L. Schmidt u.a.: Denkmallandschaft Peenemünde

Titel
Denkmallandschaft Peenemünde. Eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme – Conservation Management Plan


Autor(en)
Schmidt, Leo; Mense, Uta K.
Erschienen
Anzahl Seiten
205 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Günther Jikeli, Borns Jewish Studies Pogram, Indiana University / Moses Mendelssohn Zentrum, Universität Potsdam

Mit dem Ort Peenemünde auf der Insel Usedom sind die Entwicklung der „V2“ und der Name Wernher von Braun verbunden. Die V2, eine von Hitlers sogenannten Vergeltungs- und Wunderwaffen, traf vor allem die Londoner und Antwerpener Zivilbevölkerung und wurde von Zehntausenden Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen gefertigt, hauptsächlich in der „Hölle von Dora“ bei Nordhausen, wo mehr als 20.000 Häftlinge umkamen. Tausende Kriegsgefangene, „Zivilarbeiter“ und KZ-Häftlinge wurden aber auch in Peenemünde zur Arbeit an der V2 in der Heeresversuchsanstalt und an der V1 in der Erprobungsstelle der Luftwaffe gezwungen. Von Braun, der bereits ab 1936 technischer Leiter der Heeresversuchsanstalt war, wollte von den KZ-Häftlingen lange nichts gewusst haben.

In der Nachkriegszeit waren viele Peenemünder Ingenieure beruflich erfolgreich – in der Entwicklung von Langstreckenraketen und später, wie von Braun, in der Entwicklung der Raumfahrt. Dafür werden sie bis heute geehrt. Aufgrund der inzwischen nachgewiesenen Verantwortung für die verbrecherische Beschäftigung von KZ-Häftlingen und anderen Zwangsarbeitern werden jedoch immer mehr Stimmen laut, „Wernher-von-Braun“-Schulen und -Straßen umzubenennen. Ebenso in die Kritik geraten sind Ausstellungen in Peenemünde selbst, die die dort entwickelte Technik nicht genügend im Zusammenhang der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft und Vernichtungspolitik darstellen. Das Historisch-Technische Museum Peenemünde, zu 51 Prozent im Eigentum des Landes Mecklenburg-Vorpommern, arbeitet seit über drei Jahren an einem neuen Konzept. Nachdem die Bestrebungen, in Zusammenarbeit mit Cape Canaveral und Baikonur Peenemünde als „Wiege der Raumfahrt“ und Weltkulturerbe in ein positives Licht zu rücken, international auf ungläubiges Kopfschütteln bis verärgerte Proteste gestoßen sind, sollte eine vom Museum beauftragte wissenschaftliche Bestandsaufnahme der Universität Cottbus weiterhelfen. Die Ergebnisse liegen nun in Buchform vor.

Leo Schmidt und Uta Mense stellen in ihrer Studie den „materiellen Befund vor Ort“ in den Vordergrund. Sie beschreiben, welche baulichen Überreste und Einschnitte in die Landschaft in und um Peenemünde heute noch sichtbar sind und welche Bedeutung sie hatten. Diese Perspektive der Denkmalpflege ist eine Bereicherung in dem umstrittenen und polarisierten Feld der Darstellung der Peenemünder Geschichte. Jahrzehntelang war sie geprägt und teilweise bewusst verfälscht durch die autobiografischen Erzählungen ehemaliger Peenemünder Ingenieure wie Wernher von Braun oder des militärischen Leiters der Heeresversuchsanstalt, Walter Dornberger, die an einer Überbetonung der technischen Leistungen unter Ausblendung der Verbrechen an Zwangsarbeitern interessiert waren. Die allgemeine Faszination für Technik macht entsprechende Narrative anschlussfähig. Schmidt und Mense distanzieren sich deutlich von dem Mythos der „Wunderwaffen“. Sie rechnen vor, dass die Energie des massiven Kohle-Kraftwerks in Peenemünde lediglich für die Herstellung des Treibstoffs von maximal sechs Raketen pro Tag ausreichte. Pro Rakete konnte weniger als eine Tonne Sprengstoff transportiert werden (S. 106f.). Im Vergleich zu herkömmlichen Luftangriffen war dies verschwindend gering: Etwa 2.000 Tonnen Sprengstoff warf die Luftwaffe im sogenannten Blitzkrieg allein über Birmingham ab. Die V2-Rakete war, ganz abgesehen von ihrer Zielungenauigkeit, bereits von ihrer Planung her militärisch unbedeutend, auch wenn sie Schrecken verbreitete. Sie war, gemessen am finanziellen, personellen und materiellen Aufwand auch für die Nazis keineswegs eine Erfolgsgeschichte (S. 188). Auch der Mythos von Peenemünde als „Wiege der Raumfahrt“ wird widerlegt mit dem Argument, dass die damaligen Auftraggeber nicht das geringste Interesse an der Raumfahrt hatten (S. 108). Die Tatsache, dass es von der Peenemünder Weiterentwicklung der Flüssigkeitsrakete – nicht deren Erfindung – bis zur Raumfahrt noch ein langer und keineswegs geradliniger Weg war, wird jedoch nur indirekt erwähnt.

