H. Borggräfe: Zwangsarbeiterentschädigung

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Titel
Zwangsarbeiterentschädigung. Vom Streit um »vergessene Opfer« zur Selbstaussöhnung der Deutschen


Autor(en)
Borggräfe, Henning
Reihe
Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 16
Erschienen
Göttingen 2014: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
562 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Fritsche, Düsseldorf

Über Jahrzehnte hinweg waren NS-Zwangsarbeiter (im Folgenden sind stets Frauen und Männer gemeint) eine „vergessene Opfergruppe“, die durch das Raster der bundesdeutschen Entschädigung fiel. Erst ab den 1980er-Jahren setzte in der Bundesrepublik eine breitere gesellschaftliche Debatte um die Geschichte und die Biographien der ehemaligen Zwangsarbeiter ein. In den 1990er-Jahren drohten jüdische Organisationen deutschen und internationalen Unternehmen mit Sammelklagen. Vor diesem Hintergrund entstand im Jahr 2000 die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ), deren Vermögen in Höhe von 10 Mrd. DM je zur Hälfte die deutsche Bundesregierung und – nach schleppendem Beginn – deutsche Unternehmen zur Verfügung stellten. Insgesamt zahlte die Stiftung EVZ rund 4,3 Mrd. Euro an knapp 1,66 Mio. Antragsteller aus 98 Staaten. Den langen Weg von ersten Forderungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zum Start der Entschädigungszahlungen im Sommer 2001 zeichnet nun Henning Borggräfe in seiner 2014 veröffentlichten Dissertation nach.

Die Studie knüpft an das inzwischen reich bestellte Forschungsfeld zu „Transnational Justice“ und „Reconciliation“ an, hier vor allem an die zeithistorische Forschung zur westdeutschen „Wiedergutmachung“. Das letztere Themenfeld boomt seit Ende der 1990er-Jahre und hat sich inzwischen neben Studien zur ideellen und justiziellen „Vergangenheitsbewältigung“ fest etabliert. Dabei untersuchen aktuelle Arbeiten in erster Linie die „Praxis der Wiedergutmachung“1, also die konkrete Umsetzung der Entschädigung. So erforschte ein internationales Projekt an der Ruhr-Universität Bochum, in dessen Kontext auch Borggräfes Studie entstand, die Geschichte der Stiftung EVZ und ihrer Partnerorganisationen.2 Darüber hinaus übernimmt der Autor Erkenntnisse aus der Historiographiegeschichte, die geschichtswissenschaftliche Forschungen im Kontext von Politik und Gesellschaft untersucht. Methodisch schließt die Studie äußerst überzeugend an John Torpeys Terminus „politisches Feld“ an und greift Volker Schneiders Schlüsselbegriff des „Konfliktnetzwerks“ für die Beschreibung der Akteurskonstellationen bei der Zwangsarbeiterentschädigung auf.3 Dieses Konfliktnetzwerk umfasst alle Akteure, die in irgendeiner Form an der Auseinandersetzung beteiligt waren: sowohl Opferorganisationen und Entschädigungsaktivisten, die „Wiedergutmachung“ für ehemalige Zwangsarbeiter forderten, als auch Vertreter der deutschen Wirtschaft und der deutschen Regierung sowie Historiker, die als Experten in die Diskussion einbezogen wurden. Für seine Arbeit konnte Borggräfe auf einen reichhaltigen Quellenkorpus zurückgreifen: So basiert die Studie auf Archivmaterial des Bundesfinanzministeriums und der Stiftung EVZ, aber auch auf Unterlagen von Organisationen wie der Conference on Jewish Material Claims Against Germany (JCC) und dem Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte (IBNS).

