G. Feindt u.a. (Hrsg.): Europäische Erinnerung

Cover
Titel
Europäische Erinnerung als verflochtene Erinnerung. Vielstimmige und vielschichtige Vergangenheitsdeutungen jenseits der Nation


Herausgeber
Feindt, Gregor; Krawatzek, Félix; Mehler, Daniela; Pestel, Friedemann; Trimçev, Rieke
Reihe
Formen der Erinnerung 55
Erschienen
Göttingen 2014: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
274 S.
Preis
€ 44,99
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Stefan Hanß, Freie Universität Berlin

„Warum braucht es heute“, so lautet der erste Satz des hier zu besprechenden Sammelbandes, „noch ein Buch zu europäischer Erinnerung […]?“ Die Antwort darauf liegt nach der Lektüre des Bandes, so viel sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen, auf der Hand: Es handelt sich um einen besonders innovativen und reflexiven methodischen Beitrag zu einer weitausgreifenden Debatte, der sich nicht als additiven Zusatz versteht, sondern diese selbst auf ihre epistemischen Implikationen und „erkenntnisstrukturierenden Konzepte[]“ hin reflektiert (S. 12). Der Band wird von einer Arbeitsgruppe vorgelegt, die im Rahmen der Studienstiftung des deutschen Volkes und des Zentrums für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld Plattformen für eine mehrjährige Zusammenarbeit fand, die sich unter anderem in veranstalteten Workshops ausdrückte. Jüngst präsentierte das interdisziplinäre Autorenkollektiv, die vor allem Anleihen in den Geschichts- und Politikwissenschaften, der (Süd-)Osteuropaforschung und Soziologie nehmen, Überlegungen zum Gedächtnisbegriff als soziale Kategorie und plädierten in History and Theory für eine methodologisch reflexive ‚dritte Welle‘ der memory studies1, was sich in der ausführlichen Einleitung zum vorliegenden Sammelband niederschlägt.

Vergangenheit als ‚europäisch‘ zu definieren, ist eine diskursive Realität unserer Tage, die sich sowohl in populären und politischen als auch in wissenschaftlichen Kontexten findet. Den Autorinnen und Autoren zufolge, greift diese diskursive Realität auf zweierlei Weise auf Denkgewohnheiten zurück, die im Wesentlichen in nationalen Memorialtraditionen und den ihnen eigenen Implikationen und Essenzialisierungen fußen. Einerseits werde dem Erinnerten ein angeblich ‚europäisches‘ Moment zugesprochen, was zugleich spezifische Europa-Begriffe voraussetze, in denen Europa häufig als Summe von Nationen, als identitätsstiftende Topographien oder als essenzialisierte Erfahrungsräume verstanden wird. Andererseits werde eine spezifische Bezugnahme auf das Erinnerte selbst als ‚europäisch‘ definiert, nämlich jene, die Erinnerung in Reaktion auf die Schoah als Medium der Anerkennung von Differenz konzipiere und so zugleich über „vermeintliche[] Europäizität“ kulturpolitische Zuschreibungen legitimiere (23). Der Band konzipiert ‚europäische Erinnerung‘ daher konsequent als ein Konstrukt, dass erinnerte Deutungsträger „als vergangen“ und „als europäisch“ definiere (S. 28). Damit wird nicht die Frage danach gestellt, was eine ‚europäische Erinnerung‘ sei. Das Augenmerk richtet sich vielmehr darauf, wann und wie bestimmte Akteure einem Deutungsträger in welcher diskursiven Situation eine ‚europäische‘ Qualität zusprachen. Damit geraten Brüche statt vermeintlicher Kontinuitäten in das Untersuchungsinteresse, die Deutungskonflikte und soziale Aushandlungsprozesse von Erinnerungen in den Mittelpunkt rücken. Um eine Erforschung des jeweiligen „gesellschaftlichen Feld[es] von Vergangenheitsdeutungen“ (S. 25) zu operationalisieren, fordern die Autoren einerseits ein auf Quellenstudien basiertes induktives Forschungsvorgehen ein, das die eigene Rolle in der Konstruktion von Erinnerungsdiskursiven selbstreflexiv thematisiert. Andererseits soll die Erforschung der Erinnerung als soziale Handlung dazu dienen, Erinnerungskonstruktionen als -konflikte zu untersuchen und so deren synchrone und diachrone Verflechtungen und die mit dieser Vielstimmigkeit und Vielschichtigkeit einhergehenden Vergessensprozesse offenzulegen. Denn mit der vermeintlichen Objektivierung von Erinnerung und Erfahrung, so die Autorinnen und Autoren weiter, gingen eigene Positionierungen der Akteure einher, die es offenzulegen gelte.

