N. Zenzen u.a. (Hrsg.): Aneignung und Abgrenzung

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Titel
Aneignung und Abgrenzung. Wechselnde Perspektiven auf die Antithese von ‚Ost‘ und ‚West‘ in der griechischen Antike


Herausgeber
Zenzen, Nicolas; Hölscher, Tonio; Trampedach, Kai
Reihe
Oikumene. Studien zur antiken Weltgeschichte 10
Erschienen
Heidelberg 2013: Verlag Antike
Anzahl Seiten
521 S.
Preis
€ 89,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
André Heller, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Der hier zu besprechende Sammelband untersucht in zehn Kapiteln unterschiedliche Aspekte der Beziehungen zwischen Griechenland auf der einen und dem Alten Orient und Persien auf der anderen Seite, wobei ein Autorenpaar das jeweilige Thema aus griechischer und östlicher Warte betrachtet. Der Band, der die überarbeiteten Vorträge einer Tagung des Heidelberger Forschungsprojekts „Die Ursprünge der Antithese von Ost und West vor und nach Alexander dem Großen“ vom 23. bis zum 25. Februar 2011 vereint, hinterfragt dabei den in der Forschung immer noch präsenten Gegensatz zwischen dem Orient und dem Westen in der Antike. Tonio Hölschers „Einführung: Wie weit reicht die Feindschaft“ (S. 11–32) lenkt den Blick auf moderne Phänomene des Kulturkampfes, in dem gegen die USA demonstrierende Jugendliche im Irak Jeans tragen konnten, während Coca Cola zum feindlichen Produkt erklärt wurde. Es sei daher nötig, „einen theoretischen Ansatz zur relativen Gewichtung einzelner kultureller Sektoren innerhalb des gesamten Haushalts des betreffenden Kulturkreises zu entwickeln“ (S. 30). Den thematischen Rahmen bilden Amélie Kuhrt („Aspects of Hellenisation: The Case of Babylon“, S. 33–59) und Wilfried Nippel („Diskurs über die orientalische Despotie im 18. und 19. Jahrhundert: Von Montesquieu zu Marx“, S. 465–484), welcher hervorhebt, dass sich „Orientalismus“ keinesfalls auf bloße Legitimation westlichen Kolonialismus reduzieren lasse (S. 481).

„Das Konzept der achämenidischen Monarchie nach den Primärquellen und nach den Historien des Herodot“ (S. 60–92) hinterfragen Bruno Jacobs und Kai Trampedach. Persischen Zeugnissen zufolge stand der Großkönig zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre.1 Die kultische Verehrung seiner Vorfahren rückte den König symbolisch in die Nähe der Götter. Herodot wiederum setzte diese Stellung als bewusste Botschaft gegen die Monarchie ein, da diese zur Hybris verführe. Den inschriftlich propagierten Kampf der Perserkönige gegen die Lüge karikiert Herodot an einigen Stellen regelrecht. Robert Rollinger und Kai Ruffing untersuchen „World View and Perception of Space“ (S. 93–161) im Alten Orient und Griechenland. Rollinger zeigt anhand der Wendung „inmitten des Meeres“ die Entwicklung der assyrischen Raumkonzeption auf, die sich von der Küstenlinie immer weiter in das offene Meer bis schließlich Tartessos erweiterte. Die Metapher „thus permanently transformed from a geographical classification into an expression […] which symbolised a vast space on a ‚mental map‘ oriented towards endless space“ (S. 134). Ruffing interpretiert Herodots Völkerliste als Illustration persischer Herrschaft über Asien (S. 147), nicht aber über Europa, weil dortige Besitzungen nicht als Satrapien aufgeführt werden. Xerxes’ Überschreiten der Grenzen Asiens sei daher reine Hybris, woraus aber kein Gegensatz zwischen Europa und der Freiheit auf der einen sowie Asien und der Despotie auf der anderen Seite konstruiert werden dürfe, da Herodot die Fatalität von Grenzüberschreitungen aufzeigen wolle und den Athenern durch Unterstützung des Ionischen Aufstands eine Mitschuld zufalle (S. 149).