Borggräfe sieht die Auseinandersetzung mit der NS-Zwangsarbeit als „integrale[n] Bestandteil der Entwicklung des Verhältnisses der deutschen Gesellschaft zur NS-Vergangenheit, mithin als Teil der Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik“ (S. 12). Er geht davon aus, dass das Bild der verhandelten Geschichte, die Definition der Ansprüche und die Mechanismen der Anspruchsabgeltung erst geschaffen werden mussten und sich im Laufe der Jahre signifikant änderten. Konkret untersucht Borggräfe drei zentrale Felder: erstens Veränderungen in der Interessenvertretung der ehemaligen NS-Zwangsarbeiter, zweitens Historiker als politische Akteure und die Entwicklung der historischen Forschung sowie drittens entschädigungspolitische Akteurskonstellationen und Machtverhältnisse, verbunden mit dem diskursiven Wandel und dem materiellen Transfer. Angesichts dieses akteurszentrierten Zugangs und weil außerdem die Zahl allein an deutschen Presseartikeln zur Zwangsarbeiterentschädigung schier unüberschaubar ist, geht Borggräfe auf die Mediengeschichte der Zwangsarbeiterentschädigung nur am Rande ein – eine nachvollziehbare inhaltliche Einschränkung, auch wenn die mediale Aufladung des Themas für die Durchsetzung der Entschädigungen nicht unwichtig war. Weniger einleuchtend ist der Verzicht auf eine zumindest kursorische Darstellung der NS-Zwangsarbeit nach heutigem Forschungsstand. Der Autor begründet dies damit, dass er kein „Interpretationsraster“ habe vorgeben wollen, sondern „das zeitgenössische Verständnis in seiner Entwicklung“ herausarbeiten wollte (S. 27). Freilich umfasst der Begriff der NS-Zwangsarbeit höchst heterogene Menschengruppen, angefangen von KZ-Häftlingen bis hin zu nach Deutschland verschleppten ausländischen Zivilisten, deren Status sich im „Dritten Reich“ erheblich voneinander unterschied. Daher hätte man sich zumindest eine kurze Erläuterung des Begriffs Zwangsarbeiter zu Beginn des Buchs gewünscht. Abgesehen davon wäre eine solche Skizze der historischen Hintergründe auch hilfreich gewesen, um die Positionen der Verfolgtenorganisationen besser verstehen zu können.

Der Schwerpunkt der Studie liegt auf der Zeit ab 1979. Anders als die bisherige Wiedergutmachungsforschung begreift Borggräfe diese Jahre nicht als „Appendix“ zur unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern als „neue Phase der Wiedergutmachungsgeschichte […], in der sich zunächst inner- und später auch außerhalb der Bundesrepublik die politischen Koordinaten fundamental veränderten“ (S. 16). Die insgesamt acht Kapitel des Buches orientieren sich an den zentralen Zäsuren der Zwangsarbeiterentschädigung: der Neuthematisierung ab 1979, der Diskussion um eine Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter ab 1989 als Teil einer breiteren Debatte um bislang nicht entschädigte NS-Opfer vor allem in Ost- und Ostmitteleuropa sowie den ab 1999 beginnenden Verhandlungen über Entschädigungszahlungen. Die Kapitel gliedern sich in jeweils drei Abschnitte zur Entwicklung der Repräsentation und Vertretung der NS-Verfolgten, zu Historikern und der jeweiligen Forschungslage sowie zum diskursiven Wandel und materiellen Transfer. Damit kann die Studie auch jenseits der chronologischen Darstellung quer gelesen werden.

Im Kapitel I skizziert der Autor die unmittelbare Nachkriegszeit, als ehemalige NS-Zwangsarbeiter vor Gericht gegen deutsche Konzerne vorgingen und gleichzeitig vergeblich dafür stritten, dass Zwangsarbeit als NS-Unrecht im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes anerkannt werden solle. Die Kapitel II und III widmen sich der Neuformulierung der Entschädigungsfrage ab 1979. Im Kontext der in diesem Jahr erstmals in der Bundesrepublik ausgestrahlten Serie „Holocaust“ und des Buchs „Less than Slaves“ von Benjamin B. Ferencz4 begann eine neue Phase der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Schüler und Gedenkstättenaktivisten hielten vor Ort als lokale „Erinnerungsarbeiter“, wie sie „Der Spiegel“ nannte (zit. auf S. 102), die Erlebnisse von Zeitzeugen fest, und der Bundestag befasste sich erstmals mit „vergessenen Opfern“ wie NS-Zwangsarbeitern oder Zwangssterilisierten. Vor diesem Hintergrund leisteten einzelne Unternehmen wie die Deutsche Bank oder Daimler Benz Entschädigung an ehemalige Zwangsarbeiter, wobei sie stets betonten, dass dies eine freiwillige Geste und nicht die Folge eines Rechtsanspruchs sei.