Der Band versammelt daher sieben Fallstudien, die zeitlich und räumlich weit ausgreifen. Klaus Oschema präsentiert den „pater Europae“ Karl den Großen als rezeptionshistorisches Konstrukt des 20. und 21. Jahrhunderts, das einer dezidiert „westeuropäische[n] Identititätskonstruktion“ diente (S. 60). Als wesentliches Gegenstück dazu fand vor allem die Wikingerrezeption Eingang in ‚europäische Erinnerungen‘. Dabei legte Roland Scheel dar, inwieweit historische Erinnerungen an Wikinger auf bibelexegetische Muster der Narration zurückgriffen und schwedische Großmachtansprüche im 17. Jahrhundert legitimierten. Der Beitrag von Simon Hadler widmet sich den Vereinnahmungen von Memorialkonstruktionen im Umgang mit dem Osmanischen Reich. Besonders treffend gelingt es Friedemann Pestel am Beispiel von Versailles herauszustellen, inwieweit Erinnerungen nicht allein das Produkt intentionaler Konstruktionsakte darstellen, sondern als soziale Handlungen zugleich schwer zu kalkulierbaren historischen Eigendynamiken unterliegen. Die darauffolgenden Beiträge analysieren die Auswirkungen der als negativen „Gründungsmythos“ (S. 22, 25) ‚europäischer Erinnerungen‘ begriffenen Schoah auf erinnerungspolitische Akte des 20. Jahrhunderts und die damit einhergehenden Diskurse. Im Zentrum der Fallstudie von Gregor Feindt stehen zum Beispiel die „selbstreferenzielle[n] Opferdiskurs[e]“ (S. 159) um „Flucht und Vertreibung“, die „nationalsozialistische Deutungsmuster [übernahmen] […] und […] diese ideologischen Anknüpfungspunkte […] zugleich kaschieren“ (S. 158). Marcin Napiórkowski untersucht daraufhin Erinnerungen an den Warschauer Aufstand als „politische Stellungnahme[n]“ (S. 194), die jeweils aktuelle Positionierungen durch Inanspruchnahmen von Deutungshoheiten verhandel(te)n. Auf vergleichbare Weise untersucht Daniela Mehler Srebrenica als Erinnerungsdiskurs, der über Europäizitätszuschreibungen an Memorialpraktiken Verantwortungen verhandelt: „Durch die Europäisierung eines partikularen Narrativs“, so die Autorin, werden „andere, unerwünschte Narrative ausgeschlossen“ (S. 233 f.).

In einem abschließenden Beitrag analysieren die Herausgeberinnen und Herausgeber wiederkehrende Deutungsmuster von Erinnerungen, die Akteure des 20. und 21. Jahrhunderts „als vergangen und als europäisch“ konzipierten (S. 237). Demnach stellten diese erstens raumbezogene Zugehörigkeitszuschreibungen dar, die als Chiffren durch soziale Übersetzungsleistungen aktualisierbar waren und somit Inklusionen und Exklusionen anhand von Hegemonieansprüchen legitimierten. Zweitens stelle die Klassifizierung von Erinnerung als ‚europäisch‘ ein Ressource dar, die als symbolisches Kapital für Deutungsansprüche genutzt und auch finanziell fruchtbar gemacht werde, was zu einer Perpetuierung „europäische[r] Selbstzuschreibungen“ führe (S. 247). Drittens diene die Klassifizierung von Erinnerungszuschreibungen als ‚europäisch‘ dazu, politische Weltanschauungen zu positionieren und zu legitimieren. Viertens verhandele die Bezugnahme auf ‚europäische Erinnerung‘ zugleich den aktuellen Umgang mit Heterogenität, der als unparteilicher Akt klassifiziert werde und so ‚Europäizität‘ über Zuschreibungsakte an Erinnerungen definiere. Dass diese Erinnerungsakte jedoch keineswegs so unparteiisch und universal sind, wie sie selbst vorgeben, sondern vielmehr selbst Resultate von Deutungskonflikten darstellen, welche die immanente Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit von Erinnerungen als soziale Handlungen selbst unterlaufen, hat dieser Band überzeugend dargelegt (S. 260). Um aktuelle Debatten „aus der Teleologie von Vergemeinschaftung durch Erinnerung zu führen“, legen die Autorinnen und Autoren daher nahe, „die Regeln der Konfliktaustragung transparent zu machen“ (S. 261 ff.). Hierin liegt das eigentliche Potenzial dieser methodischen und auf empirische Anwendung hin konzipierten, kritischen Überlegungen, die Oliver Dimbath aus dezidiert sozialtheoretischer Perspektive abschließend würdigt (S. 271). Es bleibt zu hoffen, dass der Band eine entsprechend weite Rezeption erfährt, die in Zukunft auch anthropologische Debatten – insbesondere jene um die production of history, silencing und revoicing – einbezieht. Weshalb also brauchte es dieses Bandes? Weil er für die impliziten Zuschreibungspraktiken von Erinnerungshandlungen nachdrücklich sensibilisiert und zugleich einen Vorschlag unterbreitet, wie deren Erforschung umsichtig zu operationalisieren ist. Mögen künftige Beiträge zur Debatte vergleichbar nuanciert und vielstimmig sein, wie Paul Klees ‚Polyphonie‘, das den Einband des besprochenen Bandes treffenderweise ziert.

Anmerkung:
1 Félix Krawatzek / Rieke Trimçev, Eine Kritik des Gedächtnisbegriffes als soziale Kategorie, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013), S. 159-176 sowie Gregor Feindt / Félix Krawatzek / Daniela Mehler / Friedemann Pestel / Rieke Trimçev, Entangled Memory. Toward a Third Wave in Memory Studies, in: History and Theory 53 (2014), S. 24-44.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/