J. Schulte u. a. (Hrsg.): Widerstand und Auswärtiges Amt

Cover
Titel
Widerstand und Auswärtiges Amt. Diplomaten gegen Hitler


Herausgeber
Schulte, Jan Erik; Wala, Michael
Erschienen
München 2013: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 24,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Zinke, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die Essenz dieses Sammelbandes ist eindeutig: Im Auswärtigen Amt des „Dritten Reiches“ gab es Widerständler. Viele waren es nicht. Doch zur Nachkriegszeit und der jungen Bundesrepublik gehörte der Mythos, dass das deutsche Außenministerium während der NS-Herrschaft eine anständige Behörde geblieben, ja gar zum Kristallisationspunkt des Widerstands gegen Hitler geworden sei.

Das von Jan Erik Schulte und Michael Wala herausgegebene Buch geht zurück auf eine gleichnamige Tagung vom September 2011, die im Windschatten des über Fachkreise hinaus bekannten und zugleich äußerst kontrovers diskutierten Buches „Das Amt und die Vergangenheit“ stattgefunden hat.1 Der 2010 unter der Schirmherrschaft der Unabhängigen Historikerkommission aus Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann erschienene Bestseller sollte aufzeigen, inwieweit die Beamten des Auswärtigen Amts in die Expansions- und Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus verstrickt waren, diese möglicherweise mitgetragen oder gar vorsätzlich vollstreckt haben. Umstritten blieb in der publizistischen wie fachlichen Diskussion neben einer Vielzahl anderer Aspekte auch das Narrativ einer geschlossenen Opposition gegen Hitler aus den Reihen der Diplomatie – jene seit Kriegsende kolportierte „erste Geschichte“ des Auswärtigen Amts, wie es im Vorwort des Sammelbandes heißt, die der Selbstverortung und der Legitimation des politischen Selbstverständnisses der Diplomaten nach 1945 dienen konnte (S. 7). Der Sammelband mit überwiegend biographischem Zuschnitt folgt einem weit aufgestellten Widerstandsbegriff, dem die vielfältigen wie divergierenden Kategorien der historischen Widerstandsforschung aus Gegenarbeit, Resistenz, Eigensinn, innerer Emigration usw. untergeordnet werden. Damit begegnet er zum einen dem Vorwurf an den bereits genannten Kommissionsbericht, den Widerstand im Auswärtigen Amt schlichtweg vernachlässigt oder jedenfalls nicht ausreichend genug gewürdigt zu haben. Zum anderen verweist der Sammelband auf zeitgenössische Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich die Akteure der Wilhelmstraße bewegten, und verknüpft diese mit den „Kontinuitäten, Brüche[n] und Ambivalenzen in den individuellen Lebensläufen“ (S. 9).

Denn nur wenige Fälle sind so eindeutig wie der von Friedrich von Prittwitz und Gaffron, der seinen Posten als deutscher Botschafter in Washington bereits 1933 aus republikanischer Überzeugung zur Verfügung stellte. Wie Michael Wala in seinem Beitrag herauskristallisieren kann, unternahm Prittwitz diesen Schritt als bewusste Entscheidung gegen das neue Regime und in der Hoffnung, einen „passiven Widerstand der Botschafter durch gleichzeitige Demissionen zu organisieren“ (S. 29). Wie bekannt, verhallte das von Prittwitz gesendete Signal klanglos.

Es ist das Verdienst des Sammelbands, für die Einordnung der Akteure zum Widerstand gegen das NS-Regime eine Vielzahl von Grauschattierungen kenntlich zu machen und simple Reduzierungen zu vermeiden. Das gelingt paradigmatisch im Beitrag von Karsten Linne über den deutschen Geschäftsträger der Belgrader Gesandtschaft, Gerhart Feine, der 1941 mit Franz Rademacher korrespondierte – jenem Rademacher, der im Auswärtigen Amt als sogenannter „Judenreferent“ fungierte und seine Dienstreise nach Belgrad im Oktober 1941 mit dem Betreff: „Liquidation von Juden“ abrechnete. Feine muss also klar im Bilde gewesen sein über die von der NS-Führung anvisierte Jugoslawienpolitik und die damit verbundenen Deportationen der jüdischen Bevölkerung. Doch zugleich hatte Feine nach seiner Versetzung nach Budapest im März 1944 engen Kontakt zu dem Schweizer Vizekonsul Carl Lutz, der ausländischen Juden die Ausreise aus Ungarn zu ermöglichen versuchte. In den sogenannten „Schweizerhäusern“ am Donauufer waren dazu mehrere tausend Juden für ihre Ausreise nach Palästina untergebracht worden, obgleich Anhänger der ungarischen nationalsozialistischen Pfeilkreuzlerpartei immer wieder brutale Attacken gegen die Einwohner der Unterkünfte vornahmen. Nach Angaben von Lutz habe sich Feine „mit allem Nachdruck“ dafür eingesetzt, dass auch nach dem Abzug der deutschen Truppen aus Budapest die „Schweizerhäuser“ vor den Angriffen geschützt werden sollten, solange sich Lutz in der Stadt aufhalte (S. 111). Angesichts der komplexen Situation im besetzten Budapest betont Linne zu Recht die Schwierigkeit, ein abschließendes Urteil über Feines Aktivitäten zu treffen. Feine galt unter seinen Vorgesetzten als zuverlässig. Im Sinne des NS-Systems „funktionierte“ er (S. 115). Inwieweit und aus welcher Motivation heraus er in die Rettung der „Schweizerhäuser“ involviert war, ist aufgrund der spärlichen Materialien indes nur schwer zu sagen. Feine, ein Widerständler? Insgesamt, so Linnes Resümee, bietet dessen Tätigkeit in Belgrad und Budapest „wenig Anhaltspunkte für ein abweichendes, widerständiges Verhalten“, obwohl sich Feine für den Schutz der jüdischen Unterkünfte eingesetzt haben muss (S. 115).

