B. Dunsch u.a. (Hrsg.): Herodots Quellen

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Titel
Herodots Quellen – Die Quellen Herodots.


Herausgeber
Dunsch, Boris; Ruffing, Kai
Reihe
Classica et Orientalia 6
Erschienen
Wiesbaden 2013: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
VII, 351 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kristina Heubach, Alte Geschichte, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

Die Frage, welche Quellen Herodot in seinen Historien verwendet hat und wie sich der Zugang zu diesen gestaltete, sorgt seit Jahren für reichlich Diskussionsstoff. Mit seiner Schrift „Die Quellenangaben bei Herodot“ wagte sich Anfang der 1970er-Jahre Detlev Fehling nach eigenen Worten „dem Trend der Herodotforschung der letzten Jahrzehnte entgegenzustellen“1 und positionierte sich damit gegen die als grundlegend betrachtete Meinung Jacobys.2 Die Aussagen, weite Teile der Quellenangaben Herodots seien Fiktion und auch seine Beschreibung fremder Länder beruhe – entgegen Jacoby – nicht auf Autopsie sondern entspränge mehrheitlich seiner Fantasie, stieß in der Forschung auf nicht wenig Ablehnung.3 Fehling wurde sogar als führendes Mitglied der sogenannten „Liar School of Herodotos“ diffamiert.4 Dennoch sind ebenfalls positive – wenn auch vorsichtige – Resonanzen zu verzeichnen und vor allem in den letzten Jahren hat sich die Diskussion zu diesem Thema auf eine vermittelnde Ebene verschoben.5

Diese Diskussion um Fehling und seine Thesen nimmt sich auch der vorliegende Tagungsband zum Anlass. Unter Herausgeberschaft von Boris Dunsch und Kai Ruffing wurden im sechsten Band der Reihe „Classica et Orientalia“ die Beiträge zur Tagung „Herodots Quellen – Die Quellen Herodots“ vom 27./28.10.2011 an der Philipps-Universität Marburg zusammengestellt. Vorgegebenes Ziel des Sammelbandes soll laut Einführung dabei nicht sein, sich für oder gegen Fehling zu entscheiden, sondern nach „Literalität, Intentionalität und Wahrnehmung des Fremden“ (S. 3) in den Historien zu fragen. Im Rahmen dieser Rezension soll ein Überblick über die vorliegenden Aufsätze gegeben werden; eine nähere Betrachtung aller Abhandlungen ist jedoch nicht möglich. Es wurden daher im Folgenden Beiträge ausgewählt, die sich in der aktuellen Forschungsdiskussion besonders hervorheben.

Die Aufsätze gliedern sich in vier inhaltliche Abschnitte, wobei die Einteilung durch ihr quantitatives Missverhältnis zuweilen etwas gezwungen wirkt, wie noch zu erläutern sein wird. Zu Beginn wird nach einer kurzen Einführung von Kai Ruffing (S. 1–5) „Die Entstehung der Historien“ als Thema gewählt (S. 7–84); es folgen die Abteilungen „Herodot und seine Quellen“ (S. 85–134), „Herodot als Literat“ (S. 135–271) sowie „Herodot und die Nachbarn der Griechen“ (S. 273–283). Der Band schließt mit einem Beitrag zur aristotelischen Lektüre Herodots und einem kurzen Resümee (S.285–328).

