A. Kusser: Körper in Schieflage

Titel
Körper in Schieflage. Tanzen im Strudel des Black Atlantic um 1900


Autor(en)
Kusser, Astrid
Reihe
Post_koloniale Medienwissenschaft 1
Anzahl Seiten
501 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Dorestal, Historisches Seminar, Universität Erfurt

In der außerordentlich einflussreichen Studie „The Black Atlantic“ von Paul Gilroy aus dem Jahre 1992 untersuchte dieser die transnationalen Verflechtungen und Zirkulationen von afroamerikanischen Ideen und Personen in Europa.1 Die Historikerin Astrid Kusser lässt sich in ihrem Buch „Körper in Schieflage. Tanzen im Strudel des Black Atlantic um 1900“ von Gilroys Konzept inspirieren, wählt dafür aber einen Untersuchungsgegenstand, der bisher im deutschsprachigen Raum wohl nur wenigen bekannt war: den Cakewalk. Der Cakewalk war ein Tanz, der das Verdrehen des Körpers in eine für Außenstehende merkwürdig anmutende Weise als konstitutives Moment umfasste. Ein Bild, welches das Charakteristische dieses Tanzes verdeutlicht, hat die Autorin detailliert analysiert und auch zur Illustration des Buchtitels genommen. Darauf sind zwei Tänzerinnen mit dem Oberkörper aufrecht stehend und die Arme und Hände angewinkelt haltend abgebildet, während ihr Kopf fast 90 Grad nach hinten gebogen ist. Erste Spuren dieses Tanzes verweisen auf eine Entstehung auf US-amerikanischen Plantagen zur Zeit der Sklaverei. Die Sklavinnen und Sklaven griffen Tänze der Weißen auf, imitierten und parodierten diese jedoch und schufen so etwas ganz Eigenes.

Kusser dekonstruiert verschiedene, in historischen Dokumenten anzutreffende Ursprungsmythen, die sich um die Entstehung des Cakewalk ranken, etwa dass der Cakewalk ein Produkt der Native Americans in Florida in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sei. Demgegenüber verkompliziert die Autorin die Genealogie des Cakewalk und betont, dass dieser sich in einer äußerst komplexen Geschichte in Abgrenzung zur Kultur der weißen Sklavenherr_innen herausbildete. Um 1900 wurde der Cakewalk zu einem Modetanz und einem Phänomen, welches auf Postkarten, in Karikaturen und in Zeitungen verhandelt wurde. Kusser spürt den verschiedenen Ursprüngen, Impulsen und Spannungen nach, die aus der Geschichte schwarzer Menschen und durch Kolonialismus, Versklavung, aber auch Widerstand und Subversion gegen Ausbeutung und Unfreiheit erwuchsen. Der Cakewalk legt Zeugnis davon ab, ist aber weit davon entfernt, von Kusser reduktionistisch als bloße Widerspiegelung dieser Ereignisse interpretiert zu werden. Vielmehr zeigt die Autorin die ungeheure Vielfalt des Cakewalk auf, der sich nicht auf ein Motiv oder einen Inhalt festlegen lässt, sondern die Ambivalenzen des Black Atlantic dokumentiert und immer von einem Bedeutungsüberschuss zeugt. Als performative Praxis ist der Cakewalk auch von der Instabilität von Subjektpositionen geprägt, die im Tanzen sowohl inszeniert und reiteriert als auch herausgefordert werden. „Körper in Schieflage“ untersucht auch andere Tänze. Im Kapitel über Buenos Aires untersucht Kusser beispielsweise die Verbindungslinien zwischen Tango und Cakewalk um 1900, die sich im Black Atlantic ereigneten. Da Kusser aber eine dekonstruktivistische Historiographie betreibt, verfällt sie nicht in eine unproduktive Erörterung der Frage, welcher Tanz nun Original und welcher Kopie ist. Vielmehr geht es ihr darum, gegenseitigen Referenzen und Austauschbeziehungen nachzugehen, im Sinne einer in den Postcolonial Studies favorisierten „entangled history“. Dabei weist die Autorin nach, dass der Tango ebenso wie der Cakewalk aus Auseinandersetzungen um Bürgerschaft und politische Repräsentation nach Abschaffung der Sklaverei erwuchs.