Erfreulicherweise werden im Sammelband so auch jene Akteure des Widerstands in den Blick genommen, die mit dem erinnerungspolitischen wie forschungsgeschichtlichen und mitunter vom 20. Juli 1944 überschatteten Diskurs nicht a priori konnotiert sind. Das beweist der von Martin Kröger dargestellte und vergleichsweise unbekannte Fall des Otto von Strahl. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges unterrichtete Strahl, der von 1936 bis 1938 Konsul in Durban und nunmehr in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden war, die südafrikanische Regierung in aller Ausführlichkeit über die nationalsozialistischen Aktivitäten innerhalb des Landes. In Pretoria erstellte er umfangreiche Dossiers auf Grundlage seiner Handakten und diplomatischer Schriftstücke. Im Auswärtigen Amt in Berlin wurde indessen die Ausbürgerung Strahls forciert, zu der es aber bis Kriegsende nicht kam. 1951 trat Strahl, der mittlerweile in den USA lebte und auf Ersparnisse angewiesen war, mit der Bitte um Pension und einem Antrag auf Wiedergutmachung an das Auswärtige Amt heran, dem ein jahrelanger, maßgeblich vom ehemaligen Personalchef und NSDAP-Anhänger Curt Prüfer zu Lasten Strahls beeinflusster Rechtsstreit folgte. Was gegen Strahl aus Sicht seiner alten Kollegen sprach, war, so Kröger, nicht etwa die Tatsache der Emigration, sondern dass dieser „aktiv gegen das Deutsche Reich handelnd aufgetreten war“ (S. 69).

Ebenso besaß das Auswärtige Amt für Fritz Kolbe keine Wiederverwendung mehr. Kolbe, den Lucas Delattre prägnant als „einsamen Widerständler“ porträtiert (S. 71), hatte die nationalsozialistische Politik rigide abgelehnt und im Zweiten Weltkrieg eine Vielzahl brisanter Unterlagen an die Alliierten weiterreichen können. Bis zum Kriegsende gelang es ihm, über die Schweiz dem US-amerikanischen „Office of Strategic Services“ streng geheime Telegramme, die über Vorgänge hinter den Kulissen des NS-Staats unterrichteten, zu liefern – ein deutlicher Beleg, dass ein „einziger Mensch […] sehr viel gegen die Nazis unternehmen“ konnte (S. 74). Im neuen Bonner Außenministerium jedoch wurde Kolbe als „Verräter“ gebrandmarkt (S. 73). Dass er in der Bundesrepublik einen neuen Posten erhielt, konnte das ehemalige NSDAP-Mitglied Herbert Blankenhorn als Leiter der Politischen Abteilung im Auswärtigen Amt erfolgreich verhindern. Resigniert hielt Kolbe, dessen Rehabilitation erst 2004 mit der Einweihung des Fritz-Kolbe-Saals im Auswärtigen Amt erfolgte, in seinen Aufzeichnungen fest, dass lediglich „als ehrenhaftester Widerständler der tote gilt“ (S. 79).

Das entspricht dem Befund Eckart Conzes, der in seinem Beitrag die angebliche Nähe des Auswärtigen Amtes zum Widerstand des 20. Juli skizziert. Eng damit verbunden ist das Narrativ vom Ausharren im Amt als eine Art Camouflage – eine Lesart, die bereits im Wilhelmstraßenprozess um Ernst von Weizsäcker lanciert wurde, der zufolge „Widerstand gegen das Regime […] nur aus verantwortlichen Positionen heraus möglich gewesen“ sei (S. 276). Korrekt kontextualisiert Conze daher auch die Diskreditierung von Fritz Kolbe in das Klima der frühen 1950er-Jahre, in dem Vorwürfe der „Spionage oder Landesverrat“ allzu leicht vernichtende Wirkung entfalten konnten (S. 281).

Für die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur genauso wie für jene personellen Brüche und Kontinuitäten, die den Begriff des bundesrepublikanischen Neuanfangs im Auswärtigen Amt fragwürdig werden lassen, bietet dieser empfehlenswerte Sammelband ein mannigfaltiges Panoptikum vom Widerstand gegen das Regime Hitlers und den damit verbundenen individuellen Folgen. In den Beiträgen werden voreilige Rückschlüsse und zu kurz greifende Verallgemeinerungen vermieden, was maßgeblich dem gewinnbringenden Ansatz der akteurszentrierten und biographischen Perspektive geschuldet ist.

Anmerkung:
1 Christian Mentel (Hrsg.), Die Debatte um „Das Amt und die Vergangenheit“, in: Zeitgeschichte-online, November 2010 (überarbeitet Februar 2014), <http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/die-debatte-um-das-amt-und-die-vergangenheit> (25.06.2014).

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension