F. Dierl u.a.: Pflicht, Zwang und Gewalt

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Titel
Pflicht, Zwang und Gewalt. Arbeitsverwaltungen und Arbeitskräftepolitik im deutsch besetzten Polen und Serbien 1939–1944


Autor(en)
Dierl, Florian; Janjetovic, Zoran; Linne, Karsten
Erschienen
Anzahl Seiten
510 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Henry Marx, Unabhängige Historikerkommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Reichsarbeitsministeriums in der Zeit des Nationalsozialismus, Berlin

Nur wenige Forschungsthemen zum Nationalsozialismus haben in den letzten Jahren eine derartige Konjunktur erfahren wie die NS-Zwangsarbeit. Ein Großteil der Studien hat sich mit dem Einsatz von ausländischen Zwangsarbeitern im Deutschen Reich beschäftigt. Der Themenkomplex von Zwangsarbeit und deutscher Besatzungsherrschaft ist dagegen weniger umfassend untersucht. Sowohl Zwangsarbeit in den besetzten Gebieten als auch die Beschaffung von Arbeitskräften aus dem Ausland für die Kriegswirtschaft im Reich ist erst in jüngerer Zeit in den Fokus der Forschung gerückt. Der von Florian Dierl, Zoran Janjetović und Karsten Linne vorgelegte Sammelband untersucht die Praxis der Arbeitsverwaltungen im deutsch besetzten Polen und Serbien und leistet somit einen bedeutsamen Beitrag zur Erforschung dieses Themenkomplexes.

Der Sammelband ist in drei Teile gegliedert. Einem einleitenden Teil über die Entwicklung der deutschen Arbeitsverwaltung folgen die Fallstudien. Die Gebiete sind von den Autoren ausgewählt worden, um drei unterschiedliche Typen deutscher Besatzungsherrschaft abzudecken, nämlich einer Annexionsverwaltung im Warthegau, einer „Kolonialverwaltung“, wie sie im Generalgouvernement herrschte, und einer Kollaborationsverwaltung, wie im serbischen Militärverwaltungsgebiet (S. 13–15). Im letzten Teil vergleicht Dierl das Handeln der Arbeitsverwaltungen.

Karsten Linne untersucht in zwei getrennten Kapiteln die Arbeitsverwaltung im Warthegau und im Generalgouvernement. Die Arbeitspolitik im Warthegau war eng mit der „Germanisierungspolitik“ verknüpft. Juden und Polen wurden sukzessive in das Generalgouvernement vertrieben und durch volksdeutsche Rücksiedler ersetzt. Auf Betreiben der SS begann man noch 1939 damit, Volksdeutsche und Polen einer „Rassenmusterung“ zu unterziehen. „Rassisch wertvolle“ und „eindeutschungsfähige“ Polen sollten zum Arbeitseinsatz ins „Altreich“ deportiert und die Übrigen ins Generalgouvernement abgeschoben werden (S. 53). Die Aufteilung habe ein zeitraubendes volkstumspolitisches „screening“ der polnischen Bevölkerung vorausgesetzt. Dadurch habe sich zusehends ein Konflikt zwischen den Zielen der Volkstumspolitik und den steigenden Anforderungen der deutschen Kriegswirtschaft nach Arbeitskräften ergeben, der im Zeichen des Krieges zugunsten der Arbeitskräfterekrutierung gelöst wurde. Jedoch ergänzten sich Volkstumspolitik und Arbeitsmarktpolitik mitunter, denn die Arbeitsverwaltung war an den Deportationen und „Verdrängungen“ der Polen beteiligt. Die vertriebenen polnischen Bauern wurden zu einem bevorzugten Rekrutierungsziel der Arbeitsverwaltung (S. 168f.).

Im Generalgouvernement spielte die „Volkstumspolitik“ hingegen nur eine marginale Rolle. Die Rekrutierung von Landarbeitern stand hier im Vordergrund. Linne hebt hervor, dass sich die Formen der Arbeitskräftebeschaffung kaum in verschiedene Phasen gliedern lassen, sondern eher die Gleichzeitigkeit von „freiwilliger“ Anwerbung, Beorderung, Dienstverpflichtung und gewaltsamer Verschleppung hervortreten. Bei abnehmendem Erfolg der „freiwilligen“ Anwerbung nahmen die Druck- und Gewaltmaßnahmen deutlich zu. Die Arbeitsverwaltung fungierte hierbei nicht lediglich als Befehlsempfänger, sondern ersann in eigener Initiative eine Reihe weiterer Rekrutierungsmethoden, welche durchaus gewaltsamen Charakter annahmen. Gerade für das Generalgouvernement waren Razzien kennzeichnend, welche die Arbeitsverwaltung mit Hilfe massiver Polizeikräfte durchführte und die den Charakter von „Sklavenjagden“ annahmen (S. 315). Trotz der immer gewaltsameren Rekrutierungspraxis gelang es der Arbeitsverwaltung zu keiner Zeit, die verlangte Zahl an Arbeitskräften zu stellen. Zunehmend entzog sich die einheimische Bevölkerung dem Zugriff der Arbeitsämter durch Flucht in nahegelegene Wälder oder permanentes Ummelden des Wohnsitzes. Auch der polnische Widerstand nahm die Arbeitsverwaltung ins Ziel und führte spektakuläre Attentate auf deren Mitarbeiter aus (S. 294).

