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Titel
Der Titokult. Charismatische Herrschaft im sozialistischen Jugoslawien


Autor(en)
Halder, Marc
Reihe
Südosteuropäische Arbeiten 149
Erschienen
München 2013: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arno Trültzsch, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig

Einer der großen charismatischen Politiker des 20. Jahrhunderts war Josip Broz, genannt Tito. Es ist beileibe kein neues Thema, wie aus dem Sohn slowenisch-kroatischer Eltern, einem Schlosser, k.u.k.-Kriegsveteranen und mittleren kommunistischen Pateifunktionär der weltberühmte und im Nachgang so umstrittene Staatsmann, schlichtweg das Symbol des zweiten Jugoslawiens wurde (vgl. S. 133). Warum also noch ein Buch über Tito? Populäre Publikationen zur „Titomanija“ bzw. zur Jugonostalgie gibt es schließlich schon zur Genüge.1

Diese Frage beantwortet Marc Halder souverän durch seinen Zugang zum Thema, der die Schwächen des bisherigen Schrifttums über die Person und die Wirkung Titos aufzeigt: diese sind entweder Produkt des Personenkultes selbst, vor allem die jugoslawischen Publikationen während bzw. unmittelbar nach Titos Herrschaft, oder sind als kritische Abrechnung mit dem Herrscher bzw. der Symbolfigur Titos angelegt, um diese zu dekonstruieren oder zu zerstören. Dazwischen gibt es wenig, vor allem jenseits des postjugoslawischen Diskurses. Gerade dafür steht aber die sachliche und methodische Analyse des Kultes um die zentrale Herrscherfigur des zweiten Jugoslawiens, die Halder als Buchfassung seiner Dissertation veröffentlicht hat. Die Inklusion bereits bestehender Publikationen zum Titokult nach 1991 erhöht dabei den Reiz der Arbeit, denn Halder bricht an diesem Punkt aus seiner genauen, aber teilweise vorhersehbaren Untersuchung der Titoschen „Charisma-Konjunkturzyklen“ aus. Diese Zyklen belegt er wiederum mit einer Vielzahl von Medien und Ritualen um die Person Josip Broz: Parteiversammlungen, Flugblätter, Lieder, Massenfeste, Reden, Briefe, Patenschaftsurkunden und Präsidialbesuche.

Einleitend stellt der Autor Max Webers Theorie der charismatischen Herrschaft vor, die er immer wieder aufgreift, um bestimmte Momente der Regierungszeit Titos zu charakterisieren. Darüber hinaus schließt der Autor Aspekte wie Mythologisierung, die mediale Vermittlung (Symbolisierung und Visualisierung) des Personenkultes mit ein. Als weitere Forschungsfrage wird außerdem die Kategorie „politische Religion“ hinzugenommen (S. 28), die einen weitergehenden Vergleich mit anderen Personenkulten ermöglicht, vor allem dem Stalinkult und dessen Vorbildcharakter. Ein aufmerksamer Leser kann nach gewisser Zeit an den angeführten Beispielen erkennen, um welche Phase der charismatischen Herrschaft und des Personenkults es sich handelt, ohne dass es dieser Feststellung noch einmal bedürfte. Hier kann man Halder unterstellen, bisweilen in eine funktionalistische Argumentation zu verfallen, die er selbst in bereits bestehenden Arbeiten zum Titokult kritisiert (vgl. S. 34).