Die „Color Line“ benannte der afroamerikanische Universalgelehrte W.E.B. Du Bois in seinem berühmten Diktum aus „The Souls of Black Folk“ als das zentrale Problem der USA des 20. Jahrhunderts. Daran anknüpfend bestand in der hegemonialen weißen Vorstellung der Skandal eines gemeinsamen Tanzes um 1900 aus der intendierten Trennung in Schwarz und Weiß, die vielerorts jedoch ignoriert wurde. Eine große Stärke von „Körper in Schieflage“ ist darin begründet, dass Kusser in den detaillierten Einzelstudien über verschiedene Tanzstile darlegen kann, wie sich diese „Color Line“ jeweils konkret ausgestaltete und wie diese je nach historisch gewordenen rassistischen Strukturen, dem politischen Kontext und den lokalen Kräfteverhältnissen verhandelt wurde.

Das Buch ist in drei große Abschnitte unterteilt, die mit „Herkunft“, „Entstehung“ und „Verwandlung“ überschrieben sind und in denen die Autorin verschiedene Facetten von Tanz im Allgemeinen und des Cakewalk im Besonderen aus verschiedenen Blickwinkeln nachgeht. Hier sind die Aspekte des Arbeitsrhythmus, des „Tanzfiebers“ oder die Sondierungen städtischer Tanzkulturen in New York, Berlin, Buenos Aires, Viktoria oder Kapstadt zu nennen. So deckt Kusser etwa in detaillierter Quellenarbeit auf, wie in zeitgenössischen Diskursen die Popularität des Cakewalk und anderer Tänze in der Rede vom „Tanzfieber“ als Bedrohungsszenario an die Wand gemalt wurden. Die Autorin seziert diesen Begriff kritisch, da er Tanzen als ephemeres Phänomen abwertete und zudem als ansteckende Krankheit pathologisierte. Damit einher gingen Befürchtungen über durch den Cakewalk angeblich ins Wanken geratende Grenzziehungen über Anstand, Race- und Class-Zugehörigkeit, da beim Cakewalk eine als „schwarz“ gelesene performative Kultur nun auch von Weißen adaptiert wurde. Die Kölner Historikerin legt in ihrer Analyse überzeugend dar, dass es im Hinblick auf Tanzen keine binäre Logik von Subversion auf der einen und Anpassung und Herrschaftsstabilisierung auf der anderen Seite gibt. Vielmehr bleiben Cakewalk und andere Tänze ambivalent und entziehen sich einer eindeutigen Lesart. Dies hängt mit der Unterschiedlichkeit der historischen Situationen und Kontexte zusammen. Die beabsichtigte Segregation von Schwarz und Weiß ließ sich nie konsequent durchsetzen und so schwang beim Tanzen beispielsweise die Angst vor dem Kontakt oder gar der „Kontamination“ der „weißen Rasse“ durch das Tanzen mit schwarzen Menschen oder dem Imitieren der Bewegungen von als „schwarz“ konnotierten Tänzen häufig mit. Die Frage nach dem genauen politischen Stellenwert des Cakewalk lässt Kusser aus diesem Grund konsequenterweise offen, denn ihr geht es um die viel produktivere Freilegung der Genealogien des Tanzens im Spannungsfeld des Black Atlantic.

Cakewalk bewegte sich im Interpretationsrahmen bei Weißen und Schwarzen während der Zeit der US-amerikanischen Sklaverei unterschiedlich. Worüber bei einer Tanzdarbietung gelacht wurde, war sehr verschieden: Weiße lachten über Sklav_innen, weil sie im Cakewalk unbeholfene und lächerliche Imitationen von weißen Bewegungen zu erkennen meinten; Schwarze lachten, weil sie den Cakewalk als Parodie und durch geringfügige Veränderungen auch als subversives Moment begriffen. Auch Klassenauseinandersetzungen fanden ebenso wie Verhandlungen von Race über den Cakewalk statt. Der Dresscode, den African Americans verwendeten und der extravagante Kleidung vorsah, war der weißen Oberschicht nachempfunden und zeigte dieser, dass Schwarze ebenso einen distinguierten Stil pflegen konnten. Die Performances des Cakewalk gaben Anlass für disparate Lesarten, die motiviert waren aus dem Spannungsverhältnis von Rassismus und Widerstand. Der Cakewalk war nicht nur Parodie und Groteske, sondern er war eben insbesondere auch ein Medium, um Eleganz und Distinktion für African Americans zu zeigen. Dies wurde Ihnen freilich oftmals von vielen der weißen Zuschauer_innen nicht zugestanden.

Die in „Körper in Schieflage“ analysierten Tanzmoden interpretiert die Autorin auch als in einer weiteren Kultur des Widerstandes begründet, nämlich gegen die Reduktion des Menschen auf den Faktor Arbeitskraft oder auf das Sklav_innendasein. Kusser führt dafür vielfältige Beispiele an, etwa die Tänze und Gesänge der Sklav_innen auf Saint-Domingue im 18. Jahrhundert, die vom Widerstand gegen die Weißen handeln und mit in die Formierung der Schwarzen als Kollektiv mündeten, welches in einem klassenübergreifenden Prozess die Sklaverei in der Haitianischen Revolution von 1791 abschaffte. Die Grenze zwischen einem Tanzen, das auf der einen Seite im Sinne der Herrschaft als Kanalisation und Abbau der Frustration gedacht war, um widerständiges Handeln von vornherein zu unterlaufen, und auf der anderen Seite als eine Form der Subversion, die auch Tanzen immer potentiell zu eigen war, verlief fließend und war nicht einfach funktional-strategisch planbar. Tanzen war ein Ausweg aus der Arbeitsdisziplin. Das Repertoire des „break“ innerhalb des Tanzes, welches Kusser in vielen westlichen Metropolen um 1900 ausmacht, verweist für sie auf eine Auseinandersetzung und ein Verhandeln des modernen Arbeitszwangregimes. Vom Blickwinkel des Tanzes geht „Körper in Schieflage“ hier der Geschichte der Disziplinierung und der Gouvernementalität nach. Tanzen veränderte seinen Stellenwert unter kapitalistischen Bedingungen, denn Lohnarbeit führte dazu, dass diese nicht mehr streng überwacht wurde, sondern reguliert und kanalisiert, aber dabei auch befördert wurde.

Kusser gelingt es, äußerst fruchtbare Anregungen aus verschiedenen Disziplinen und insbesondere neuere Forschungen zur schwarzen Diaspora aufzugreifen und kulturelle Praktiken wie das Tanzen des Cakewalk jenseits von herkömmlichen historiografischen Interpretationslinien zu lesen, sondern als eigene „Sprache des Körpers“, die eine neue Form des Widerstandes und der Handlungsmacht artikuliert. Kussers Buch ist deshalb weit mehr als ein origineller Beitrag zu einer Historiografie des Tanzes. Die Autorin beweist vielmehr auf beeindruckende Weise, dass sie die umfangreiche Literatur zu Postcolonial Studies, Performativitätstheorien und Media Studies rezipiert hat und auf innovative Weise miteinander in Verbindung setzen kann. „Körper in Schieflage“ verspricht deshalb nicht nur zur unverzichtbaren Referenz für all diejenigen zu werden, die sich ernsthaft wissenschaftlich mit Tanzen auseinandersetzen wollen. Auch wer sich über den neuesten Stand der Forschung in den Medienwissenschaften, insbesondere der Analyse von Postkarten, aber auch von postkolonialer und intersektionaler Geschichtsschreibung informieren will, erhält aus Kussers detailreichen und scharfsinnigen Analysen anregende Impulse zur weiteren Reflexion.

Anmerkung:
1 Paul Gilroy, The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness, London 1993.

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