O. Kiechle: Fritz Selbmann als Kommunist und SED-Funktionär

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Titel
Fritz Selbmann als Kommunist und SED-Funktionär. Individuelle Handlungsspielräume im System. Eine politische Biographie


Autor(en)
Kiechle, Oliver
Reihe
Düsseldorfer Historische Studien 1
Erschienen
Anzahl Seiten
511 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
André Steiner, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

Neuere Biographien von Personen, die die DDR-Geschichte wesentlich mitprägten, sind eher Mangelware. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass sich Oliver Kiechle in seiner nun gedruckt vorliegenden Promotionsschrift Fritz Selbmann – einem der herausragenden SED-Wirtschaftsfunktionäre – zugewandt hat. In den Mittelpunkt will er dabei die Handlungsspielräume stellen, die seinem Protagonisten in den jeweiligen Systemstrukturen zur Verfügung standen. Kiechle sieht in der Biographie Selbmanns sowohl das Typische als auch Besonderes eines deutschen Kommunisten des 20. Jahrhunderts vereint: einerseits radikalisiert durch den Ersten Weltkrieg schloss sich dieser einer extremen Partei an und verschrieb sich ihrer Ideologie; andererseits riskierte er mehrfach Konflikte mit der Parteiführung (S. 9f.). Diese Gemengelage macht den besonderen Reiz der Beschäftigung mit dem Leben Selbmanns aus.

Die Arbeit ist chronologisch gegliedert: Nach einer Einleitung werden im ersten Kapitel die Herkunft und Jugend im Kaiserreich, die Erlebnisse im Ersten Weltkrieg sowie deren Konsequenzen beleuchtet. Im zweiten Kapitel, das die Zeit der Weimarer Republik umfasst, rückt die politische Arbeit Selbmanns in den Mittelpunkt, die er in der USPD begann und in der KPD fortsetzte. In letzterer stieg er bis zum Bezirksleiter erst in Oberschlesien, später in Sachsen auf und wurde schließlich auch Reichstagsabgeordneter. Das darauf folgende Kapitel behandelt die Zeit des Nationalsozialismus, die Selbmann nahezu vollständig in Haft – zunächst im Zuchthaus, dann in verschiedenen Konzentrationslagern – verbringen musste.

Seine Tätigkeit vornehmlich als SED-Wirtschaftspolitiker in der Sowjetischen Besatzungszone greift das vierte Kapitel auf: Nach den Anfängen in Leipzig wird er zum Leiter des Landesarbeitsamtes Sachsen bestellt, um wenig später in der Landesverwaltung zum Vizepräsidenten für Wirtschaft und Arbeit aufzusteigen, ab dem Herbst 1946 war er bis 1948 als Minister für Wirtschaft und Wirtschaftsplanung in Sachsen tätig. In diese Zeit fielen weitreichende Entscheidungen, an denen Selbmann führend beteiligt war. Zu nennen ist vor allem die Umwandlung der Eigentumsstruktur in der Industrie, die mit einem in Sachsen durchgeführten Volksentscheid legitimiert wurde, aber auch der Beginn der Wirtschaftsplanung. In dieser Zeit focht Selbmann nicht wenige Auseinandersetzungen mit der sowjetischen Besatzungsmacht, aber auch mit der Berliner Parteiführung aus. Nachdem er sich hier als einer wortgewaltigsten Landespolitiker profiliert hatte, wurde er mit der Aufwertung der Deutschen Wirtschaftskommission 1948 in diese nach Berlin berufen und exponierte sich nunmehr für eine Zentralisierung der zonenweiten Wirtschaftskompetenzen.

Das fünfte Kapitel geht auf den Zeitraum von der Gründung der DDR 1949 bis zum Aufstand vom 17. Juni 1953 ein. Selbmann wirkte damals als Industrieminister mit wechselnden Zuständigkeiten. Insbesondere wird hier seine Rolle beim Aufbau eines der wichtigsten Investitionsvorhaben in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre, dem späteren Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) beleuchtet, mit dem eines der entscheidenden Defizite der DDR-Wirtschaft beseitigt werden sollte. Auch über dieses Projekt und vor allem seine Realisierung kam es zum Streit mit der SED-Spitze, der für Selbmann mit einer Parteirüge endete. Seine angeschlagene Position innerhalb der DDR-Machtstruktur konnte er erst wieder durch sein Verhalten während des Aufstands 1953 stärken, als er als einziges Regierungsmitglied versuchte, am 16. Juni direkt mit den protestierenden Arbeitern zu sprechen. Diese verschiedentlich bereits dargestellte Episode nimmt auch in der vorliegenden Arbeit den gebührenden breiten Raum ein.