Souverän wendet der Autor seine theoretischen Überlegungen dann im zweiten Kapitel an, indem er die Biographie und das politische Leben Titos den Weberschen Phasen zuordnet, und dies mit Zitaten und Rückgriffen auf historische Dokumente, Zeitungsartikel und Biographien belegt. Dabei hebt er sich von den bereits bekannten, durch die offiziöse Biographik des Regimes etablierten Darstellungen ab, zum Beispiel weil er sich eingehend der „Charismatisierung“ Titos vom kommunistischen Funktionär im Untergrund bzw. im sowjetischen Exil zum uneingeschränkten Partisanenführer widmet. Damit erklärt sich Titos schneller Aufstieg zum Staatsmann und schließlich Präsidenten Jugoslawiens, was oft unhinterfragt als Faktum hingenommen wird. Die in Filmen und Publikationen schließlich ausgeschmückten und popularisierten Bewährungsmomente in den Schlachten gegen die Wehrmacht bezeichnet Halder als Schlüsselmomente der Charisma-Entstehung, die Titos Aufstieg begründeten. Interessanterweise hat Halder auch die rasant anwachsende Verehrung des Partisanenführers, der die Quelle des staatlich gelenkten Personenkults werden sollte, in den Blick genommen. Dabei erwähnt er auch den Stalinkult, der in den Reihen der Partisanen und in ihren Publikationen zu Beginn vorherrschte und Vorbild des Titokultes wurde. Gegen Ende des Krieges stand dann Tito immer stärker im Vordergrund der Verehrung und Hoffnungsbezeugungen. Für die Nachkriegszeit beschreibt Halder umfassend, wie der Kult staatstragend und Teil des öffentlichen Lebens und Alltagshandeln wurde. Kontrastierend stellt er die ersten Bewährungsmomente dar, von denen der Bruch mit Stalin für Tito einen Wandel bzw. Erweiterung seiner charismatischen Rolle bedeutete: die jugoslawischen Kommunisten mussten sich vom sowjetischen Vorbild und dessen außenpolitischer Orientierung lösen, das heißt symbolisch auch vom Stalinkult. Am Ende dieser Entwicklung standen die Idee der Arbeiterselbstverwaltung und Blockfreiheit; für Tito persönlich erfolgte in dieser Zeit der Bewährung die Aufwertung zum Präsidenten (neue Verfassung 1953). Auf der anderen Seite festigte er seine Herrschaft mit diktatorischen Mitteln und ließ die Partei von Stalinisten bzw. Abweichlern „säubern“. Berühmtestes Beispiel war Milovan Đilas, der mit seinen späteren Schriften den Tito-Kult und den darauf aufbauenden klientelistischen Verwaltungsstab massiv kritisierte. Der Kult um den Staats- und Parteichef wurde in der Folgezeit durch den Bundesexekutivrat und das Präsidialamt (maršalat) institutionalisiert: Die Verwendung von Titos Name und Werk stand fortan unter staatlichem Genehmigungsvorbehalt und wurde gesetzlich geregelt. Seine Reisediplomatie und sein Eintreten für die jungen Staaten Asiens und Afrikas im Rahmen der Blockfreienbewegung sicherten sein Prestige und die Legitimität seiner Ein-Parteien-Herrschaft ab. Die somit gestärkte Legitimität durch außenpolitische Erfolge, die Jugoslawiens Rolle und Ansehen in der Welt nachweisbar förderten, hatte natürlich Einfluss auf den innerethnischen Zusammenhalt. Diesen Nexus zwischen Titokult, Außenpolitik und Zunahme einer gesamtjugoslawischen Identität, die statistisch bis in die späten 1980er-Jahre nachvollziehbar ist2, spart Halder jedoch bewusst aus (vgl. S. 107). Dennoch zeichnet er den Titokult plausibel und kongruent nach, wobei der Staatsmann neuerliche Bewährungsmomente wie die Studentenproteste 1968 und den „kroatischen Frühling“ 1971 souverän überstand. Die letzten Jahre Titos waren dann von einem ritualisierten und zu festen Formen erstarrten Personenkult geprägt, die politisch von einer ideologischen Eiszeit und der beginnenden Wirtschaftskrise bestimmt wurde. Auf Titos Tod und dessen Nachwirkungen nimmt Halder schon in der Einleitung Bezug und endet das zweite Kapitel nur mit den faktischen Umständen zu seinem Ableben.