Im Kapitel IV beleuchtet Borggräfe den Zusammenbruch des Ostblocks als „Wendepunkt“ (S. 192) für die Zwangsarbeiterentschädigung, die nun mit den Forderungen aus Polen und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion eine neue außenpolitische Dimension bekam. In den 1990er-Jahren brachten, wie Kapitel V eindrücklich vor Augen führt, drohende Sammelklagen aus den USA gegen deutsche Unternehmen den „politischen Durchbruch“ (S. 492); daneben griffen nun auch die Medien das Thema verstärkt auf. Kapitel VI betrachtet die Verhandlungen zwischen Vertretern der Bundesregierung und der US-Regierung sowie Repräsentanten osteuropäischer und jüdischer Opfer und der deutschen Wirtschaft in den Jahren 1999/2000 über die Errichtung der Stiftung EVZ, die Auszahlung der Gelder und die Rechtssicherheit für deutsche Firmen. Spätestens jetzt sei „die Auseinandersetzung um Zwangsarbeit […] zu einem zentralen Teil der Selbstverständigung der Deutschen über die NS-Vergangenheit“ geworden (S. 315). Freilich vergingen bis zur Auszahlung der ersten Gelder und der Abweisung der letzten Sammelklagen vor US-Gerichten noch Monate, die, wie Borggräfe in Kapitel VII ausführt, von der schleppenden Einzahlung der Stiftungsgelder durch deutsche Unternehmen und der Etablierung zahlreicher regionaler Hilfs- und Gedenkinitiativen in der Bundesrepublik gekennzeichnet waren. Die konkrete Arbeit der Stiftung und ihre Folgen stellt der Autor schließlich in Kapitel VIII vor. Die Auszahlungen der Stiftung EVZ, so Borggräfes Fazit, leisteten „ein[en] wichtige[n] Beitrag zu einer Selbstaussöhnung der Deutschen“ (S. 514). Schließlich hätten nun trotz nicht gelöster Probleme wie etwa des Ausschlusses ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener von den Zahlungen die jahrzehntelange innerdeutsche Debatte um die Zwangsarbeiterentschädigung, ja der gesamte deutsche Streit um die NS-Vergangenheit ihr „Konfliktpotential“ verloren (S. 518).

Henning Borggräfe hat eine fundiert recherchierte, klar strukturierte und eingängig geschriebene Studie zu einem wichtigen Aspekt der westdeutschen „Wiedergutmachung“ vorgelegt. Er schildert die jahrzehntelange Auseinandersetzung um die Zwangsarbeiterentschädigung überzeugend und aus einer gewinnbringenden Perspektive als Teil der deutschen Gesellschaftsgeschichte.

Anmerkungen:
1 Vgl. den gleichnamigen Sammelband: Norbert Frei / José Brunner / Constantin Goschler (Hrsg.), Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirklichkeit in Deutschland und Israel, Göttingen 2009. Vgl. auch Julia Volmer-Naumann, „Betrifft: Wiedergutmachung“. Entschädigung als Verwaltungsakt am Beispiel Nordrhein-Westfalen, sowie Marlene Klatt, Die Entschädigungspraxis im Regierungsbezirk Arnsberg und die Reaktionen jüdischer Verfolgter, beide in: Christiane Fritsche / Johannes Paulmann (Hrsg.), „Arisierung“ und „Wiedergutmachung“ in deutschen Städten, Köln 2014, S. 335–362 bzw. S. 363–386.
2 Zu dem vierbändigen Werk steuerte Henning Borggräfe einen historischen Abriss der Zwangsarbeiterentschädigung bei; vgl. Ders., Die lange Nachgeschichte der NS-Zwangsarbeit. Akteure, Deutungen und Ergebnisse im Streit um Entschädigung, 1945–2000, in: Constantin Goschler (Hrsg.), Die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit am Anfang des 21. Jahrhunderts, Bd. 1: Die Stiftung. Der Abschluss der deutschen Wiedergutmachung?, Göttingen 2012, S. 62–147. Vgl. auch die Rezension von Regula Ludi, in: H-Soz-u-Kult, 17.04.2013, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-2-045> (24.07.2014).
3 Vgl. John Torpey, Making Whole What Has Been Smashed. On Reparations Politics, Cambridge 2006, und Volker Schneider, Die Analyse politischer Netzwerke. Konturen eines expandierenden Forschungsfeldes, in: ders. u.a. (Hrsg.), Politiknetzwerke. Modelle, Anwendungen, Visualisierungen, Wiesbaden 2009, S. 7–27. Vgl. zu Torpeys Buch auch die Rezension von Jürgen Lillteicher, in: H-Soz-u-Kult, 27.11.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-156> (24.07.2014).
4 Benjamin B. Ferencz, Less than Slaves. Jewish Forced Labor and the Quest for Compensation, Cambridge 1979, Reprint Bloomington 2002; deutsch: Lohn des Grauens. Die verweigerte Entschädigung für jüdische Zwangsarbeiter. Ein Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte, Frankfurt am Main 1981 (mit dem leicht veränderten Untertitel „Die Entschädigung jüdischer Zwangsarbeiter – ein offenes Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte“ 1986 erneut veröffentlicht). Der amerikanische Jurist Ferencz (geb. 1920) war bereits an den Nürnberger Prozessen und an den deutsch-israelischen Wiedergutmachungsverhandlungen beteiligt gewesen, siehe <http://www.benferencz.org> (24.07.2014).