Cover
Titel
Galizien. Peripherie der Moderne – Moderne der Peripherie?


Herausgeber
Haid, Elisabeth; Weismann, Stephanie; Wöller, Burkhard
Reihe
Tagungen zur Ostmitteleuropaforschung 31
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 216 S.
Preis
€ 28,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Rochow, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

„Galizien ist als großes Thema geistes-, literatur-, und kulturwissenschaftlicher Forschungen nach wie vor sehr aktuell“ (S. VII). Mit diesem Satz eröffnet Alois Woldan im Vorwort diesen Band und trifft dabei genau einen wesentlichen Nerv der (Ost)Mitteleuropaforschung. Ein Grund für die anhaltende Anziehungskraft dieses Forschungsgegenstandes kann in dem „österreichischen Normalfall“1 gesehen werden, den Galizien für Harald Binder darstellt. Eine andere Erklärungslinie führt Hans-Christian Maner an, indem er Grenzregionen als Seismografen der Innen- sowie Außenpolitik erkennt.2 Eine ungleich größere Faszination strahlt die Region jedoch erstens aufgrund ihrer wechselvollen Geschichte mit ihren Zugehörigkeiten zu immer wieder anderen Staaten und zweitens wegen dem gewaltvollen Ende des multikulturellen Lebens im Zuge des Zweiten Weltkrieges und seinen Folgeereignissen aus.

Der vorliegende Band, der die 14 Beiträge der gleichnamigen Konferenz 2011 wiedergibt,3 bettet sich in diese unterschiedlichen Perspektiven insbesondere aufgrund seiner Multidisziplinarität ein. Unter der übergreifenden Thematik der Beziehung zwischen Peripherie und Moderne erfolgt ein breiter Einblick in aktuelle Forschungsvorhaben, die ein breites Spektrum an Fragestellungen, Ansätzen und Methoden abdecken. Nach dem kurzen Vorwort Woldans folgen die Herausgebenden mit einer Einleitung, in der sie für die Problematik eindeutiger Definitionen der Begriffe Peripherie und Moderne sensibilisieren. Sie weisen auf verschiedene Konnotationen hin und heben als ein Ziel des Bandes die Betonung der Vielfalt der Moderne hervor, anstatt sie anhand „konkreter Kennzahlen und bestimmter Vergleichsparameter“ (S. 10) festzumachen. Dem folgt Moritz Csáky mit Überlegungen zur Moderne allgemein und zur Kultur im Besonderen. Den Modernebegriff unterteilt er in einen prozessual verstandenen, der den Gegensatz der sich pluralisierenden Lebenswelten und den aufkommenden Homogenisierungskonzepten beschreibt, und einer Definition als Epoche, die durch die aktive und passive Reflexion der Menschen und der Wahrnehmung ihrer heterogenen Lebenswelten gekennzeichnet ist. Er entwickelt einen weitgefassten Kulturbegriff, der ihn schließlich zur Unterscheidung zwischen endogener Pluralität und exogener Pluralität führt.

Daran schließen sich vier Themenkomplexe an. Im Bereich „Galizien in Diskursen über die Moderne“ öffnet Nadja Weck mit einer Untersuchung des Bahnhofsneubaus in Lemberg um 1900, den sie als Indiz für das erstarkende Selbstbewusstsein der städtischen Elite in Opposition zum habsburgischen Zentrum ansieht. Sie geht detailliert auf die architektonische Gestaltung des Neubaus sowie das Einweihungszeremoniell und die Berichterstattung darüber in lokalen und Wiener Zeitungen ein. In Burkhard Wöllers Beitrag wird die Bedeutung von Fortschritts- und Rückständigkeitsvorstellungen in den von Historikern geführten Debatten um die Verortung der Geschichte des Fürstentum Halyč-Volyn’ hervorgehoben. Insbesondere ruthenische Historiker waren bemüht, seine Fortschrittlichkeit aufzuzeigen, da es ihnen aufgrund mangelnder Alternativen als „wesentlichen Baustein in der Konstruktion eines eigenen nationalen Geschichtsnarratives“ (S. 47) fungierte. Auf polnischer Seite wurde genau das Gegenteil konstatiert, um so die zivilisierende Wirkung der Polen zu betonen. Beide Positionen änderten sich auch im Verlauf der Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Geschichtswissenschaft nicht. Elisabeth Haid schließt daran mit einer Analyse des Galizienbildes in der Wiener Presse während des Ersten Weltkriegs an. Obwohl sie hervorhebt, dass die Kriegsjahre keinesfalls als einheitlicher Raum anzusehen sind und der Diskurs wesentlich vom unmittelbaren politischen und militärischen Kontext sowie von den jeweiligen Spezifika der Kommunikationsräume abhing, kann sie dennoch Tendenzen ausmachen, die zum Ziel hatten, die Zugehörigkeit des Kronlandes zum Habsburgerreich zu unterstreichen. Die Nationalitätenkonflikte wurden ausgeblendet. Zeitgleich fand das Bild der Juden als Symbol für Rückständigkeit Verbreitung und die Gegensätze zwischen Polen und Ukrainern verschärften sich in der Realität. Dass Galizien auch als Reflexionsraum für die Sehnsüchte des Zentrums im Zuge der Moderne diente, beschreibt Stephanie Weismann am Beispiel der Schriften Leopold von Sacher-Masochs. In ihnen wurde dem galizischen Bauern ein Erneuerungspotential zugesprochen, das in eine sozialistische Richtung deutet. Sie zeigt auf, dass, obwohl Sacher-Masoch ein Befürworter der Polyphonie war, ihn dieser Umstand nicht daran hinderte, ein Gesellschaftsmodel zu beschreiben, dessen Grundlage der Ausschluss der Polen und Juden darstellte.