Schmidt und Mense geben einen guten Überblick über die Entstehung der Peenemünder Versuchsanstalten, deren Infrastrukturmaßnahmen (wie Energie- und Wasserversorgung), den damals sehr wichtigen Schienenverkehr auf der Insel (S. 22–38) sowie die unterschiedlichen Unterkünfte der Arbeiter, Angestellten, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge (S. 40–49). Leider fehlen hier genauere Angaben beispielsweise zu der Anzahl der Menschen in den verschiedenen Lagern oder eine Beschreibung ihrer Lebensbedingungen. Hier besteht sicher noch Forschungsbedarf; einige Arbeiten, beispielsweise die Dokumentation des ehemaligen französischen KZ-Häftlings Michel Fliecx, der in Peenemünde für die V2 arbeiten musste, wurden aber übersehen, obwohl sie im Ausstellungsband des Museums in Auszügen dokumentiert sind (S. 53).1 Auch die Erkenntnisse aus einem Schwerpunktthemenheft zur Zwangsarbeit der Peenemünder Hefte2 hätten stärker Berücksichtigung finden können, sodass einige Ungenauigkeiten hätten vermieden werden können. Beispielsweise arbeiteten die KZ-Häftlinge in Peenemünde nicht hauptsächlich an der Endmontage der V2-Raketen (S. 53). Dies traf zwar auf die etwa 650 Häftlinge des KZ Karlshagen II zu, nicht aber auf die durchschnittlich etwa 1.200 Häftlinge des KZ Karlshagen I, welches der Luftwaffe diente. Keine Erwähnung finden Beschreibungen, die zu illustrieren vermögen, wie fließend die Grenzen zwischen „Zivilarbeitern“ und Zwangsarbeitern waren: Der Aufstand der 500 italienischen Arbeiter im Herbst 1941 wurde blutig niedergeschlagen, und sie wurden zur Verlängerung ihres „Vertrages“ und damit zur Arbeit gezwungen. Viele der Zwangsarbeiter waren mit Bauarbeiten beschäftigt, oft im Auftrag der „Baugruppe Schlempp“ und Schlempps damaligem Vermessungsingenieur, dem späteren Bundespräsident Heinrich Lübke. Dass dieser „persönlich mit den Entwürfen für die Fassade der Schaltwarte befasst“ war (S. 35), wird erwähnt, nicht aber seine Verantwortung für Zwangsarbeit. Interessant sind die Beschreibungen der Bauwerke wie dem Kraftwerk, die durch eine wuchtige Bauweise, wie andere Nazi-Bauten auch, pseudo-sakral zum „Werk“ überhöht wurden (S. 34). Die Bauten und Infrastrukturmaßnahmen in Peenemünde entsprachen dem damaligen Stand der Technik. Sie sind teilweise, an anderen Orten aber besser, erhalten und können als Anschauungsmaterial für Bauweisen des Nationalsozialismus dienen. Einzig das Netz von Telefonpfeilern jedoch mag etwas Einmaliges gewesen sein (S. 44).

