G. Melville u.a. (Hrsg.): Gerechtigkeit

Cover
Titel
Gerechtigkeit.


Herausgeber
Melville, Gert; Vogt-Spira, Gregor; Breitenstein, Mirko
Reihe
Europäische Grundbegriffe im Wandel. Verlangen nach Vollkommenheit 1
Erschienen
Köln 2014: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
270 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hermann-Josef Große Kracht, Institut für Theologie und Sozialethik, Technische Universität Darmstadt

Dieser Band eröffnet eine neue, auf sechs Titel angelegte Reihe, in der es neben Gerechtigkeit um Sorge, Freiheit, Erkenntnis, Schönheit und Glückseligkeit gehen soll. Die Reihe steht unter dem Titel „Europäische Grundbegriffe im Wandel. Verlangen nach Vollkommenheit“, wobei der Untertitel zunächst ebenso merkwürdig anmutet wie einige der angekündigten „Grundbegriffe“. Während Freiheit und Gerechtigkeit selbstverständlich wirken, dürfte vor allem die Glückseligkeit überraschen. Aber auch Schönheit und Erkenntnis hätte man nicht unbedingt erwartet.

Neugierig geworden, schlägt der Rezensent das knappe „Vorwort zur Reihe“ auf (S. 7–10). Allerdings erfährt er auch hier nicht, warum gerade die genannten sechs Grundbegriffe ausgewählt wurden. Dafür liest er gleich im ersten Satz, dass die europäische Kultur „durch ein kontinuierliches Verlangen nach Vollkommenheit“ gekennzeichnet sei, dem die Vorstellung zugrunde liege, „dass es prinzipiell optimale Ausformungen des individuellen und sozialen Lebens gebe und dass man im durchaus imperativen Sinne danach zu streben habe, diese zu verwirklichen“, auch wenn sie als solche unerreichbar seien (S. 7). Die ausgewählten Grundbegriffe stellten nun „fünf Weisen des Strebens nach Vollkommenheit“ dar, für die gelte: „Sie münden – systematisch gesehen – ein in das Verlangen nach (ebenso unerreichbarer) vollkommener Harmonie jedes Einzelnen mit sich und seiner Umwelt – einer Harmonie, die mit Glückseligkeit umschrieben werden kann“ (S. 8f.). Und zu dieser heißt es dann mirakulös: „Das Verlangen nach Glückseligkeit transzendiert dabei die gesellschaftliche Ordnung hin zu einem Optimum, welches als dessen Konkretisierung gedacht wird.“ (S. 9) Man kratzt sich am Kopf: Wie kann ein Optimum eine gesellschaftliche Ordnung ‚konkretisieren‘? Oder ‚konkretisiert‘ es das Verlangen nach Glückseligkeit? Und was eigentlich soll das sein, dieses ‚Optimum‘? Hier bleibt der Rezensent restlos ratlos – und fragt sich, was ihm eine solche Publikationsreihe eigentlich sagen will. Vielleicht, dass früher alles besser gewesen sei in Sachen Harmonie und Glückseligkeit – und Europas gute Zeiten mit den Durchbrüchen zur Moderne untergegangen seien? Aber dieser Verdacht wird bei der Lektüre dieses durchaus gelungenen Bandes keineswegs bestätigt, denn die einzelnen Aufsätze sind vom Tenor des „Vorworts zur Reihe“ weitgehend unberührt.

Das Buch widmet sich in eigenen Abschnitten den Epochen Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit, Aufklärung und Moderne, die jeweils separat eingeleitet werden, wobei diese Einleitungen nur im Falle der Frühen Neuzeit von einem der Herausgeber stammen. Nach welchen Kriterien die Auswahl der Autoren (Autorinnen gibt es nicht) erfolgte und warum ausgewiesene Experten an diesem Band nur als Verfasser knapper Einleitungen beteiligt sind, bleibt unklar.

