermeintlichen historischen Lehre des November 1918 – gerechtfertigt seien. Doch als Menschenrechtsaktivist wirft der Autor anhand einiger Beispiele auch einen Blick auf die Spruchpraxis der britischen Militärjustiz im Ersten Weltkrieg (Kapitel „Shot at dawn“); sie fällte deutlich mehr Todesurteile als diejenige der preußisch-deutschen Armee. Die militärische Verwertungslogik der kriegführenden Mächte, der Blick auf das – aus der Sicht der Apparate – „dysfunktionale Individuum“ unterschieden sich im „Großen Krieg“ nur graduell voneinander. Im Zweiten Weltkrieg sollte es auf deutscher Seite zu einem furchtbaren Wandel der Justizpraxis kommen. Wurden im Ersten Weltkrieg noch 18 Deserteure hingerichtet, waren es zwischen 1939 und 1945 rund 15.000. Die meisten dieser Todesurteile fielen wegen Fahnenflucht. Die Wehrmachtjustiz führte aber ebenso Verfahren wegen „Wehrkraftzersetzung“, Kriegsverrat oder – etwa bei den Angehörigen des europäischen Widerstandes – wegen „Feindbegünstigung“, „unerlaubten Verlassens des einheimischen Territoriums“ (vor allem in Norwegen) oder „Verächtlichmachung der Wehrmacht“. Hierfür bietet das Buch von Petersson durchaus einige interessante Beispiele, was der Titel jedoch zunächst nicht vermuten lässt.

Differenziert und vielfältig fallen die Betrachtungen des Autors zu den Motiven der ungehorsamen Soldaten aus. So betont er, dass sich überzeugte Gegner des NS-Regimes in der Minderheit befanden; Petersson nimmt für sie „a right to his own life and a fundamental right not to be forced to kill and maim others“ in Anspruch (S. 62). Weniger überzeugend ist dagegen Peterssons Schluss, Deserteure als „Helden“ (S. 63) zu bezeichnen, eine Zuschreibung, mit der wohl die wenigsten, der überlebenden Ungehorsamen einverstanden gewesen wären. Die Polarisierung „Helden oder Feiglinge“ strukturiert die Auseinandersetzung seit ihren Anfängen in den 1980er Jahren. Sie macht deutlich, wie unversöhnlich sich die Lager gegenüber standen, und dass die Debatte – aus guten Gründen – zunächst vor allem politisch geführt wurde; die Forschung hatte zwar eingesetzt, war allerdings noch eng verknüpft mit den Standpunkten der jeweiligen (polaren) Positionen. Heute ist die Gegenüberstellung anachronistisch und verstellt eher den Blick auf die Vielschichtigkeit von Handlungsformen, -motiven und biografischen Hintergründen. Immerhin ist die politische Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure abgeschlossen. Petersson dokumentiert die schrittweise Aufhebung der Urteile gegen Deserteure, „Wehrkraftzersetzer“ so genannte Kriegsverräter (1998, 2002 bzw. 2009) ausführlich.

Gerade die Auswahl der ebenso beeindruckenden wie schillernden Fallgeschichten bei Petersson betont insgesamt die Handlungsfähigkeit, den Mut und auch das politische Bewusstsein der Fahnenflüchtigen. Umso wichtiger ist der Hinweis darauf, dass von der überwiegenden Mehrzahl der Verfolgten kaum irgendwelche Informationen vorliegen. Wenige haben überlebt, ihre Sicht auf die Ereignisse ist nicht mehr zu rekonstruieren, dazu sind die meisten der Akten verloren gegangen. Eine Geschichte der Verweigerung innerhalb der Wehrmacht müsste viel mehr als bisher diese unfreiwillig meist ebenso Sprach- wie Namenlosen mit einbeziehen.

Mehr Möglichkeiten hatte hingegen – wenig überraschend – das Richterpersonal der Wehrmacht. Über deren meist geräuschlosen beruflichen Übergang vom militärischen in den zivilen Justizdienst, in die Wirtschaft oder an die Universitäten im westlichen Nachkriegsdeutschland ist bereits einiges bekannt; Petersson erzählt die Geschichten der Filbingers, Schwinges und anderer mehr. Viel weniger wissen wir über den Umgang mit den ehemaligen Militärrichtern in der SBZ/DDR (Kapitel 23–26). Hier ist es besonders bedauerlich, dass die Belege fehlen, denn die Geschichten der zum Teil hoch dekorierten Wehrmachtrichter- und Offiziere, die in der DDR Karriere machten, wären ebenso interessant genauer nachzulesen wie auch die Geschichten der im Rahmen der sogenannten Waldheimverfahren in den 1950er-Jahren verurteilten Wehrmachtrichter. Das Buch schließt mit einer Portraitsammlung mittlerweile mehr oder weniger bekannter während des Krieges hingerichteter Kriegsdienstverweigerer und Deserteure; auch das zeugt von seinem Charakter als Mischung aus Gedenk- und Enthüllungsbuch: Es würdigt die Leiden und die Leistungen der Verfolgten in dem Maße wie es die Täter, deren Zynismus und deren Nachkriegskarrieren denunziert.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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