Die darauf folgende Zeit bis 1958, in der Selbmann auf dem Höhepunkt seiner DDR-Karriere angekommen war, ist Gegenstand des sechsten Kapitels. Dabei geht es vor allem um seine Arbeit als Minister und nunmehr auch stellvertretenden Regierungschef, wobei die Errichtung eines weiteren Industriegroßprojektes dieser Jahre, dem Braunkohleveredlungskombinat „Schwarze Pumpe“ sowie die vorgesehene Entwicklung der eigenen Kernenergieproduktion im Mittelpunkt stehen. Letzteres stand auch im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Vorstandsvorsitzender der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut, der nach Beendigung der Reparationszahlungen ab 1953 die Uranproduktion in der DDR oblag. Jedoch machte Selbmann (neben anderen) sich auch dafür stark, die Prinzipien der Wirtschaftslenkung und -planung effizienter zu gestalten, was neben anderen Vorfällen bei den Auseinandersetzungen innerhalb der SED-Spitze 1957/58 dann mit dazu diente, ihn zu entmachten.

Er wurde zunächst noch mit einer nachgeordneten Tätigkeit in der Staatlichen Plankommission betraut, was im siebenten Kapitel ebenso wie das folgende dargestellt wird: Zunehmend widmete er sich nun seiner schriftstellerischen Tätigkeit, was für einen ehemaligen führenden SED-Wirtschaftsfunktionär wohl einmalig war. In seinen Büchern verarbeitete er immer wieder auch autobiographische Elemente. Innerhalb der DDR war er damit durchaus erfolgreich. Er verstarb 1975. Neben einem anschließenden Resümee weist die vorliegende Arbeit noch fünf Einschübe auf, die sich mit übergreifenden Themen befassen: Dabei wird unter anderem das Verhältnis Selbmanns zu Bildung und Selbstbildung, zu Ernst Thälmann sowie zur Jagd und zur Stasi thematisiert.

Die gut lesbare und flüssige Darstellung stützt sich auf einen breiten Fundus an Unterlagen aus einer ganzen Reihe von Archiven, wobei der Selbmann-Nachlass und andere Materialien in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv hervorzuheben sind. Dazu zählen auch die von Selbmann im Auftrag des SED-Parteiarchivs noch selbst verfassten Erinnerungen, die nur teilweise veröffentlicht wurden und denen ein besonderer Stellenwert zukommt, da die dort angeführten Vorgänge nicht immer mit anderen archivalischen Funden zu belegen sind.

Kiechle hinterfragt die Aussagen dieser Erinnerungen immer wieder quellenkritisch, was angesichts ihres Entstehungszusammenhangs zweifelsohne zwingend ist. Allerdings übernimmt er aus diesen Erinnerungen in hohem Maße die Darstellungsschwerpunkte. Damit erscheinen aber bestimmte Facetten, die Selbmann selbst nicht wichtig erschienen oder aus anderen Gründen von ihm weggelassen wurden, in dem vorliegenden Buch kaum oder nicht. Beispielsweise wäre es interessant, mehr über die „normale“ Tätigkeit als Minister jenseits der angesprochenen Großprojekte zu erfahren. Das hätte auch für die vom Autor eingangs aufgeworfene Frage nach den Handlungsspielräumen Relevanz, die in der vorliegenden Darstellung doch stark allein mit Blick auf die verschiedenen Machtkämpfe in den jeweiligen Strukturen betrachtet wird. Trotz dieses Einwandes sei diesen Buch allen empfohlen, die sich über das Werden von SED-Funktionären informieren wollen oder sich für die DDR-Wirtschaftspolitik bis Anfang der 1960er-Jahre interessieren.

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