Den Abschnitt über die Antike, eingeleitet vom Kölner Althistoriker Karl-Joachim Hölkeskamp, eröffnet der Marburger Philologe Arbogast Schmitt mit einer Würdigung des platonischen Gerechtigkeitsbegriffs. Diesem gehe es um dasjenige, was der je einzelne Mensch „in der ihm möglichen Vollendung am besten kann“. Für Platon bereite „gerade die Verwirklichung dieses ‚Könnens‘ die höchste Lust“ (S. 33). Im Anschluss daran erläutert der Marburger Philologe Gregor Vogt-Spira den römischen Gerechtigkeitsdiskurs und Ulpians berühmte Formel vom ‚suum cuique tribuere‘ (jedem das Seine gewähren), die sich vor allem in den Verhaltensregeln des ‚honeste vivere‘ und des ‚alium non laedere‘ artikuliere (ehrenhaft leben, den Anderen nicht schädigen) und Gerechtigkeit als Tugend individueller Lebensführung ausweise. Der Dresdener Althistoriker Martin Jehne wirft ergänzend einen Blick auf die politische Praxis der römischen Republik, in der zeitweilig subventioniertes Getreide angeboten wurde. Das Ziel dieser Form einer frühen Verteilungsgerechtigkeit sei allerdings keine konkrete Hilfe für Notleidende gewesen. Vielmehr „ging die gleiche Zuteilung an alle, die bereit waren, sich zum richtigen Zeitpunkt anzustellen“ (S. 68); „der formale Ausschluss der Reichen vom Empfang von Getreide zu subventionierten Preisen war keine Option“. Die Politik hatte „für die angemessene Zuweisung von Ehre und Rang zu sorgen, nicht aber die Verpflichtung, bei materieller Bedürftigkeit von Bürgern zu reagieren“ (S. 69).

Der von Roberto Lambertini (Università di Mazerata) eingeleitete Mittelalter-Abschnitt beginnt mit einem Beitrag von Mirko Breitenstein von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften (Leipzig), der die „Spezifik von Gerechtigkeit im vom Christentum geprägten lateinischen Mittelalter“ (S. 81) nachzeichnet. Ein Fehlen von Gerechtigkeit sei hier „nicht mehr schlicht als ein Mangel an Tugend begriffen [worden], sondern als Ausdruck eines Verstoßes gegen göttliche Gebote und mithin als Sünde“ (S. 82). Der neuen Leitidee des ‚bonum commune‘ zufolge hatten sich nun auch die Herrscher am „überindividuellen Prinzip“ (S. 87) des Gemeinwohls zu orientieren. Im Anschluss daran macht der Heidelberger Mediävist Bernd Schneidmüller darauf aufmerksam, dass die Gerechtigkeit im mittelalterlichen Denken stets als in göttlicher Transzendenz verankerter Singular konzipiert worden sei, während in der politischen Praxis „flexible Verfahrensformen“ vorherrschten, in denen sich die Vorgaben dieses Singulars zumeist „pragmatisch verformten“ (S. 107).

Das von Mirko Breitenstein eingeleitete Kapitel zur Frühen Neuzeit eröffnet der Berliner Philologe Bernhard Huss, für den sich diese Epoche als „Austragungsort von Verhandlungen zwischen vorwiegend, manchmal ausschließlich weltlich gerichteten Konzepten der Gerechtigkeit einerseits und andererseits Versuchen einer neuartigen metaphysischen Dogmatisierung des Gerechtigkeitsbegriffs“ (S. 119) darstellt. Der lombardische Mediävist Giancarlo Andenna (Mailand / Brescia) konkretisiert dies am Beispiel von norditalienischen Schiedssprüchen in wirtschaftlich-sozialen Streitigkeiten, die sich vor allem an der Notwendigkeit orientierten, „auf schnelle Art und Weise komplexe politische und finanzielle Probleme“ zu lösen (S. 148).

