S. Fröhlich: "Auf den Kanzler kommt es an"

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Titel
"Auf den Kanzler kommt es an": Helmut Kohl und die deutsche Außenpolitik. Persönliches Regiment und Regierungshandeln vom Amtsantritt bis zur Wiedervereinigung


Autor(en)
Fröhlich, Stefan
Erschienen
Paderborn u.a. 2001: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
311 S.
Preis
€ 25,40
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manuel Fröhlich, Christian-Albrechts-Universität Kiel, Institut für Politische Wissenschaft

Zur Rolle Helmut Kohls sind insbesondere mit Blick auf die Deutschlandpolitik der Jahre 1989/90 eine Reihe von Memoiren, Analysen und auch Editionen mit regierungsinternen Dokumenten erschienen. Fröhlich versucht mit seiner Darstellung (in Teilen auf den bislang vorliegenden Erkenntnissen aufbauend), eine auch abseits der Konzentration auf die Vereinigung gültige Perspektive auf die Verfahrensabläufe der Politikgestaltung und die persönliche Rolle des Kanzlers in den achtziger Jahren zu gewinnen. Dabei akzentuiert er unter Berufung auf Paul-Ludwig Weihnacht und Karl-Rudolf Korte gerade den Faktor „Persönlichkeit“ als konstitutiven Bestandteil der politikwissenschaftlichen Analyse: „[D]er Politikwissenschaftler leuchtet den Begriff der Politik erst dann angemessen aus, wenn er der herkömmlichen Trias der Politik-Begriffe einen vierten hinzufügt: zu polity, politics und policy gehört als vierte Dimension die des politician.“ (30)

Die Untersuchung ist in zwei Teile getrennt: Der erste Teil beschäftigt sich mit der rechtlichen Stellung, Organisation und Arbeitsweise von Bundesregierung und Bundeskanzleramt in der deutschen Außenpolitik. Hier bedient sich Fröhlich durchgängig auch des Vergleichs mit der Praxis von Kohls Amtsvorgängern und ordnet die gewonnenen Erkenntnisse im weiteren Sinne Strukturmerkmalen parlamentarischer Regierungssysteme zu. Der zweite Teil ist dem Regierungsstil und Regierungshandeln in den achtziger Jahren anhand dreier „interdependente[r]“ (288) Fallbeispiele aus dem Zeitraum 1982-1990 gewidmet: Der Rüstungskontrollpolitik (vor allem die Folgen des NATO-Doppelbeschlusses, die Debatte um die Modernisierung der Kurzstreckenwaffen und das INF-Abkommen), der Europapolitik (u.a. Einheitliche Europäische Akte, Wirtschafts- und Währungsunion) sowie der Deutschlandpolitik (u.a. Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen, Zehn-Punkte-Programm).

Neben bereits veröffentlichten Quellen stützt sich dieser Teil vor allen Dingen auf Erkenntnisse aus Gesprächen mit einer beeindruckenden Liste von Interviewpartnern, die auf verschiedenen Ebenen vom Unterabteilungsleiter bis zum Außenminister maßgebliche Akteure in den untersuchten Politikfeldern waren. Kohl selbst findet sich nicht im Interviewverzeichnis.

Fröhlich beobachtet eine „graduelle Gewichtsverlagerung in der Außenpolitik vom Auswärtigen Amt hin zu einer verstärkten Führungsrolle auch des Bundeskanzlers bzw. des Bundeskanzleramtes“ (18) und führt diese unter anderem auf zwei Faktoren zurück: Zum einen die verstärkte Inanspruchnahme von Gipfeldiplomatie, die die „persönliche“ Prägung der Außenpolitik durch die Regierungschefs zugleich ermöglichte und intensivierte (die gerade durch Kohl unterstützte Institutionalisierung des Europäischen Rates ist hier als symptomatisch zu werten). Zum anderen habe die zunehmende Überlappung von ministeriellen Zuständigkeiten und die angesichts übergreifender politischer Probleme zunehmend fraglichen ausschließliche Kompetenz nur eines Ressorts die Nachfrage nach Koordination verschiedener Institutionen befördert – eine Aufgabe, in die sich das Bundeskanzleramt unter Kohl mehr und mehr einarbeitete, wie Fröhlich zeigt.

Mit dieser Verschiebung geht auch eine Zunahme informeller Verfahren einher. Fröhlich betont hier Kohls Praxis des Telefonierens abseits bürokratischer Verantwortlichkeiten und schreibt: „Kohl arbeitete nicht mit abstrakten Strukturen, sondern mit Personen.“ (122) Von herausragender Bedeutung erweist sich in diesem Kontext Kanzlerberater Horst Teltschik, dessen neidvoll-kritische Beäugung durch das Außenministerium in Kohls Amtszeit auch nach Fröhlichs Ergebnissen als berechtigt erscheint.

Fröhlich sieht in Kohl primär den Machtpolitiker, der der innenpolitischen Absicherung seiner Macht „stets eine größere Bedeutung einräumte als der Durchsetzung bestimmter programmatischer Aussagen, solange die grobe Richtung seiner Zielvorgaben stimmte“ (91). Das Verhältnis zum Auswärtigen Amt unter Hans-Dietrich Genscher hatte insofern auch immer koalitionspolitische Bedeutung. Fröhlich hält fest: „Integrationskraft nach innen, sprich in die eigene Partei hinein, und Kooperationsbereitschaft gegenüber dem Koalitionspartner bildeten die Grundparameter für den Erfolg seiner [Kohls] Kanzlerschaft.“ (87) Nicht zuletzt dadurch überlagerten sich gelegentlich außen- und innenpolitische Probleme bis hin zu veritablen „Zerreißproben“ (179), die Kohl unter anderem dadurch bewältigte, dass er seine eigene Positionierung relativ spät vornahm, eher als Moderator widerstreitender Interessen auftrat und Verhandlungsmandate gelegentlich auch „ohne festes commitment“ (157) erteilte. Lediglich in der Deutschlandpolitik sieht Fröhlich eine Relativierung des machtpolitischen Imperativs: „Erstmals überflügelte der Visionär Kohl den Machtpolitiker Kohl.“ (288)

Die ausgewählten Fallbeispiele zeigen sehr plastisch und bis auf die Beamtenebene, wie die Abstimmung auch mit den wichtigen Bündnispartner (Frankreich in der Europapolitik, die USA in der Deutschlandpolitik) organisiert wurde. Neben den involvierten Ministerien, der eigenen Partei, dem Koalitionspartner und bevorstehenden Wahlen waren in unterschiedlichem Maße etwa auch die CSU (siehe die Einbindung Theo Waigels als Finanzminister) und weitere Institutionen (Bundesbank) zu berücksichtigen. Inmitten dieser vielschichtigen Anforderungen lässt sich kein einheitliches oder dominierendes Verfahren ausmachen: „Die Lösungen, die gesucht und gefunden wurden, lassen vielmehr den für den Bonner/Berliner Regierungsstil auch in anderen Zusammenhängen typischen Pragmatismus erkennen, der flexiblen und möglichst effektiven Organisationsformen den Vorzug vor perfekt ausgeklügelten Organisationsmodellen gibt.“ (13) Daraus lassen sich allenfalls abwechselnde Konjunkturen von sich ergänzenden, aber auch konkurrierende Orten der Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungsfindung ableiten, deren Zusammenspiel die Frage des „Timing“ zum entscheidenden Erfolgsfaktor machten.

Das im Untertitel genannte „persönliche Regiment“ lässt sich nicht als monokausale Erklärung des Regierungshandeln festmachen; vielmehr attestiert Fröhlich auch für die Deutschlandpolitik eine „Kombination günstiger Rahmenbedingungen, diplomatischen Geschicks und politischer Führungskraft“ (285).

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