Stefan Maul und Markus Asper widmen sich der „‚Wissenschaft‘ in Ost und West“ (S. 162–200). Die altorientalische Zuordnung von Wissen in die göttliche Sphäre verhinderte die Entstehung theoretischer Ansätze, wodurch es nur praxisorientierte Problemlösungen geben konnte. Es sei falsch, zwischen „Wissenschaft“ und Aberglaube bzw. Divination zu unterscheiden. Es werde, so Maul, „allzu leicht vergessen, dass im Alten Orient mit der Divination eine Idee Gestalt annahm, die […] unsere Gesellschaft bis heute bestimmt: nämlich die Vorstellung, dass die gesamte Welt einem Gefüge von strengem Gesetzmäßigkeiten unterworfen sei“ (S. 174). Überzeugend widerlegt Asper die bereits bei den Griechen verbreitete Vorstellung, diese seien nur Theoretiker; der Praktiker war nur weniger angesehen (S. 195f.). Er warnt insbesondere vor Pauschalisierungen, wie etwa der müßigen Frage, ob die Babylonier den Satz des Pythagoras kannten (S. 191).

Joachim Quack und Bjørn Paarmann untersuchen „Sarapis: Ein Gott zwischen ägyptischer und griechischer Religion“ (S. 229–291). Der Ägyptologe Quack verteidigt die Ableitung des Gottesnamens von dem seit dem Neuen Reich belegten Userhep, der Osiris-Form des Apis-Stieres (S. 228–234), der als Gottheit „nicht nur die Ägypter angesprochen hat, sondern auch von Fremden akzeptiert wurde“ (S. 237). Quack spricht sich gegen die Existenz einer Kultstätte des Osiris in einer Vorgängersiedlung Alexandrias aus, die eine Verbindung zu Sarapis hätte bilden können. Hinter dem angeblichen Dorf Rhakotis steht das ägyptische Wort „Baustelle“, das sich auf die Frühphase Alexandrias und nicht auf eine indigene Siedlung bezieht (S. 249–255), was durch fehlende archäologische Befunde bestätigt werde (S. 269–272). Paarmann bespricht die antike Gründungslegende des Sarapis-Kultes.2 Beide Autoren deuten die angebliche Geschichte der Herkunft des Kultbildes aus Sinope als Konstrukt, das einem ähnlichen Toponym nahe Memphis bzw. Askalon entsponnen wurde (S. 263 u. 247); ebenso plausibel erscheint Paarmanns Verortung der Entstehung dieser Legende in flavischer Zeit, weil Kaiser Vespasian seine Herrschaft auf Sarapis zurückführte. Zu Recht lehnen beide die ältere Auffassung ab, der Kult habe der Vereinigung von Griechen und Ägyptern gedient, bieten aber letztlich keine alternative Interpretation an. Quacks Annahme, Userhep sei „von den Hellenomemphiten akzeptiert worden“ und habe daher „auf die gesamte griechische Bevölkerung Ägyptens vergleichsweise leicht übertragen“ werden können (S. 247), oder Paarmanns Konklusion, dass „the Macedonians had met a fully developed god in Egypt“ (S. 277), beantworten nicht die Frage nach dem Grund der Einführung oder der Funktion der Gottheit. Nur der gräzisierte Namen erinnerte an Userhep, kaum jedoch das Kultbild oder die Zuständigkeit des Gottes. Überzeugender hingegen ist die Annahme, Sarapis habe „den Griechen die Teilnahme in den ägyptischen Festen und damit die Verfügungsgewalt über die staatserhaltenden Kultabläufe“ ermöglicht.3

Im Kapitel „Wirtschaft im Spannungsfeld zwischen Ost und West: Der Handel im östlichen Mittelmeergebiet achaimenidischer Zeit“ (S. 292–366) untersuchen Nicolas Zenzen den „Güterverkehr zwischen Athen und der Levante“ und Andreas Mehl den „Handel zwischen dem achaimenidischen Zypern und dem Ägäisraum“, während Margarete van Ess „Bemerkungen zum überregionalen Handel im Achaimenidenreich“ beisteuert. Der Handelsverkehr blieb vom Gegensatz zwischen Griechen und Persern unbeeinflusst; erst mit Alexander dem Großen und den hellenistischen Staaten kam es zu interregionalen Konkurrenzsituationen. Das gleiche Bild bietet zwar auch Zypern, dennoch sind sichere Aussagen zum Warenfluss aufgrund der wenigen Schiffswracks schwierig. Konkretes über die wirtschaftlichen Interessen des Perserreichs lässt sich kaum darlegen, da die meisten Zeugnisse den Tempelarchiven Babyloniens entstammten. Dabei spielen Metalle und Luxusgegenstände, aber auch Nachfrage nach Spezialisten eine erhebliche Rolle.

