G. Fischer u.a. (Hrsg.): Brasilien in der Welt

Cover
Titel
Brasilien in der Welt. Region, Nation und Globalisierung 1870–1945


Herausgeber
Fischer, Georg; Peters, Christina; Rinke, Stefan; Schulze, Frederik
Reihe
Globalgeschichte 14
Erschienen
Frankfurt am Main 2013: Campus Verlag
Anzahl Seiten
351 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dawid Danilo Bartelt, Landesbüro Brasilien, Rio de Janeiro, Fundação Heinrich Böll

Mit Konferenzbänden ist das so eine Sache. Da die Möglichkeit, in Fachzeitschriften zu veröffentlichen, begrenzt ist, sind Konferenzteilnahmen und die nachfolgende Veröffentlichung des Vortrags als Aufsatz im Konferenzband wichtig. Weniger wichtig wird dabei die Leser/innenfreundlichkeit genommen. Zur spezifischen Fragestellung eines Bandes tragen viele Aufsätze nur wenig bei. Und oft ist das Thema so ‚anschlussfähig’ gehalten, dass die Teilnehmer/innen in Abwandlung das vortragen und niederschreiben, was sie schon öfter vorgetragen und niedergeschrieben haben. Schließlich kann eine Historiker/in nicht ständig Ergebnisse produzieren – gute Forschung dauert, die zeitfressenden Aufgaben als Juniorprofessor, Assistent oder ordentliche Professorin lassen wenig Zeit –, kann aber auch keine Gelegenheit zum Veröffentlichen verstreichen lassen. So sind Konferenzbände in der Regel Sammelbände von nicht unerheblicher Beliebigkeit. Mein aus einer gewissen Wissenschaftsferne gewonnener Eindruck ist, dass die Zahl solcher Konferenzveröffentlichungen zugenommen hat und dass dies mit gestiegenem Publikationsdruck vor allem für Nachwuchswissenschaftler/innen bzw. für die vielen, die es noch nicht auf eine feste Stelle geschafft haben, zusammenhängt. Dass unter Druck die Qualität leiden kann, ist ein Gemeinplatz.

Gelten meine Vorbemerkungen auch für den von den jungen Lateinamerikahistorikern Georg Fischer, Christina Peters, Frederik Schulze organisierten und lektorierten und zusammen mit dem Berliner Lehrstuhlinhaber Stefan Rinke herausgegebenen Band „Brasilien in der Welt. Region. Region, Nation und Globalisierung 1870–1945“? Ja und Nein.

Ja, insofern die thematische Beliebigkeit auch hier waltet. Es geht um Capoeira und Nervenkrankheiten, Einwanderung und Anarchismus, um Milch und Mittelschichten, Wissenschaft und Rassismus, deutsche Brasilienreisende und brasilianische Weltbürger und einiges mehr. Ja, wenn man den Untertitel – Region, Nation und Globalisierung 1870–1945 – und vor allem den Anspruch der Herausgeber zugrunde legt. Der lautet, einem Defizit abzuhelfen, nämlich dass im Unterschied zu Afrika und Asien „Brasilien und auch Lateinamerika in der historischen Globalisierungsforschung kaum eine Rolle spielen“ (S. 9). Diesem Anspruch werden viele Beiträge in der Summe nicht gerecht, da zumindest unklar bleibt, inwiefern sie sich in den Forschungszusammenhang der Globalgeschichte einordnen.

Nein, da dieser Band mit einer 42-seitigen Einführung der drei Herausgeber aufwartet, die in der Tat die Forschung auf diesem Wege ein Stück weiterbringt, dazu Wege weist, anregt, Hilfestellung leistet. Und Nein, weil es zumindest einigen Autoren wie etwa Debora Gerstenberger gelingt, ihren „üblichen“ Gegenstand – in ihrem Fall Gilberto Freyre – ganz direkt an die Globalgeschichte anzubinden und dadurch zu originellen Erkenntnissen gelangt; hier liegt das Augenmerk auf dem Methodiker Freyre, der – wenn auch vielleicht unabsichtlich, wie die Autorin vermutet – in innovativer Manier Zugriffe der Globalgeschichte vorwegnahm, wie Transnationalität oder die reziproke Kulturalisierung – so vertrat Freyre die These, in der Anglisierung Brasiliens durch die Briten hätten sich diese auch gehörig brasilianisiert.1

Dass Brasilien Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in globalgeschichtliche Prozesse eingebunden gewesen sei, ist in gewisser Hinsicht banal und vielfach beschrieben. Als ehemalige Kolonie, Sklavenhaltergesellschaft bis 1888, größtes Land des Subkontinents und Einwanderungsgebiet war Brasilien seit seiner ersten Gründung als portugiesische Kolonie 1500 etwa in den transatlantischen Handel einbezogen und also integraler Teil von wirtschaftlichen, aber auch kulturellen Globalisierungsprozessen. Die Geschichtsschreibung ist deshalb gleichsam zwingend transnational. Gleiches gilt für die schmale aber rege Intellektuellenschicht Brasiliens. Ihre wissenschaftliche und kulturelle Produktion hat sich traditionell in einem von Europa und den USA definierten epistemologischen Bezugsrahmen bewegt, sogar noch in der Negativbewegung des Anthropofagismus. Insofern „ist also die Globalgeschichte kein völlig neuer turn für die brasilianische Geschichte“, wie die Herausgeber zutreffend resümieren (S. 41).

Wer an der Frage interessiert ist, wie sich Brasilien in den Forschungskomplex der Globalhistorie einfügt, ist mit der Einleitung gut bedient. Die jungen Herausgeber skizzieren zunächst die Grundlinien der Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte Brasiliens. Es folgt ein Überblick über die Globalgeschichtsschreibung zu Lateinamerika und Brasilien, aufgeteilt in die Themenfelder frühe Nationalgeschichte; die Mentalitätsgeschichte der 1930er-Jahre; Dependencia-Theorien; die postcolonial studies in der lateinamerikanischen Rezeption und schließlich der südliche Teil der Atlantic history. Nicht immer sicher im Detail – so wird etwa die Dependencia-Theorie ganz in der Tradition der konservativen deutschsprachigen Historiographie der Zeit umstandslos zur „gescheiterten Großtheorie“ erklärt, was nicht nur angesichts der postkolonialen Kontinuitäten, die Lateinamerika durch den Neoextraktivismus erneut in die Rolle des von terms of trade abhängigen Rohstofflieferanten stellt, meines Erachtens eine unhistorische und letztlich falsche Wertung darstellt –, liefert diese Synthese wertvolle Orientierung für zukünftige Arbeit.

In den drei Kategorien des Untertitels – Region, Nation und Globalisierung – liegt eine Spannung mit hohem Forschungspotential. Seit jeher haben die geistes- und sozialwissenschaftlichen Anstrengungen in Brasilien in der formação, der Ausbildung von Staat und Nation ihren vielleicht wichtigsten Fluchtpunkt. Der Begriff der formação zeigt auch an, dass die Nation als im beständigen und unabgeschlossenen Werden begriffen wird und ihre Interpreten das brasilianische Gegebene an einem idealisierten westlichen Verständnis von Nation (und Nationalstaat) messen, wie Sérgio Costa in seinem Überblick zu Wissenschaft, Rassismus und Nation um 1900 zeigt. In der kolonialen und postkolonialen Perspektive galt Lateinamerika von den drei Kontinenten als der „europäische“, mithin prinzipiell Geschichtsfähige (heute sprechen Entwicklungsagenturen von „Wertegemeinschaft“ Europas mit Lateinamerika), wohingegen Asien als ehemaliges Theater der Weltgeschichte und Afrika als per se geschichtsloser Kontinent zwar räumliche, aber keine zeitliche Präsenz markieren. Darauf macht Sebastian Dorsch in den lesenswerten Eingangsbemerkungen seines ansonsten etwas eklektisch geratenen Aufsatzes aufmerksam, wo er sich explizit mit Lateinamerikas Rolle im globalhistorischen Forschungskontext auseinandersetzt und auf den „verzeitlichten“ Charakter des Subkontinents verweist, der sich in der Atlantikhistorie, aber auch in der Latinitäts-Idee des Kontinents niederschlägt.

Brasilien importierte über Jahrhunderte afrikanische Sklaven und integrierte sie dann in die ‚Freiheit’ des Kapitalismus. Aus der Nation wurden sie hingegen ausgeschlossen oder allenfalls negativ integriert, nämlich als der Faktor, der die brasilianische Gesellschaft entscheidend daran hinderte, eine Zivilisation auszubilden. Deshalb waren auch Afroamerikaner aus dem Referenzland USA nicht willkommen, wie Jeffrey Lesser in seinem Beitrag zeigt. Abhilfe sollten hier nicht zuletzt europäische Einwanderer schaffen, die also mit einer gleichsam doppelten, ökonomischen und kulturellen, ja staatstheoretischen Aufgabe ins Land geholt wurden. Als dieser Zustrom zu schmal wurde, warben die brasilianischen Landbesitzer im frühen 20. Jahrhundert auch Asiaten, insbesondere Japaner, sowie Menschen aus dem zerfallenden Osmanischen Reich an – gegen zivilisationstheoretisch-rassistisch gespeiste Bedenken (s. den Beitrag von Ursula Prutsch). Die Einwanderungspolitik Brasiliens hat sich seit ihrer „Vorgeschichte“, der Sklaverei, im Ambivalenzraum von Ökonomie und Kultur/Wissenschaft bewegt. Nun sind die Migrations-, Adaptations- und auch Akkulturationsprozesse der jeweiligen Migrantengruppen je für sich erforscht und beschrieben. Aber wie auf einem Gebiet, das 24 mal so groß ist wie das heutige Deutschland, zu Zeiten von minimaler Kommunikations- und Mobilitätstechnik eine einzige Nationalsprache und eine Nationalideologie durchgesetzt wurden, in die sich hunderttausende Einwanderer aus zahlreichen Ländern und verschiedenen Kontinenten letztlich einfanden und was dies für die Nation Brasilien im 20. und 21. Jahrhundert bedeutet, ist in vergleichend- bzw. integrierend-analytischer Hinsicht noch zu wenig untersucht. Die Geschichtsschreibung dessen, was man die Dritte Gründung des modernen Brasilien nach Kolonie und Unabhängigkeit nennen könnte, steht noch aus. Und sie ist ohne globalhistorische Perspektive und ihre methodischen Zugriffe nicht leistbar.

Zum Schluss: Da ein wesentlicher Grund für die Marginalisierung Lateinamerikas in der Globalgeschichte gemäß den Herausgebern darin liegt, dass sich deren Forscher „nicht mehr die Mühe machen, Spanisch zu lernen“ (S. 11) – geschweige denn Portugiesisch, könnte man ergänzen –, ist es zu begrüßen, dass die Herausgeber es wagen, einen Band auf Deutsch herauszugeben. Sie verkürzen damit auch ein klein wenig den Abstand, den die historiographische Brasilienforschung in Deutschland zum angelsächsischen, aber auch zum französischen Sprachraum hat. Immerhin: Gab es eine deutsche Brasilienhistoriographie bis hinein in die frühen 1990er-Jahre nur in Einzelfällen – unter den Autoren des Bandes etwa lediglich Mathias Röhrig-Assunção –, so hat sich seitdem viel getan. Von diesem bemerkenswerten Fortschritt zeugt dieser Band nicht nur, er befördert ihn auch.

Anmerkung:
1 Gilberto Freyre, Ingleses no Brasil. Aspectos da Influência britânica sobre a vida, a paisagem e a cultura do Brasil, Rio de Janeiro 1977.