Der erste thematische Abschnitt des Bandes besteht lediglich aus einem Aufsatz. Elizabeth Irwin behandelt auf knapp 80 Seiten („,The hybris of Theseus‘ and the Date of the Histories“, S. 7–84) den Theseus-Logos bei Herodot und die Frage einer möglichen Datierung der Historien anhand dieses Beispiels. Schon zu Beginn wird hier das bereits angesprochene quantitative Missverhältnis des Bandes besonders deutlich, da Irwins Abhandlung mehr Raum einnimmt, als die vier folgenden des zweiten Abschnittes zusammengenommen. Inhaltlich bezieht sich Irwin auf Hdt. 9,44 und nimmt die dort getroffenen Aussagen als Grundlage, um im Wesentlichen drei Thesen nachzugehen: Zum Ersten soll belegt werden, dass Herodot diese Passage nach 413 v.Chr. geschrieben hat, und dies darüber hinaus zum Zweiten in vollem Wissen über den weiteren Verlauf und das Ende des Peloponnesischen Krieges tat. In beiden Punkten argumentiert Irwin nachvollziehbar und gelungen. Die Autorin schweift jedoch meines Erachtens an einige Stellen ab und referiert über Erkenntnisse, die nicht direkt mit dem hier eigentlich zu behandelnden Thema zusammenhängen. So umfasst allein die Kontextualisierung der zu betrachtenden Stellen über 15 Seiten. Trotz gut belegter und von Quellen und Literatur gestützter Argumentation, hätten weite Teile der Ausarbeitung gekürzt und in die Fußnoten verlagert werden können. Irwin geht zum Dritten noch einen Schritt weiter und behauptet, Herodot habe nicht nur das Ende des Krieges gekannt und verarbeitet; „there are strong grounds for believing Herodotus’ logos to have been written in response to Thucydides“ (S. 9). Diese These, die die Autorin selbst als „controversial position“ (S. 9) beschreibt, kann jedoch im Folgenden leider nicht überzeugend belegt werden. Zwar ist nicht völlig auszuschließen, dass Herodot vielleicht einzelne Passagen aus Erzählungen oder vielleicht sogar erste Rohfassungen des thukydideischen Werkes gekannt haben mag, doch scheint der Perspektivenwechsel und die Neuordnung der beiden klassischen Historiographen wenig plausibel. Dies liegt weniger an der Darlegung Irwins zu diesem Logos; vielmehr fehlt eine umfassende Berücksichtigung beider Perspektiven – Herodots und Thukydides’ – und des Bezugs der beiden Werke zueinander.

Im nächsten Abschnitt wird der Titel der Tagung bzw. des Bandes thematisiert, indem verschiedene Aspekte zu unterschiedlichen Quellen und Quellenarten behandelt werden. Heinz-Günther Nesselrath betrachtet „Indigene Quellen bei Herodot und ihre Erfinder – einige Fallbeispiele“ (S. 85–93), wobei sich dies als direkte Antwort auf Fehling gestaltet und der Autor sich zum Ziel nimmt, dessen Thesen zu relativieren. Nesselrath legt überzeugend dar, dass Quellenangaben bei Herodot nicht notwendigerweise erdichtet sein müssen, nur weil sich das Gegenteil nicht beweisen lässt. So gibt es durchaus einige Stellen in den Historien, hinter denen man Erfindungen vermuten kann und auch sollte, diese aber nicht unbedingt von Herodot selbst stammen müssen.

Weitere Beiträge liefern Robert Rollinger („Dareios und Xerxes an den Rändern der Welt“, S. 95–116), Stephanie West („,Every picture tells a story‘: a note on Herodotus 4.88, S. 117–128) und Francesco Prontera („Dati e fonti nell’archeologia di Erodoto“, S. 129–134). Dieser Abschnitt, der thematisch den Hauptteil des Bandes ausmachen sollte, bietet zwar einen guten Überblick über verschiedene Quellenarten und -erwähnungen bei Herodot, insgesamt vermisst man jedoch eine klare Linie und Verbindungspunkte zwischen den einzelnen Abhandlungen, die darüber hinaus nur mit wenigen wirklich neuen Erkenntnissen aufwarten können.