Margaret Miller und Tonio Hölscher behandeln „Wealth and Social Identity, East and West: Between Cultural Anthropology and Political Ideology“ (S. 367–420). Im Perserreich, so Miller, spielte Reichtum eine entscheidende Rolle hinsichtlich der gesellschaftlichen Stellung, weil dieser der Gunstbezeugung und Betonung hierarchischer Unterschiede diente. Üppigkeit sei ein literarisches Element zur negativen Zeichnung der Perser, aber „for the Persian world, ‚luxury‘ is itself an inappropriate concept“ (S. 388). Laut Hölscher führten in Athen die Perserkriege zu einem veränderten Umgang mit Reichtum und Luxus, indem jetzt das Ideal bescheidener Lebensführung gegolten habe; erst ab 430 v.Chr. lasse sich ein deutlicher Wandel ausmachen. Dieses Bild dürfe nicht auf stereotypisierende Quellen zurückgeführt werden. Auf Vasenbilder dominierten bis 450 Darstellungen, bei denen Griechen heroisch kämpfende Perser besiegten, während anschließend Szenen mit betrunkenen Orientalen oder opfernde Perser und auch der Großkönig, oft mit seinen Frauen, dargestellt wurden, wodurch die Perser den Griechen angeglichen wurden.

Weitere Kapitel beschäftigen sich mit den städtischen Schutzgöttern in Griechenland und Phönikien (Vinciane Pirenne-Delforge und Corinne Bonnet: „Les dieux et la cité: Représentations des divinités tutélaires entre Grèce et Phénicie“, S. 201–228) sowie den Palastanlagen in Griechenland und im Orient (Florian Knauß und Torsten Mattern: „Orientalische und griechische Paläste: Eine Strukturanalyse“, S. 421–464). Beschlossen wird der Band durch Josef Wiesehöfers „Methodische Überlegungen zu ‚Orient-Okzident-Beziehungen‘ in der Antike“ (S. 485–507), der nicht nur den Bogen von den dargebotenen Themen bis zur Vereinnahmung der Achämeniden im kulturellen Gedächtnis des Iran der 1960er Jahre spannt, sondern eindringlich zum Überwinden der etablierten Fachgrenzen aufruft.4

Die Konzeption des Bandes ist durch die Gegenüberstellung der Perspektive West-Ost ungewöhnlich und inspirierend, da sie zur direkten Auseinandersetzung mit der Problematik zwingt. Dadurch erweist sich der Ost-West-Gegensatz als oft nur modernes Konstrukt, das in den Quellen wenig Rückhalt findet, auch weil kein persisches Gegengewicht existiert. Das breite Spektrum der abgedeckten Phänomene gibt dem Band beinahe Handbuchcharakter und kann allen an den Beziehungen zwischen Griechenland und dem Orient Interessierten nur zur Lektüre empfohlen werden.

Anmerkungen:
1 Dazu jetzt auch Mark Garrison, By the Favor of Auramazdā: Kingship and the Divine in the Early Achaemenid Period, in: Panagiotis P. Iossif / Andrzej S. Chankowski / Catherine C. Lorber (Hrsg.), More than Men, Less than Gods. Studies on Royal Cult, Leuven 2011, S. 15–105.
2 Zu ergänzen wäre noch Stanley M. Burstein, An Egyptian Source of Tacitus’ Sarapis Narrative (Historiae 4.84), in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 183 (2012), S. 37–38.
3 So Dieter Kessler, Das hellenistische Serapeum in Alexandria und Ägypten in ägyptologischer Sicht, in: Manfred Görg / Günther Hölbl (Hrsg.), Ägypten und der östliche Mittelmeerraum im 1. Jahrtausend v. Chr. Akten des Interdisziplinären Symposions am Institut für Ägyptologie der Universität München 25.–27.10.1996, Wiesbaden 2000, S. 163–230, bes. 166–192 (Zitat S. 224).
4 Für eine deutliche Beschränkung der Alten Geschichte dagegen Dieter Timpe, Der Mythos vom Mittelmeerraum: Über die Grenzen der alten Welt, in: Chiron 34 (2004), S. 3–23.

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