Der Abschnitt zur Aufklärungsepoche, eingeleitet durch Georg Kohler von der Universität Zürich, beginnt mit einem Überblicksartikel von Edoardo Tortarolo (Università Amedeo Avogadro, Vercelli), der aufzeigt, wie sehr die Gerechtigkeit nun „über die Grenzen der juristischen Lehre, der fürstlichen Höfe und der Religion hinaus ein Thema der öffentlichen Debatte, der Verbreitung einer neuen Gesellschaftsvorstellung wurde“ (S. 163). Die ähnlich gelagerten, aber stärker auf Justiz und Rechtsprechung fokussierten Ausführungen des Berner Neuzeithistorikers Joachim Eibach machen darauf aufmerksam, wie sehr sich nun eine ‚formale Gerechtigkeit‘ durchzusetzen begann, denn „das Prinzip von Bitte und Gnade und die impliziten Möglichkeiten des Aushandelns [genügten] nicht mehr dem übergreifenden Ziel der Emanzipation der Gesellschaft“ (S. 187).

Im Moderne-Kapitel, das Friedrich Wilhelm Graf (Ludwig-Maximilians-Universität München) einleitet, stellt Hans Vorländer von der Technischen Universität Dresden zunächst neuere Gerechtigkeitstheorien in Philosophie und Rechtstheorie vor, wobei er neben John Rawls und Martha Nussbaum unter anderem auch auf die Debatte um ‚Global Justice‘ und auf Niklas Luhmanns Konzeption von Gerechtigkeit als ‚Kontingenzformel‘ im Rechtssystem eingeht. In Anschluss daran präsentiert Holger Lengfeld von der Universität Hamburg aktuelle Ergebnisse der empirischen Gerechtigkeitsforschung, denen zufolge sich in der bundesrepublikanischen Bevölkerung „die gesamte Struktur der Gerechtigkeitsvorstellungen verändert. Dies betrifft vor allem die Verdrängung von egalitären, an Ergebnisgleichheit orientierten Vorstellungen durch ein auf Chancengleichheit bezogenes Prinzip der Teilhabe“ (S. 224), das sich vor allem bei der jüngeren Generation nachweisen lasse. Etwas aus der Reihe fallen dann die Ausführungen von Gerhard Amend, dem Vorsitzenden Richter am Coburger Landgericht, der an das eher auf Rechtssicherheit als auf Gerechtigkeit ausgerichtete Anforderungsprofil des Richteramtes erinnert: „Der Richter hat die Berufspflicht, dem Willen des Gesetzgebers Geltung zu verschaffen. Er hat nicht zu fragen, was rechtens ist, und niemals, ob es auch gerecht sei.“ (S. 238) Amend konkretisiert dies an dem erstaunlichen Sachverhalt, dass Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz am Landgericht Coburg in der Regel deutlich härter bestraft werden als am Landgericht Meiningen – mit der Folge, dass Rauschgifthändler in der Region Coburg „einen Risikoaufschlag auf den Kaufpreis“ verlangen (S. 239).

Der Band wird abgeschlossen mit einem – zum Programm der Reihe gehörenden – Seitenblick auf einen außereuropäischen Kulturkreis, „der geeignet scheint, die europäische Entwicklungslinie deutlich zu akzentuieren“ (S. 10). Hier findet sich ein Beitrag des Göttinger Islamwissenschaftlers Tilman Nagel zur Gerechtigkeitstradition des Islam. Ob sich mit dem Instrument eines nachgeschobenen ‚exemplarischen Vergleichs‘ wirklich ein schärferer Blick auf ‚europäische Grundbegriffe im Wandel‘ gewinnen lässt oder ob dieses nicht eher dazu dienen soll, das gute alte Europa gegen bedrohlich-böse Fremdkulturen in Stellung zu bringen, kann dabei durchaus gefragt werden – zumal wenn der argentinische Philosoph Carlos Ruta (Universidad National de San Martín) in der Einleitung zu diesem Beitrag die steile These aufstellt, beim Islam handle es sich um eine Kultur, für die das „Streben nach Vollkommenheit prinzipiell unverständlich bleiben musste, da sie den Status der Vollkommenheit nach eigenen Verständnis bereits besaß“ (S. 247). Der Band mit seinen wertvollen Einzelbeiträgen hätte auf diesen Anhang gut verzichten können.