Der zweite Themenkomplex „Galizien im Zeichen der Modernisierung“ wird von Lesya Ivasyuk mit ihrer Analyse der Dynamiken der Revolution von 1846 eingeleitet. Darin kommt sie zu dem Schluss, dass sowohl polnische Aufständische als auch der habsburgische Staat Modernisierungsimpulse aus dem Ereignis gewannen, die sie im Zuge der weiteren Entwicklung institutionalisierten. Serhiy Chiliy zeigt, welche neuen Möglichkeiten sich für die (männlichen) Bewohner Galiziens durch die Militärreformen ab 1868 ergaben. Er beschreibt genauer die neuen Erfahrungshorizonte und Karrieremöglichkeiten, die sich den Rekrutierten boten. Der galizische Ausgleich von 1914, der aufgrund des Kriegsausbruches nicht mehr umgesetzt werden konnte, wird von Börries Kuzmany als ein besonderes Beispiel der Ausgleichspolitik der Habsburger thematisiert. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die zunehmende „Nationalisierung der Gesellschaft“ (S. 141) ein nicht intendiertes Nebenprodukt des Ausgleiches, der eher auf die Wahrung des status quo ausgerichtet war, dargestellt hätte.

Der folgende Komplex „Galizien – Kaleidoskop moderner Ideologien und Identitätskrisen“ wird von Lyubomyr Borakovskyy mit der Frage nach der Rolle der Kirche im Prozess der Modernisierung anhand der Schriften Ivan Frankos und Osyp Makovejs eröffnet. Beide kritisierten den kirchlichen Konservatismus, forderten zu Reformen auf, aber wiesen gleichzeitig darauf hin, dass eine vollständige Abkehr von Tradition und Religion nur eine zweifelhafte Alternative darstellen konnte. Anna Krachkovska untersucht den Diskurs über die „jüdische Frage“ unter Intellektuellen und Bauern anhand von Zeitungsartikeln und Leserbriefen im späten 19. Jahrhundert. Die Debatten ersterer versteht sie vergleichbar mit denen in Westeuropa. Unter den Bauern kann sie jedoch keine Rezeption des aufkommenden rassistischen Antisemitismus ausmachen. Eher lässt sich dort die traditionelle Sichtweise einer Judophobie entlang ethnischer und sozialer Bruchlinien sehen. Um die jüdische Moderne geht es in Katharina Krčals Analyse von Rappaports Versepos „Bajazzo“. Neben den zeitgenössischen innerhalb des Judentums aufbrechenden Konflikten geht sie im Besonderen auf die Clownfigur ein, die schließlich die „Sensibilisierung hinsichtlich der Brüchigkeit und Fragmentiertheit des Identitätskonzepts“ (S. 186) aufzeigt.

Der letzte Teil „Galizien als postmoderner Erinnerungsraum“ umfasst zunächst Marianne Windspergers Beitrag, der sich mit der heutigen Erinnerung der jüdischen Emigration aus Galizien in die USA ab dem Ende des 19. Jahrhunderts befasst. Anhand von zwei Romanen zeigt sie, wie eine Brücke zwischen den Erfahrungswelten geschlagen wird und die Erinnerung dadurch einen Beitrag zur Entmythologisierung des Schtetls leisten kann. Anna Susak analysiert in ihrem Text die Verwendung des Begriffs „Galizien“ in Zeitschriftenartikeln in der heutigen Ukraine und Polen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass zwei parallele Projekte einer „galizischen Identität“ (S. 213) verfolgt werden: Einerseits wird die Region im Kontext des polnischen bzw. ukrainischen Nation-building begriffen. Andererseits erfolgt eine „Mythologisierung des habsburgischen Galiziens“ (S. 213). An diesen letzten Beitrag schließt sich eine Übersicht der Autor/innen an.

Die Bandbreite der Zugänge stellt sowohl die Stärke als auch die Schwäche des Bandes dar, da die Artikel einerseits die neuesten Tendenzen der Galizienforschung im Kontext der Zentrum-Peripherie-Debatte überschaubar aufzeigen, andererseits aber in ihrem Umfang zum Teil sehr kurz ausfallen. An einigen Stellen bleiben Fragen zur Relevanz des jeweiligen Themas und der Methode daher unbeantwortet. Da es sich bei den Beiträgen aber in den überwiegenden Fällen lediglich um Einsichten in laufende Dissertationsvorhaben handelt, lassen sie vielversprechende neue Ergebnisse erwarten.

Anmerkungen:
1 Harald Binder, Galizien in Wien. Parteien, Wahlen, Fraktionen und Abgeordnete im Übergang zur Massenpolitik, Wien 2005, S. 13.
2 Hans-Christian Maner, Zentrum und Grenzregion in der Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert. Eine Einführung, in: ders. (Hrsg.), Grenzregionen der Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert. Ihre Bedeutung und Funktion aus der Perspektive Wiens (=Mainzer Beiträge zur Geschichte Osteuropas, Bd. 1), Münster 2005, S. 9–24, hier S. 10.
3 Für den Tagungsbericht vgl. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3977> (06.08.2014).

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