Groschek u.a.: "... dass du weißt, was hier passiert ist"

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Titel
"... dass du weißt, was hier passiert ist".. Medizinische Experimente im KZ Neuengamme und die Morde am Bullenhuser Damm


Autor(en)
Groschek, Iris; Vagt, Kristina
Erschienen
Bremen 2012: Edition Temmen
Anzahl Seiten
166 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Arend, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück/Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten

Das in sieben inhaltliche Kapitel gegliederte und reich bebilderte Buch ist als inhaltliche Vertiefung der 2011 neu eröffneten Dauerausstellung der Gedenkstätte Bullenhuser Damm, einer Außenstelle der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, angelegt. Das von deren Direktor Detlef Garbe verfasste Vorwort führt den Gedenkort Bullenhuser Damm als eine der weltweit wenigen Stätten ein, die „an Orten des Verbrechens [...] vorwiegend Kindern gewidmet sind“ (S. 6). Die Dauerausstellung richte sich vorwiegend an junge Menschen. Die dem französischen Arzt Dr. René Quenouille zugeschriebene Äußerung „Dass du weißt, was hier passiert ist ...“ könne als Vermächtnis gewertet werden. Da das Buch dieses Zitat im Titel führt, dürften die von Garbe benannten Zielsetzungen neben der Ausstellung auch für die Publikation gelten: Informationen darüber zu geben, was die „Nationalsozialisten selbst kleinen Kindern angetan haben“ (S. 7).

Das Buch wird von den Autorinnen einleitend als „eine umfassende, wissenschaftlich fundierte Darstellung zum Thema“ eingeführt (S. 8). In ihrer Einleitung zeichnen sie knapp den Tatbestand und die Chronologie der Verdrängung der Geschehnisse bzw. der Erinnerung an sie nach 1945 nach und skizzieren ihre Quellengrundlage. Hervorzuheben sind hier vor allem die Interviews mit Angehörigen der Opfer, die zum Teil eigens für die Ausstellung geführt wurden, sowie einige historische Fotos und Dokumente, die erstmals ausgewertet wurden.

Das erste der sieben inhaltlichen Kapitel ist dem KZ-Außenlager Bullenhuser Damm gewidmet. In komprimierter Form schildern Iris Groschek und Kristina Vagt den Entstehungskontext des Areals, seine Nutzung als Schulgebäude vor der Errichtung, und arbeiten dabei unter anderem die Zusammenarbeit der Hamburger Behörden mit der SS heraus (S. 17–19). Drei weitere Unterkapitel beleuchten die Arbeitssituation im Lager, die Existenzbedingungen der Häftlinge und die Räumung des Außenlagers. Schicksale einzelner Häftlinge sind dabei in den Fließtext eingestreut. Grün unterlegte Textfelder thematisieren einzelne Biographien oder besondere Ereignisse wie die Befreiungsaktion „Weiße Busse“ ausführlicher.

