Titel
Germany’s Wild East. Constructing Poland as Colonial Space


Autor(en)
Kopp, Kristin
Reihe
Social History, Popular Culture, & Politics in Germany
Erschienen
Anzahl Seiten
270 S.
Preis
$85.00 / € 65,62
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Bauer, Institut für Donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen

Ein weiteres Buch über die Konstruktion kolonialer Räume in Polen und Ostmitteleuropa – was kann dabei schon an neuen Erkenntnissen zu Tage gefördert werden? Diese Frage mögen sich viele Osteuropahistoriker aktuell stellen, wenn sie das Buch von Kristin Kopp in den Händen halten. Im Angesicht der Menge an Studien, die sich in jüngster Zeit mit den deutschen Osteuropaphantasien im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigen, scheint die Frage nach der Notwendigkeit zunächst berechtigt. Die Lektüre des Buches „Germany’s Wild East“ offenbart jedoch, dass das Thema keineswegs zu Genüge erforscht ist. Kopp bietet dem Leser in ihrem Buch fundierte Analysen, welche den europäischen Osten in einer dezidiert globalhistorischen Perspektive erscheinen lassen.

Die Autorin nimmt den Leser in fünf Kapiteln mit auf eine Reise in den amorphen Grenzraum zwischen Ostmitteleuropa und Deutschland, in dem „radical lines of demarcation“ (S. 202) immer schwer zu ziehen waren. Doch bevor sie diese Reise antritt, eröffnet Kopp ihr Buch mit einer methodisch versierten Einleitung, in welcher sie die Wirkmächtigkeit eines diskursiven Kolonialismus hervorhebt. Kolonialismus will sie dabei in Anlehnung an Jürgen Osterhammel nicht ausschließlich als Phänomen verstanden wissen, das sich durch eine spezifische Machtstruktur auszeichne, sondern das vielmehr auch eines Narrativs, einer Interpretation bedürfe (S. 6). Als das Ziel der Arbeit definiert Kopp sodann, die signifikanten Merkmale eines polnischen Kolonialnarrativs zu bestimmen.

Das erste Kapitel beginnt mit der Interpretation von „Soll und Haben“, einem Klassiker der deutschen Polenliteratur. Im Kontext der Frage nach einer mentalen Durchdringung des östlichen Europa offenbart das Werk von Gustav Freytag eine Vielzahl an Topoi, die auch für die spätere Ostmarkenliteratur charakteristisch werden sollten. Eine Expansion der deutschen Herrschaft, die das vermeintliche polnische Chaos ordnen sollte, will die Autorin dabei auch als die Expansion einer bürgerlichen Wertordnung verstanden wissen. In dem anschließenden Kapitel fokussiert Kopp auf die Ostmarkenliteratur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wobei sie das Genre in zwei divergierende Subkategorien unterteilt: eine assimiliatorische und eine exkuldierende Literatur (S. 63). Beide Gattungen standen stellvertretend für die divergierenden Handlungsoptionen, welche die preußischen Eliten in Bezug auf die Polenfrage diskutierten. War es möglich, die Polen im Sinne einer Zivilisierungsmission zu Deutschen umzuerziehen oder war ihre Rasse zu unterlegen, um deutsche Bildung zu verarbeiten? Zwischen diesen Eckpunkten mäanderte die Ostmarkenliteratur im Vorfeld des Ersten Weltkrieges.

Das dritte Kapitel widmet sich erneut einem Klassiker der deutschen Literatur: „Effi Briest“. Im Gegensatz zu „Soll und Haben“ zeichne Fontane keine optimistische Zukunftsvision. Die Gefahren, die aus der Inneren Kolonie in Hinterpommern drohten, stehen im Zentrum dieses Kapitels. Der ‚Halbpole‘ Crampas symbolisiere eine hybride Lebensform, die von der Peripherie des Reiches aus in das Zentrum vordrang. Bestehende Grenzen, die den Akteuren Halt und Sicherheit bieten sollten, verloren durch das Auftreten des Majors zunehmend an Beständigkeit. Die beiden letzten Kapitel widmen sich der Zwischenkriegszeit. Die Phantomschmerzen, die infolge der reellen und imaginären Verluste in Ostmitteleuropa entstanden, sowie deren Bewältigung bilden das zentrale Untersuchungsfeld. Das Postulat des Spatial Turn, Karten als Quelle ernst zu nehmen, beherzigt Kopp dabei. Anhand wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Spezialkarten dekonstruiert die Autorin kollektive Revisionswünsche. Das Volks- und Kulturbodenmodell, mit dessen Hilfe der Machtanspruch über Ostmitteleuropa legitimiert werden sollte, bildet dabei ein zentrales Glied in der Argumentationskette. Fritz Langs Film „Die Nibelungen“ aus dem Jahre 1922 bildet sodann den Abschluss des Buches. Hier verdeutlicht Kopp, wie das Kulturbodenmodell in der Praxis angewendet wurde. So stellt der Palast des Etzel in dem Film eine nahezu identische Kopie des Palastes der Burgunder in Worms dar. Dies ließ auf einen deutschen Ursprung der Etzelsburg schließen. In dem Verfall des Gebäudes unter der Krone der Hunnen sieht Kopp jedoch einen Hinweis auf die mangelnde Kulturfähigkeit, die den slawischen Völkern von den Deutschen unterstellt wurde.