„Herodot als Literat“ stellt thematisch den umfassendsten Teilbereich des Bandes dar und wird von Reinhold Bichler mit einem Beitrag zur Arbeitsweise des Historiographen eröffnet („Zur Funktion der Autopsiebehauptungen bei Herodot“, S. 135–151). Der Autor gibt hier einen ersten Anstoß, eine Lücke in der Forschung zu den Quellenangaben bei Herodot zu schließen: Im Gegensatz zu den akoē-Verweisen, in denen Herodot angibt, er hätte eine bestimmte Geschichte gehört, wurden die Angaben, bei denen er sich auf Autopsie beruft, bisher noch nicht systematisch untersucht. Bichler legt hier überzeugend dar, wann sich Herodot aus welchen Gründen als Augenzeuge verbürgt. Im folgenden Aufsatz („Et apud patrem historiae sunt innumerabiles fabulae: Herodot bei Cicero, S. 153–199) erklärt Boris Dunsch das Bild des pater historiae und relativiert Ciceros Wissen um Herodots Werk. Die Analyse zeigt deutlich, dass Cicero – aber auch andere Autoren wie etwa Varro und Seneca der Jüngere – seine Zitate nicht aus Herodot selbst bezieht, sondern Kompendien und Exempla-Sammlungen verwendet haben muss, da die Abweichungen zur Darstellung in den Historien zu auffällig sind. Die anschließenden Aufsätze von Kai Ruffing („300“, S. 201–221) und Marco Dorati („Indicazioni di fonti (,Quellenangaben‘) e narrazione storica“, S. 223–240) behandeln narrative Elemente in den Historien. Ruffing arbeitet hier die Zahl 300 in ihrer Symbolfunktion als „literarische Marker“ sowohl bei Herodot als auch bei Thukydides und Xenophon heraus, wobei sich die Appendices mit den entsprechenden Nennungen bei Thukydides und Xenophon – jedoch nicht noch einmal extra bei Herodot – als hilfreich erweisen. Wolfgang Rösler greift im Wesentlichen Nesselraths Meinung aus dem bereits besprochenen Aufsatz auf, indem auch er nicht Herodot die bewusste Veränderung oder Erdichtung der Quelle unterstellt, sondern davon ausgeht, dass dieser bereits eine fertige Version übernimmt („Ein Wunder im Kampf um Delphi (VIII 35-9)“, S. 241–253). Nach Wolfgang Blösel („Quellen – Kritik: Herodots Darstellung der Athener“, S. 255–271) nennt Herodot an bestimmten Stellen bewusst „die Athener“ als Quelle, um Kritik an Athens Verhalten in der Seebundzeit zu äußern. In diesem Zusammenhang wäre durchaus interessant, zu wissen, ob es eine entsprechende Diskussion in Bezug auf die eingangs erläuterten Thesen Elizabeth Irwins gegeben hat und welche Ergebnisse hierbei zustande kamen.

„Herodot und ein persisches Hellas“ (S. 273–283) von Josef Wiesehöfer bildet den letzten thematischen Abschnitt. Abschließend widmet sich Arbogast Schmitt der Frage „Gibt es eine aristotelische Herodotlektüre?“ (S. 285–322), woran sich ein kurzes Resümee von Sabine Föllinger anschließt (S. 323–328).

Insgesamt gesehen antwortet die überwiegende Zahl der Aufsätze dieses Sammelbandes immer wieder auf Fehlings These und versucht, diese auf unterschiedliche Art und Weise erneut zu widerlegen. Dies widerspricht der eingangs aufgestellten Prämisse, eben diesen Weg nicht mehr einzuschlagen. Hiervon abgesehen kann die Lektüre dennoch einen umfassenden und anschaulichen Einblick in die Quellen Herodots, seine Arbeitsweise und den Nutzen der Historien als althistorische Quelle bieten. Es werden sowohl verschiedene thematische und methodische Zugänge zu Herodots Werk aufgezeigt, als auch die Forschungsmeinungen rekapituliert und aufgegriffen. Neben einer erneuten Antwort auf Fehling wird so auch die neueste Forschung zu Herodot und seinen Quellen zusammengeführt.

Anmerkungen:
1 Detlev Fehling, Die Quellenangaben bei Herodot. Studien zur Erzählkunst Herodots (Untersuchungen zur antike Literatur und Geschichte Bd. 9), Berlin 1971, S. VII.
2 Vgl. Felix Jacoby, Art. Herodotos, in: RE Suppl. 2 (1913), Sp. 205–520. Trotz seines Alters gilt dieser Artikel in weiten Teilen immer noch als Grundlage für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Herodot.
3 Vgl. Justus Cobet, Rez. zu Detlev Fehling, Die Quellenangaben bei Herodot. Studien zur Erzählkunst Herodots (Untersuchungen zur antike Literatur und Geschichte Bd. 9), Berlin 1971, in: Gnomon 46 (1974), S. 737–746.
4 Vgl. W. Kenneth Pritchett, The Liar School of Herodotos, Amsterdam 1993.
5 Als Vertreter ist beispielsweise Simon Hornblower, Herodotus and his Sources of Information, in: Egbert J. Bakker u.a. (Hrsg.), Brill’s Companion to Herodotus, Leiden 2002, S. 373–386, zu nennen.

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