Das zweite institutionelle Kapitel ist dem KZ Neuengamme gewidmet, dessen Geschichte samt seiner Außenlager auf zweieinhalb Seiten dargelegt wird. Die auf diesen Seiten gezeigten Zeichnungen sind rein illustrativ eingesetzt, Datierungen fehlen zum Teil. Der Schwerpunkt des Kapitels liegt auf den medizinischen Experimenten im Stammlager. Hier finden unter anderem Versuche in Luftschutzbunkern mit verschiedenen Konzentrationen von Kohlendioxid Erwähnung. Die für die Experimente missbrauchten Frauen waren Häftlinge im Außenlager Hamburg-Wandsbek. Zwar wird angeführt, dass dies ein Produktionsstandort der Dräger AG war. Eine Verwicklung der Firma in die Experimente wird somit nahegelegt, aber nur in der Endnote expliziert. Anschließend führt der Text in die medizinischen Versuche zur Tuberkulosebehandlung ein, die auf Initiative und unter Leitung des Lungenfacharztes Dr. Kurt Heißmeyer durchgeführt wurden. Heißmeyer arbeitete seinerzeit als leitender Oberarzt in der Lungenheilanstalt Hohenlychen, deren Leiter Professor Karl Gebhardt seinerseits medizinische Experimente im KZ Ravensbrück durchführte.1 Diese bleiben aber ebenso wie andere Versuche in weiteren Konzentrationslagern unerwähnt; eine Einordnung der Kinderversuche in den Gesamtkontext der medizinischen Experimente in den Konzentrationslagern wäre wünschenswert gewesen, ebenso ein Versuch der Einordnung von Heißmeyers Motiven. Ob er damit etwa eine Habilitationsabsicht wie beispielsweise Ludwig Stumpfegger mit seinen „autoplastischen Knochenexperimenten“ verfolgte, wird nicht thematisiert. Die Autorinnen beschreiben jedoch kurz Heißmeyers Forschungsziel – eine Behandlungsmethode der damals verbreiteten bakteriellen Infektionskrankheit Tuberkulose zu finden – und führen in seine Theorien ein: Tbc sei eine Erschöpfungs- und keine Infektionskrankheit und könne durch einen „zweiten, künstlich erzeugten Infektionsherd geheilt werden“ (S. 30). Diese Theorie stufen die Autorinnen als bereits durch die zeitgenössische Forschung widerlegt ein. Die neueren Forschungen zu medizinischen Experimenten in der NS-Zeit haben am Beispiel der Sulfonamidversuche im KZ Ravensbrück deutlich gemacht, dass in diesem Bereich die vorherigen Studien keineswegs eindeutig und abgeschlossen waren.2 Daher müsste unabhängig von den damaligen Gutachten, die auch durch Konkurrenzen und Schulen geprägt sein könnten, die Frage der Plausibilität des Forschungsansatzes von Heißmeyer geprüft werden. Ohne Zweifel ist jedoch, dass die Versuche selbst als verbrecherisch eingestuft werden müssen, da die Opfer mit virulenten Tuberkelbazillen infiziert wurden und rassistische Annahmen der Opferwahl zu Grunde lagen.

Das 3. Kapitel nimmt die Verfolgungs- und Deportationswege der Kinder in den Blick, denen das Buch und die thematisierte Ausstellung gewidmet sind. Es handelt sich um 20 jüdische Kinder, von denen 14 aus Polen und die weiteren sechs aus den Niederlanden, Frankreich, Jugoslawien und Italien kamen. Auf ein bis zwei Seiten wird die Verfolgungsgeschichte der verschiedenen nationalen Haftgruppen in den jeweiligen vom Deutschen Reich besetzten Ländern thematisiert. Allen Kindern gemein ist, dass sie ins KZ Auschwitz deportiert wurden, dort irgendwann im sogenannten Kinderblock 11 gefangen gehalten wurden und von dem leitenden Lagerarzt Dr. Josef Mengele für die Versuche im KZ Neuengamme selektiert wurden. Die 20 Kinder kamen am 28. November 1944 dort an und wurden in einem Teil der Krankenrevier-Baracke IV untergebracht. Obwohl die SS ihre Anwesenheit geheim zu halten suchte und alle mit den Kindern im Kontakt stehenden Häftlinge nicht über deren Existenz und die Versuche sprechen durften, wussten bald viele Häftlinge von deren Existenz. Das Kapitel schließt mit der Beschreibung der medizinischen Experimente, wobei die Autorinnen auf Aussagen aus späteren Prozessakten zurückgreifen. Heißmeyer band einige Häftlingsärzte und -pfleger verschiedener Nationalität in seine Versuche mit ein, sie mussten bei Operationen zur Entfernung der Lymphdrüsen, der euphemistisch als „Impfungen“ bezeichneten Infizierung der Kinder mit Tuberkuloseerregern assistieren oder diese durchführen und die ärztliche und pflegerische Betreuung der Kinder übernehmen.

Das mit 24 Seiten umfangreichste Kapitel ist den Biografien der Kinder, den Betreuern und der erwachsenen Todes-Opfer des Bullenhuser Damms gewidmet. Die Biographien sind alle systematisch gegliedert: Name und Geburtstag des Kindes, Beruf der Eltern, Schicksal der Eltern und Familie, KZ-Stationen, das Alter der Kinder bei ihrer Ermordung und Informationen, ob und wie nach dem Krieg Angehörige über das Schicksal Kenntnis erhielten. Begleitet werden die zum Teil durch jahrelange Forschungen zusammengetragenen Informationen von Fotos der Familien aus glücklichen Tagen und durch Dokumente. Von drei Kindern sind keine biographischen Informationen bekannt. Von ihnen werden Fotos, die im Rahmen der Versuchsreihe entstanden sind, gezeigt. Die folgenden beiden Unterkapitel widmen sich den Betreuern der Kinder sowie den sowjetischen Häftlingen, die ebenfalls am Bullenhuser Damm ermordet wurden.

Das nächste Kapitel nimmt „Tat und Täter“ in den Blick. Die Forschung ist hier mit dem Problem konfrontiert, dass es nur mündliche und keine schriftlichen Belege für die Mordnacht gibt. Die Geschehnisse ließen sich anhand der Aussagen der in den Curio-Haus-Prozessen 1946 angeklagten Täter zwar weitgehend rekonstruieren, es bleiben aber „Widersprüchlichkeiten und Lücken“, wie die Autorinnen deutlich machen. Die 20 Kinder, ihre vier Betreuer sowie mindestens 24 sowjetische Häftlinge wurden in der Nacht vom 20. auf den 21. April 1945 im Kellergeschoss am Bullenhuser Damm erhängt. Die an der Ermordung beteiligten Täter werden anschließend in Form von Kurzporträts biographisch vorgestellt: Angaben über ihr Alter und den Zeitpunkt ihres Beitritts zur SS sowie zur Mitgliedschaft in weiteren NS-Organisationen, den beruflichen Werdegang, den Aufgabenbereich im KZ Neuengamme und die Mitwirkung an den Morden sowie die jeweiligen Lebenswege in der Nachkriegszeit. Über ihre Sozialisation oder Motivation für ihre Berufswahl erfahren die Leser/innen (mit einer Ausnahme) nichts. Ergänzend werden, soweit vorhanden, Häftlingsberichte über die Männer angeführt, die deren Verhalten im KZ Neuengamme beschreiben und ihren Charakter deutlich werden lassen sollen.

Die Autorinnen arbeiten anschließend klar drei Strategien heraus, mit denen die Täter vor Gericht operierten, um sich der Verantwortung für ihr Handeln zu entziehen: 1. Die Beteiligung wurde bestritten, man sei zu dem Zeitpunkt gar nicht im Lager gewesen; 2. die Verharmlosung der Umstände und 3. die Aussage, man habe auf Befehl gehandelt. Die Nachkriegsgeschichte des die Versuche leitenden Arztes Heißmeyer macht deutlich, dass die zu Zeiten des Kalten Krieges vonseiten der DDR verfolgte Rhetorik, man habe „NS-Täter konsequent verfolgt“, nicht zutrifft. Von 1948 bis 1963 praktizierte Heißmeyer in der DDR. Er wurde zwar länger von der Staatssicherheit beobachtet, aber nicht verhaftet. Der Ärztemangel in der DDR, Unterstützung von Kollegen und mangelnde Beweise führten dazu, dass er weiter als Arzt tätig sein konnte. Anders als im nachfolgend geschilderten Fall hinsichtlich der westdeutschen Strafverfolgung des ehemaligen Stützpunktleiters der Hamburger Außenlager des KZ Neuengamme, Arnold Strippel, reagierte das Ministerium für Staatssicherheit 1961 jedoch auf eine Berichtserstattung im anderen Teil Deutschlands und nahm erneut Ermittlungen auf, die schließlich 1963 zur Verhaftung und Verurteilung zu lebenslanger Haft Heißmeyers führten. Im Gegensatz dazu musste sich Arnold Strippel nicht für seine Hamburger Taten verantworten. Trotz mehrfacher Interventionen von verschiedenen Häftlingsverbänden und einer Artikel-Serie im „Stern“ kam es nicht zu einer Gerichtsverhandlung. Ein 1986 durch zivilgesellschaftliche Akteure organisiertes „Internationales Tribunal“ stellte fest, „daß die Nichtverfolgung der Beschuldigten am Bullenhuser Damm […] beispielhaft ist für den Umgang der bundesdeutschen Justiz mit Naziverbrechen“ (S. 87).

Die Autorinnen halten sich selbst mit Urteilen zurück. Sie zeichnen sachlich die Chronologie nach. Es fällt aber doch auf, dass sie in Bezug auf die DDR auf den Widerspruch zwischen dem Selbstanspruch und der realen Umsetzung der Aufarbeitung der NS-Verbrechen explizit aufmerksam machen, im Fall der Bundesrepublik Kritik aber nur durch Zitate anderer formulieren.

Das vorletzte Kapitel ist der Entwicklung des Gedenkens an die ermordeten Kinder bis hin zur 2011 eröffneten Dauerausstellung gewidmet. Auch am Beispiel dieser Gedenkstätte wird deutlich, welch großen Anteil ehemalige Häftlinge und ihre Verbände haben, dass die Verbrechen – auch gegen lokale Widerstände – nicht in Vergessenheit gerieten. Auch die Rolle von Günther Schwarberg, seiner Frau Barbara Hüsing und des Vereins „Kinder vom Bullenhuser Damm e.V.“ wird gewürdigt. Die Autorinnen zeichnen den Weg der jahrzehntelangen Recherchen nach, die Gründung und Sicherung der Gedenkstätte, lokales und internationales Gedenken und arbeiten das Neue der 2011 eröffneten Dauerausstellung heraus. Hervorgehoben wird unter anderem, dass die Taträume leer gelassen wurden, um den Eindruck der Authentizität zu geben. Wie authentisch ist ein Ort, – diese Frage sei erlaubt – der als Dienstwohnung für den Hausmeister diente, an dem es Einbauten gab, diese wieder entfernt wurden und bei der, wie die Kuratorinnen schreiben, die „Zuordnung der Kellerräume zum Tathergang nicht vollständig gesichert“ (S. 114) ist?

Das letzte Kapitel zeigt den Vorteil eines nach Ausstellungseröffnung erscheinenden Begleitbandes, da schon erste Besucherbucheinträge mit analysiert werden konnten. In diesem von Linde Apel unter der Überschrift „Emotionen und Erkenntnisse“ verfassten Beitrag wird deutlich, dass einige Besucher/innen „emotionale Überwältigung“ vermissen – und dies, obwohl sowohl inhaltlich als auch gestalterisch die „Opferperspektive“ als prägendes Prinzip der Ausstellung gewählt wurde (S. 118-123, hier S. 120). Vielleicht – so meine These – konterkariert die Entscheidung für Täterzitate in den ehemaligen Taträumen die Opferperspektive. Ansonsten ist gerade die von erwachsenen Besucher/innen thematisierte fehlende Überwältigung ein Indiz, dass es den Ausstellungsmacherinnen gelungen ist, kein „Gruselkabinett“ einzurichten. Dass die Ausstellung gleichwohl eine hohe Betroffenheit auslöst, machen die von Apel zitierten Beiträge Jugendlicher deutlich.

Der vorliegende Band ist ein insgesamt sehr gut recherchiertes, strukturiertes und ausgewogenes Buch. Durch den Abdruck vieler Fotos und Dokumente sowie gestalterisch hervorgehobene vertiefende Texte ist es zugleich anschaulich und doch dicht. Die Entscheidung für Endnoten trägt dazu sicher bei, auch wenn die Rezensentin persönlich es lästig fand, die Quellenbelege oder Hintergrundinformationen immer erst hinten und dies nach Kapiteln nochmals unterteilt, suchen zu müssen.

Anmerkungen:
1 Zu den medizinischen Experimenten Gebhardts vgl. Judith Hahn, Grawitz, Genzken, Gebhardt: drei Karrieren im Sanitätsdienst der SS, Münster 2008.
2 Volker Roelke, Fortschritt ohne Rücksicht: Menschen als Versuchskanninchen bei den Sulfonamid-Experimenten im Konzentrationslager Ravensbrück, in: Insa Eschebach / Astrid Ley (Hrsg.), Geschlecht und „Rasse“ in der NS-Medizin, Berlin 2012, S. 101–114.

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