Der dritte Teil zeigt wiederum, wie genau und vielseitig Halder gearbeitet hat, um die „Dimensionen der charismatischen Kommunikation“ (S. 137) zu analysieren. Die verschiedenen Medien als Kanäle dieser Kommunikation stellen eindrücklich den allumfassenden Charakter des Kultes heraus. Jede mediale Form wird einzeln untersucht und zeitlich zugeordnet. Dabei werden immer wieder Brüche und Widersprüche offenbar. Während das Liedgut zu Tito und dem Partisanenkampf immer affirmativ und heroisch, ja fast kitschig-pathetisch angelegt war, so zeigen vor allem die Filme verschiedene Seiten Titos, die zwischen übermenschlichem Heroismus und alltäglicher Darstellung variieren (S. 153ff.). Halder geht auch auf die Vielzahl von Dokumentationen und Berichten ein, die sich als Teil des Personenkultes etablierten und das Bild Jugoslawiens und seines Herrschers im In- und Ausland nachhaltig prägten. Ähnlich differenziert und fundiert analysiert Halder die anderen Kommunikationsformen wie Schulbücher, Briefe, Schriften bzw. offizielle Biographien. Die vom jugoslawischen Königshaus übernommene „Volkstradition“ der Patenschaften für kinderreiche Familien steht dabei in der Kontinuität monarchischer Herrschaftslegitimation im Sozialismus.

Der vierte Teil widmet sich eingehend den Besuchen, Gedenkveranstaltungen und Massenfesten zu Ehren Titos und des Partisanenkampfes, die sich vor allem an den Symboldaten 1. Mai (Tag der Arbeit) und 25. Mai (offizieller Geburtstag des Präsidenten, später „Tag der Jugend“) festmachen lassen.

Wirklich eindrücklich ist jedoch das fünfte Kapitel, das sich mit dem Schwinden des Charismas trotz fortgesetzten Personenkults befasst. Am Beispiel Serbiens zeichnet der Autor die Verdrängung Titos aus Herrschaftslegitimation und Alltag nach und zieht gekonnt Vergleiche zum „zweiten“ bzw. „Anti-Tito“ Slobodan Milošević, der den serbischen Nationalismus für seine Zwecke zu nutzen wusste. Als durchaus gelungen muss auch Halders Diskussion im sechsten und siebten Teil bezeichnet werden, die den unterschiedlichen Umgang mit Titos Erbe und Persönlichkeit in den wichtigsten Nachfolgestaaten Jugoslawiens beleuchtet und bewertet, wobei sich im Laufe der Jahre eine vermehrte Historisierung bemerkbar macht, die zu einem zarten „erinnerungspolitischen Frieden“ geführt hat. Auch die Tito-Nostalgie zwischen Kommerzkitsch und echter Verehrung im Sinne eines fortgesetzten Kultes wird in der Folge behandelt. Halder gibt zu bedenken, dass diese Nostalgie zwar als Teil der allgemeinen Jugo-Nostalgie fungiert, in manchen Fällen allerdings losgelöst von der „Sehnsucht“ nach Jugoslawien existiert (S. 293). Im siebten Teil schlägt Halder dann den Bogen zu verschiedenen Begleitaspekten des Kultes, die seine Rolle bei der Entstehung und dem Niedergang einer jugoslawischen sprachlichen, politischen und kulturellen Identität jedoch nur andeuten.

Der informative Anhang zu Titos Staatsbesuchen als außenpolitische Dimension seiner charismatischen Herrschaft rundet die umfangreiche Untersuchung Halders ab. Kleine Eintrübungen sind zum Beispiel die teilweise sehr freien und ungenauen Liedtextübersetzungen3 oder die mehrfachen Verweise auf Forschungsdesiderata (zum Beispiel den Titokult in Printmedien und Rundfunk), deren Bearbeitung man vom Buchtitel her durchaus erwartet hätte. Marc Halder hat eine wegweisende Untersuchung vorgelegt, die bisherige Forschungsstränge zusammenfasst und ein weites, wenn auch nicht abschließendes Bild vom Personenkult um Josip Broz Tito und seiner Herrschaft zeichnet.

Anmerkungen:
1 Vgl. prominent Iris Adrić (Hrsg.), Leksikon YU Mitologije, 2. Aufl., Beograd 2005.
2 Vgl. Dejan Jović, Yugoslavia. A state that withered away, West Lafayette 2009, S. 40, Fn. 12.
3 Dabei sind durchaus inhaltliche Fehler entstanden; so bezieht sich „Ide Tito preko Romanije“ nicht, wie Halder übersetzt, auf einen imaginären Marsch Titos durch Rumänien (serbisch „Rumunija“ bzw. kroatisch „Rumunjska“). Im Lied ist vielmehr die ostbosnische Landschaft Romanija gemeint.

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