In der deutschen Kolonialgeschichte erhielt ‚der Osten‘ in den vergangenen 10 Jahren eine steigende Bedeutung. So gehört es mittlerweile zum Common Sense der deutschen Globalhistoriker, dass eine enge diskursive Wechselbeziehung zwischen der mentalen Konstruktion einer deutschen Überlegenheit in Osteuropa und der Etablierung von Schutzgebieten in den 1880er-Jahren bestand.1 Kopp nimmt diesen Ansatz zum Anlass, um Kontinuitäten und Gleichzeitigkeiten kolonialer Raumentwürfe näher zu bestimmen. Trotz evidenter Gemeinsamkeiten, wie etwa der symbolischen und semantischen Markierung einer rückständigen Peripherie, gelingt es ihr dabei, auch auf signifikante Unterscheide hinzuweisen. So zwang neben der räumlichen Nähe des Ostens auch die kulturelle Verwandtschaft der Bewohner die Akteure dazu, klare Grenzen des Eigenen und des Fremden dort zu bestimmen, wo dies kaum möglich war. Der Wunsch nach Eindeutigkeit und Abgrenzung hatte schließlich eine Radikalisierung des Diskurses zur Folge.

Kopp trägt mit ihrer Studie dazu bei, die Spezifika der osteuropäischen Kolonialphantasie zu schärfen, ohne die Korrelationen zwischen dem Osten und anderen Regionen der Welt aus den Augen zu verlieren. Wie eng diese Beziehungen waren, verdeutlichen mitunter kleine Hinweise und Anhaltspunkte. Die Lektüre von Fenimores „Der letzte Mohikaner“, die Anton, der Protagonist von Freytags „Soll und Haben“, während seines Aufenthalts an der östlichen Peripherie genoss, bildete für Kopp keinen Zufall: „Anton’s fantasy easily adapts a Wild West iconography to fit his eastern destination…“ (S. 39). Das Bild des ‚Wilden Osten‘ ist somit ohne die Imagination des Wilden Westens nicht zu erklären.

Da die Studie Kopps einen diskursiven und imagologischen Ansatz verfolgt, stützt sich die Autorin ausschließlich auf literarische bzw. visuelle Quellen. Diese Tendenz zur Literatur liegt vermutlich darin begründet, dass Kopp eine Germanistin ist. Der Studie tut dies keinen Abbruch. Amtliche Dokumente, die neben den Parallelen im Diskurs auch Parallelen in der Praxis sichtbar gemacht hätten, bleiben jedoch unberücksichtigt. Kleinere historische Fehler erscheinen nur am Rand und schwächen die Argumentation der Autorin nicht. So erklärt sie unter anderem, dass Rumänien neben Serbien und Montenegro in Folge des Ersten Weltkrieges territoriale Verluste verkraften musste, was nicht der Fall gewesen ist (S. 133). Größere Widersprüche offenbaren sich hingegen, wenn die Autorin die ethnischen Bezüge ihrer Konstruktionen thematisiert. Gerade das Beispiel der Nibelungen-Verfilmung, in der nicht ein slawischer Osten gezeigt wird, sondern die Hunnen als Gegenpart fungieren, offenbart, wie differenziert die Analyse erfolgen sollte. Sind die Hunnen in der zeitgenössischen Wahrnehmung identisch mit Slawen oder gar den Polen? Basierten die Osteuropaphantasien ausschließlich auf antislawischen Topoi oder wurden die Rumänen und Ungarn gleichermaßen unter den minderwertigen Völkern des Ostens subsumiert? Auf diese Fragen liefert Kopp keine befriedigende Antwort.

Die Stärke Kopps besteht nicht so sehr darin, neue Akzente zu setzen, sondern zuvor geäußerten Hypothesen detailliert nachzugehen. „Germany’s Wild East“ überzeugt dabei als kompakte, spannend geschriebene und gut lesbare Studie. Die Verteidiger einer globalen Geschichtsschreibung werden sich durch Kopps Werk bestätigt fühlen.

Anmerkung:
1 Diese Bezüge betonte etwa Sebastian Conrad, Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich, 2. Aufl., München 2006.

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