Das Kapitel über Serbien beginnt Zoran Janjetović mit einer ausführlichen Beschreibung der Besatzungsherrschaft und erläutert im Anschluss die unterschiedlichen Formen der Zwangsarbeit. Die jüdische Bevölkerung zählte zu den ersten Betroffenen, sie wurden meist zu schikanierenden und erniedrigenden Arbeiten ohne produktiven Nutzen herangezogen. Von Beginn an wurden auch serbische Kriegsgefangene und Häftlinge zur Zwangsarbeit vor Ort oder in anderen Teilen Europas eingesetzt. Der Arbeitskräftemangel machte sich hier rasch bemerkbar, weswegen die Besatzer bald auch die Zivilbevölkerung zur Arbeit zwangen. Diese Arbeiten nahmen unterschiedliche Gestalt an, orientierten sich teilweise an traditionellen Formen der Fronarbeit, dem „kuluk“ (S. 338f.), reichten über Dienstverpflichtungen bis zur als Strafmaßnahme verhängten Zwangsarbeit. Auf differenzierte Weise behandelt Janjetović die Frage, ob es sich bei den Dienstverpflichtungen und dem „kuluk“ um Zwangsarbeit gehandelt habe. Zwar sei die Arbeit zunächst bezahlt worden und war zeitlich begrenzt. „Doch die Unmöglichkeit, die Arbeit zu verlassen […], aber auch die Nichtbezahlung der Löhne und schließlich die schweren Lebens- und Arbeitsbedingungen verliehen der Pflichtarbeit einen prägnanten Zwangscharakter.“ (S. 438)

Anders als im besetzten Polen verzichteten die deutschen Besatzer auf den Aufbau einer eigenen Verwaltung und waren somit auf die Zusammenarbeit mit dem serbischen Kollaborationsregime angewiesen. Auch die Arbeitsverwaltung und die Durchsetzung behördlicher Anordnungen überließ man einheimischen Instanzen. Die Zusammenarbeit lief allerdings keineswegs reibungslos. Aus Misstrauen heraus verhinderten die Besatzer den Aufbau starker serbischer Sicherheitskräfte, welche die behördlichen Verordnungen hätten durchsetzen können. Da es ebenfalls an deutschen Kräften mangelte, war es kaum möglich, effektiv die Ziele der Arbeitspolitik durchzusetzen oder gegen Arbeitsflucht vorzugehen (S. 440).

Nach den empirischen Kapiteln zieht Florian Dierl den Vergleich zwischen den Arbeitsverwaltungen in den drei besetzten Gebieten. Er kommt zu dem Schluss, dass die Praxis der Arbeitskräftebeschaffung weder Ausdruck eines kohärenten Herrschaftswillens noch eine genaue Umsetzung der Vorgaben der Berliner Zentrale war. Das Handeln der Arbeitsverwaltung war vielmehr Aushandlungsprodukt diverser Machtgruppen sowohl im Reich als auch insbesondere vor Ort in den besetzten Gebieten. Die häufig formulierte These, der Widerspruch zwischen ökonomischer Effizienz und nationalsozialistischer Rassenpolitik sei kennzeichnend für den Zwangsarbeitereinsatz im Reich gewesen, kann Dierl für die besetzten Gebiete nicht bestätigen. Die Arbeitskräftepolitik sei hier vielmehr durch selbstgeschaffene ökonomische Zwänge, die zur Verfügung stehenden Machtmittel der Besatzer und nicht zuletzt von der Infrastruktur des jeweiligen Landes bestimmt worden (S. 443–447, 462f.).

In allen drei besetzten Gebieten standen die Arbeitsverwaltungen vor dem Dilemma, dass sie den steigenden Bedarf an Arbeitskräften sowohl im Reich als auch vor Ort nicht befriedigen konnten. Letztlich, folgert Dierl, „erwiesen sich die Versuche der Besatzungsmacht, den regionalen ‚Arbeitseinsatz‘ mit einer Mischung aus ökonomischen Anreizen und Zwangsmitteln zu steuern, in beiden Ländern als unzulänglich, sie veranlassten vielmehr die Bevölkerung zu verstärkter Flucht auf das Land oder zu den Partisanen“ (S. 462f.).

Den Autoren ist eine rundum überzeugende Studie über die Arbeitsverwaltungen in den ausgewählten Gebieten gelungen, welche die bisherige Forschung über die NS-Besatzungsherrschaft in einem wichtigen Aspekt vorantreibt. Dies gilt insbesondere für den quellengesättigten Teil zu Polen und dem thesenstarken, vergleichenden Abschnitt. Der nicht minder gelungene Teil zu Serbien weist wichtige Forschungsdesiderate auf, gerade was den genauen Ablauf und den Umfang der serbischen Zwangsarbeit anbelangt.

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