Etwas verwunderlich ist die quellenunkritische Übernahme von Erzählungen ehemaliger Peenemünder Ingenieure und Entscheidungsträger hinsichtlich der Technikgeschichte. So kommen Dornberger sowie Botho Stüwe, damals Ingenieur in Peenemünde, ausgiebig und unhinterfragt zu Wort (S. 24–40). Es wird zwar an anderer Stelle erwähnt, dass sie die „wahren Bedingungen, die in Peenemünde herrschten“, ignorierten (S. 51), aber nicht, dass ihre Darstellungen interessengeleitet und, wie Rainer Eisfeld nachweist, eine Mischung aus Fiktion und Realität sind. Dornberger leugnete jahrzehntelang die Existenz von KZ-Häftlingen in Peenemünde, und Stüwe rechtfertigte noch im Jahr 2000 den Angriff auf Polen als legitimes Mittel zur Verteidigung des Deutschen Reiches. Schmidt und Mense zitieren Dornberger dagegen mit Sätzen wie: „Die schlichte Schönheit der neuen Luftwaffengebäude hatte es uns und den mit unseren Plänen beschäftigten Architekten angetan.“ (S. 38)

Die Stärke der Studie liegt aber fraglos in der übersichtlichen Kartierung der Befunde. So sind nicht nur die Anlagen und Bauten der Heeresversuchsanstalt und der Erprobungsstelle der Luftwaffe verzeichnet, es finden sich auch Karten etwa zu den Bauabschnitten in zeitlicher Abfolge der Siedlung Karlshagen oder zum Grundstückserwerb. Über 900 Objekte in dem 25 Quadratkilometer großen Gelände wurden für die Studie in ein elektronisches Geoinformationssystem aufgenommen und räumlich verortet. Dies bietet nicht nur künftigen wissenschaftlichen Untersuchungen, sondern auch der musealen Darstellung weitreichende Möglichkeiten. Darüber hinaus kann die Georeferenzierung Grundlage für entsprechende interaktive Apps sein, die als Guides im Gelände genutzt werden bzw. Einblicke in aus Sicherheitsgründen abgesperrte Gelände bieten können. Dies wäre bei jährlich etwa 170.000 Besuchern des Museums und über einer Million Urlaubern auf der Insel Usedom ein durchaus lohnendes Projekt. Eine Karte der ehemaligen Versuchsanstalten (S. 186) zeigt auf, welche Objekte über vorhandene oder noch zu erstellende Wege erreichbar sind. Leider bleibt die Erfassung der ehemaligen Anlagen dennoch lückenhaft. Der Flugplatz wurde nicht mit aufgenommen, da der Grundstückseigentümer keinen Zugang gewährte. Die Flächen um die Peenestraße in Karlshagen, auf denen sich ein Zwangsarbeitslager befand, fehlen ebenfalls, weil sich dort heute eine Wohnsiedlung befindet (S. 14). Gerade hier wäre aber eine genaue Kartierung hilfreich im Hinblick auf eine künftige Kennzeichnung und eventuelle Errichtung eines Gedenkortes. Dies weist auf ein anderes Manko der ansonsten hilfreichen Studie hin: Die Peenemünder Versuchsanstalten waren nicht nur ein Mikrokosmos nationalsozialistischer Gemeinschaftsbildung im Dienste des totalen Krieges, sondern auch Leidens- und Todesstätte zahlreicher Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge. Peenemünde ist deshalb heute Gedenkort. Dies bleibt in der Studie und auch in der Arbeit des Peenemünder Museums aus nicht ersichtlichen Gründen außen vor.

Dennoch kommen Schmidt und Mense zu dem Schluss, dass die Mythen und der „Geniekult um Peenemünde“ hinterfragt werden müssen, die bei „technikbegeisterte[n], aber historisch unkritische[n] oder gar für neonazistische Ideen anfällige[n] Menschen“ vorhanden sein mögen (S. 188). Für das Museum fordern sie einen „wissenschaftliche[n] Beirat in einer personellen und fachlichen Besetzung, die die Gewähr für neue Ansätze und nicht etwa für die Bestätigung alter Narrative bietet“ (S. 187).

Anmerkungen:
1 Die lesenswerten Erinnerungen sind inzwischen auch auf Deutsch erschienen: Michel Fliecx, Vom Vergehen der Hoffnung. Zwei Jahre in Buchenwald, Peenemünde, Dora, Belsen, Göttingen 2013.
2 „Der Betrieb … kann mit Häftlingen durchgeführt werden“. Zwangsarbeit für die Kriegsrakete, Peenemünde 2009 (= Peenemünder Hefte – Schriftenreihe des Historisch-Technischen Museums Peenemünde 3).

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch