Cover
Titel
Schwarze Milch. Zurückgehaltene Briefe aus den Todeslagern Transnistriens


Herausgeber
Grilj, Benjamin M.
Erschienen
Innsbruck 2013: StudienVerlag
Anzahl Seiten
1077 S.
Preis
€ 62,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sonja Knopp, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Bei dem vom Historiker und Philosophen Benjamin M. Grilj herausgegebenen Band handelt es sich um eine Quellenedition: ein Kompendium von 198 Briefen jüdischer Deportierter, die zwischen November und Dezember 1941 aus „Transnistrien“, dem rumänisch besetzen, vormals ukrainischen Gebiet zwischen den Flüssen Dnjstr und Bug, an Freunde, Bekannte und Verwandte in der Bukowina schrieben, um diese um Hilfe oder Beistand zu bitten. Alle Briefe wurden digitalisiert, transkribiert und übersetzt. Jeder Brief liegt den Leserinnen und Lesern in Form einer Schwarz-Weiß-Abbildung und in vierfacher Übersetzung, nämlich in deutscher, rumänischer, ukrainischer und englischer Sprache vor. Im Original sind die Briefe deutsch-, rumänisch- und jiddischsprachig. Mit der Briefsammlung wird der vollständige Aktenbestand aus dem ukrainischen Regionalarchiv Czernowitz abgedruckt, dessen weitere Zugänglichkeit aufgrund des Materialzustands aktuell akut gefährdet ist. Der explizit formulierte Auftrag des Herausgebers besteht in der Sicherstellung der Zugänglichkeit zu diesem wichtigen Quellenbestand einerseits und der nachträglichen ‚metaphorischen Zustellung‘ (S. 7, 40) der von der Gendarmerie am Bahnhof Czernowitz abgefangenen Briefe, die ihre Adressaten nie erreichten, andererseits.

Den Quellen sind zwei Einleitungen vorangestellt, die sich mit der Geschichte des Holocaust in Rumänien und speziell der Bukowina, der Herkunftsregion der Absender, befassen. Sie führen die Leserschaft in die historische Situation des Jahres 1941 in Rumänien und dem angrenzenden ukrainischen Gebiet, dem sogenannten Transnistrien ein, das seit Sommer 1940 rumänisch-deutsch besetzt und seit dem Abkommen von Tighina am 30. August 1941 rumänisch kontrolliert wurde. Begleitet werden die Briefe von einigen Lesehilfen. Dazu zählen ein Glossar mit heutzutage unüblichen Begriffen, die in den Briefen verwendet werden, sowie ein Ortsverzeichnis und mehrere Karten. Zur Benutzerfreundlichkeit des Bandes trägt außerdem bei, dass jede Seite mit einer Kopfzeile versehen ist, die die Leserinnen und Leser über die jeweilige Dokument- und die archivinterne Inventarnummer informiert. Die Übersetzungen sind entsprechend der vier verwendeten Sprachen in vier unterschiedlichen Formatierungen abgedruckt, sodass auch längere Textpassagen übersichtlich gestaltet sind.

Die erste der beiden Einleitungen hat Dieter A. Binder, Professor für Kulturgeschichte und Kulturanthropologie in Graz und Budapest, beigetragen. Er skizziert die Geschichte der jüdischen Bukowina und gibt zahlreiche Hinweise auf aktuelle literarische und wissenschaftliche Darstellungen der Region als historische Kulturlandschaft. Während Czernowitz als städtisches Zentrum der nördlichen Bukowina bisweilen gern als Ort friedlich koexistierender kultureller Vielfalt präsentiert wird, hebt Binder die konfliktreichen historischen Aspekte der „Erinnerungslandschaft“ (S. 12) hervor, die in der Ghettoisierung, Deportation und tausendfachen Ermordung jüdischer Bukowiner und Bukowinerinnen gipfelte. Hier knüpft der zweite einleitende Text Andrei Corbea-Hoisies an. Der Professor für deutsche Literatur an der Universität Iaşi informiert die Leserinnen und Leser über die Geschichte der Verfolgung und Ermordung der bukowinischen Juden zwischen 1941 und 1944. Damit leistet er eine historische Verortung der Quellen im Kontext der Shoah und ermöglicht der Leserschaft ein historisch informiertes Verstehen der abgedruckten Zeugnisse. Er schließt sich der von Grilj eingangs formulierten Aufgabe an, den Stimmen der Verfolgten postum Gehör zu verschaffen (S. 7, 40), und plädiert für eine – längst überfällige – Anerkennung „Transnistriens“ als „Gedächtnisort“ (S. 37) seitens der rumänischen Gesellschaft und für eine Reflexion der gesellschaftlichen Verantwortung für die Verbrechen an ihren jüdischen Bevölkerungsteilen. Problematisch erscheint an dieser Stelle, dass Corbea-Hoisie selbst seit 2007 mit schweren moralischen Vorwürfen konfrontiert ist. In dem Jahr wurde er bezichtigt, zur Zeit Ceausescus jahrelang für den rumänischen Geheimdienst „Securitate“ zuungunsten oppositioneller Intellektueller gearbeitet zu haben. Es wäre zumindest bedenkenswert gewesen, den vorliegenden Band nicht durch den schwelenden Konflikt um die moralische Beurteilung Corbea-Hoisies zu belasten.1

Aus der Lektüre der 198 Briefe ergibt sich ein facettenreiches Bild der Erfahrungen sowohl von der Deportation nach „Transnistrien“ als auch vom Leben der Deportierten in den transnistrischen Ghettos und Lagern. In zahlreichen Variationen lehren die Briefe die Details der Not: in Bitten um Brot, Schuhe, Kleidung, Nahrung, Geld oder Medikamente. Es sind persönliche Briefe mit personalisierten Sorgen und Anliegen. Der Leser bzw. die Leserin der Briefe schlüpft kurzzeitig in die Rolle der ursprünglichen Adressaten, denen die oft behelfsmäßig zustande gebrachten Schreiben jedoch – wie man gleich im Vorwort erfährt – nie zugestellt wurden, weil die Gendarmerie am Bahnhof Czernowitz den Kurier Dr. Albert Twers festsetzte und die Briefe beschlagnahmte. Insbesondere die Schreiben, die sich an Familienangehörige richten, sind sehr intime Zeugnisse der individuellen Not, der Sorgen und Hoffnungen. Aus einigen Briefen werden auch die Umstände ersichtlich, unter denen sie entstanden sind: So lassen die Handschriften oft große Hast erkennen sowie den Mangel an Schreibmaterial. Fehlende Wörter, teils stenographischer Stil und zerstreute Texte sind meist wohl nicht nur der Eile, sondern auch – wie manchmal explizit aus den Briefen hervorgeht – der körperlichen Schwäche der Schreibenden geschuldet (zum Beispiel S. 214ff., 314ff.). Der Chor der in den Briefen erklingenden Stimmen zeugt von Entbehrung, Hunger und aufziehender Kälte. Bedenkt man, dass die Briefe erst zum Auftakt des harten Winters 1941/1942 entstanden sind, offenbart sich die Bedrohlichkeit und Unheimlichkeit der geschilderten Situationen. Zudem spricht aus den verzweifelten Bitten um Kontaktaufnahme, um Zusendung einer kurzen Nachricht, soziale Vereinzelung, Angst und keimende Hoffnungslosigkeit. Andererseits wählen die Absender zuweilen auch tröstende Worte voller Hoffnung und Zuversicht, sie versichern ihre Unversehrtheit und schildern ihren Einfallsreichtum in der Bewältigung ihres Alltags, der voller Widrigkeiten und Gefahren steckte. Viele Briefe, insbesondere hinsichtlich der Versorgung von Kindern, dokumentieren die Selbstbehauptung, Stärke und soziale Zuwendung der Deportierten. Das Ringen zwischen diesen beiden Polen, das unermüdliche Bemühen und der zähe und kräftezehrende Überlebenskampf angesichts des überwältigenden Elends und allgegenwärtigen Sterbens, aber auch die Trauer um den Tod von Angehörigen und die deprimierende Perspektivlosigkeit der immer schwächer werdenden jüdischen Männer, Frauen und Kinder: dieses konfliktreiche Bild zeichnet die Quellenedition in der Gesamtheit der Briefe.

Schätzungen zufolge sind während des Holocaust in rumänisch kontrollierten Gegenden bis zu 380.000 Jüdinnen und Juden ermordet worden.2 Erst im Jahre 2003 gab Rumänien offiziell die Komplizenschaft der Antonescu-Regierung im Holocaust zu. Eine internationale Historikerkommission begann daraufhin mit der Aufarbeitung der Verbrechen und der Ausarbeitung von Lehrbuchempfehlungen für die historische Bildung. Der „Raport Final“ liegt der Öffentlichkeit seit 2004 vor.3 Der Band „Schwarze Milch“ lässt sich in den größeren Zusammenhang sich intensivierender historischer Forschung zum Holocaust in Rumänien einordnen sowie in den Kontext interdisziplinärer Arbeiten zu Fragen von Zeugenschaft vom und Erinnerung an den Holocaust. Er leistet insbesondere solchen Forschungsarbeiten Vorschub, die ihr Erkenntnisinteresse verstärkt auf das Individuum und dessen Erleben und Erfahren von geschichtlichen Ereignissen richten. Diese Entwicklung steht in engem Zusammenhang mit der Erinnerungskultur und -politik westlicher Gesellschaften und Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg. Begünstigt durch die – wenn auch späte und längst nicht flächendeckende – Anerkennung der Opfer und ihrer Angehörigen, drängt seit den 1990er-Jahren immer mehr autobiographische Erinnerungsliteratur auf den Büchermarkt und von dort auch ins Fernsehen. Etwas anders sieht es diesbezüglich in Rumänien aus. Die gesellschaftliche Aufarbeitung der Vergangenheit berücksichtigte während der kommunistischen Periode weniger die jüdische Bevölkerung als vielmehr die Kommunisten als Verfolgte und Unterdrückte des rumänischen Militärregimes unter Ion Antonescu. Nach dem Sturz Ceausescus wiederum wurden im Zuge eines verstärkten Nationalismus wiederum die Protagonisten der Militärdiktatur unter Antonescu in ihrer anti-kommunistischen Bedeutung politisch rehabilitiert und ihre Verantwortung für die Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung negiert. Die mörderische Politik gegenüber den Jüdinnen und Juden im rumänischen Großreich der 1930er- und 1940er-Jahre wurde erst im Vorfeld des Beitritts Rumäniens in die EU systematisch betrachtet.4 Vor diesem Hintergrund liefert Griljs Werk eine wichtige Quelle für die weitere Aufarbeitung der Kriegsverbrechen an der jüdischen Bevölkerung Rumäniens. Die Vielsprachigkeit der Edition trägt überdies zu einem potenziell großen Leserkreis bei, der auch die Geschichtsdiskurse anderer Gesellschaften zu beeinflussen vermag.

Mit dem berühmten Celan-Zitat als Titel wird bereits auf den historischen Kontext der Verfolgung und Ermordung der Juden der historischen rumänischen Bukowina verwiesen. Wenngleich der Untertitel mit der Verwendung des Begriffs „Todeslager“ irreführend ist, lenkt das Buch doch die Aufmerksamkeit auf einen lange Zeit von der Forschung und der Öffentlichkeit unterbelichteten Teil der Geschichte vom Judenmord in Europa während des Zweiten Weltkrieges. Mit dem vorgelegten Band sichert Grilj einen wertvollen und umfangreichen gefährdeten Quellenbestand für die künftige Forschung und für die interessierte Öffentlichkeit und bietet darüber hinaus eine in Gestaltung und Inhalt rundum gelungene historische Kontextualisierung der Briefsammlung. Die Edition nimmt insofern innerhalb des bislang publizierten Quellenmaterials zum Thema eine herausragende Stellung ein.

Anmerkungen:
1 Markus Bauer, Unter Druck und nach Diktat. In den Fängen der Securitate – der Germanist Andrei Corbea-Hoisie rechtfertigt sich, in: Neue Zürcher Zeitung, 30.09.2008. <http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/unter-druck-und-nach-diktat-1.960763> (05.05.2014).
2 Wolfgang Benz, Rumänien und der Holocaust, in: Ders. / Brigitte Mihok (Hrsg.), Holocaust an der Peripherie. Judenpolitik und Judenmord in Rumänien und Transnistrien 1940–1944, Berlin 2009, S. 11–30, hier S. 30.
3 Comisia International Pentru Studierea Holocaustului in Romania, Raport Final, Bucaresti 2004, <http://www.inshr-ew.ro/en/wiesel-report> (05.05.2014).
4 Hildrun Glass, Historiographie und Politik: Die Aufarbeitung der Massenverbrechen an den Juden im rumänischen Herrschaftsbereich, in: Südosteuropa 55 (2007), S. 276–300.

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