N. Chernyshova: Soviet Consumer Culture in the Brezhnev Era

Cover
Titel
Soviet Consumer Culture in the Brezhnev Era.


Autor(en)
Chernyshova, Natalya
Reihe
Routledge Series on Russian and East European Studies 90
Erschienen
London 2013: Routledge
Anzahl Seiten
259 S.
Preis
€ 117,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kirsten Bönker, Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte, Universität Bielefeld

Erinnerte ein Einkaufsbummel in der Sowjetunion an eine „alptraumhafte Reise nach Jerusalem“, wenn die meisten der Mitspieler ausgeschieden sind, wie der britische Reiseschriftsteller Colin Thubron noch 1980 herablassend schrieb? Wenn zeitgenössische Beobachtungen immer ins Schwarze träfen, hätte die Geschichtswissenschaft deutlich weniger zu tun. Doch auch bei diesem Beispiel lässt sich eine erhebliche Kluft zwischen der Außenperspektive und der Wahrnehmung der Akteure feststellen. Die Einschätzung Thubrons sei sicherlich nicht ganz falsch, stellt Natalya Chernyshova in ihrer Dissertation über die spätsowjetische Konsumkultur fest, die am renommierten King’s College London entstanden und 2013 publiziert worden ist. Der westliche Blick ignoriere jedoch den Wandel, den der Konsum aus Sicht der sowjetischen Konsumenten erlebt hat. Diese Kluft wirft wichtige Fragen nach der sozio-politischen Bedeutung von Konsum in einer sozialistischen Gesellschaft auf, die die Autorin hier in den Blick rückt.

Mit der Konsumgeschichte greift Chernyshova ein Forschungsfeld auf, das in den letzten Jahren einen enormen Aufschwung erlebt hat. Historiker haben methodische Anleihen besonders der Soziologie und der Anthropologie entnommen, um die Konsumenten, ihre Praktiken und die daraus entstehenden Konsumkulturen seit der Frühen Neuzeit in den Blick zu nehmen. Zu den fruchtbaren neuen Untersuchungsfeldern gehört das enge und sich wandelnde Verhältnis von Konsum und Politik, die lange als antagonistische Handlungsfelder galten. Zugleich hat sich in der neueren Forschung allmählich ein umfassender Konsumbegriff etabliert. Er bezieht den Verbrauch an Lebensmitteln und Waren aller Art ebenso ein wie die Freizeitgestaltung, die Nutzung kommunaler Leistungen wie Wohnen, Infrastruktur und Gesundheit oder öffentlicher Transferleistungen. Damit werden die Quantität und Qualität der Konsumangebote sowie Fragen von Mangel und Luxus zu relativen, historisier- und dekonstruierbaren Größen, die nicht auf „Konsumgesellschaften“ westlich-neuzeitlicher Provenienz festgelegt sind.

Von beiden methodischen Erweiterungen hat besonders die Forschung zur sozialistischen Konsumkultur profitiert. Sie sind lange einseitig unter dem Aspekt des Mangels beschrieben worden, bevor vor allem Susan Reid für die Sowjetunion und Ina Merkel für die DDR mit einem offenen Kulturbegriff die das Regime legitimierende Funktion des Konsums herausgearbeitet haben.1 Studien zum Konsum bieten Erklärungsansätze, warum die Sowjetunion bis zur Perestrojka ein stabiles Gesellschaftssystem war.

In diesem anregenden Forschungsfeld hat Chernyshova ein klug argumentierendes und spannend zu lesendes Buch für die bisher kaum beleuchtete Breschnew-Ära vorgelegt. Ihr Erkenntnisinteresse richtet sich darauf, wie das Breschnew-Regime zwischen den ideologischen Widersprüchen lavierte, die eine forcierte, auf Bedürfnisbefriedigung und Privilegien ausgerichtete Konsumpolitik aufbrachte. Denn die Idee, die Arbeitsproduktivität über Löhne und materielle Anreize zu steigern, widersprach dem sozialistischen Anspruch auf Gleichheit und der Verachtung von Privatbesitz. Die zentrale Frage ist, inwiefern diese Widersprüche und die zum Teil unerfüllten Konsumwünsche das Regime destabilisierten oder sie im Gegenteil als Flexibilisierung und Wertewandel zu lesen sind, die zu seiner Dauerhaftigkeit beitrugen. Chernyshova versucht darauf eine Antwort zu finden, indem sie auf die Aushandlungen zwischen Bevölkerung und Partei im Konsumfeld blickt.

Dazu zieht sie verschiedenste Quellen heran. Die Archivalien stammen aus Moskau, St. Petersburg und Minsk. Darunter sind Ministerialakten, Marktübersichten, Handelsstatistiken oder Leserbriefberichte der Presse für die ZK-Abteilungen. Neben den Materialien der in den 1960er-Jahren auflebenden empirischen Sozialforschung hat sie mit Interviews, Erinnerungen und zeitgenössischen Filmen gearbeitet.

Die Autorin wendet sich gegen das Bild der sowjetischen Konsumenten als ausgenutzte, ständig in einer Schlange anstehende Opfer des sozialistischen Wirtschaftssystems. Sie vertritt die These, dass die Breschnew-Ära im Gegenteil eine neue Konsumkultur mit dem Typus des aktiven ‚modernen Konsumenten‘ hervorbrachte, der seine Kaufentscheidungen deutlich autonomer, kenntnisreicher und selbstbewusster traf als dies zu Zeiten Stalins und Chruschtschows der Fall gewesen war (S. 3f.).

Diese These entfaltet Chernyshova in sieben thematisch angeordneten Kapiteln. Das erste betrachtet mit der Konsumpolitik unter Breschnew die Rolle des Staates und die strukturellen Rahmenbedingungen, in denen die Konsumenten handelten. Chernyshova zeichnet dabei ein ambivalentes Bild. Auf der einen Seite schlugen die letztlich fehlgeschlagenen Kosygin-Reformen, ein verbreitetes Unverständnis und Desinteresse im Politbüro an einem Aufschwung im Konsumbereich zu Buche. Auf der anderen zeigt die Autorin strukturelle Verbesserungen in Quantität und Qualität. Sie beschreibt das erwachende Interesse der Partei daran, den Konsumenten zu erforschen. In diesem Kapitel wird bereits der erkenntnistheoretische Gewinn deutlich, wenn Konsum als relationale Praktik aufgefasst wird: So konnte das Angebot des Einzelhandels in den Augen westlicher Besucher traurig aussehen, für den Sowjetbürger konnte es aber eine erhebliche Verbesserung bedeuten.

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem Anspruch der Sowjetunion in der Systemkonkurrenz, ein eigenes, an rationalen Normen orientiertes Konsumkonzept zu etablieren. Chernyshova wendet sich daher den sich nach Chruschtschow erneut wandelnden offiziellen Diskursen über Konsumnormen zu. An diesen Debatten beteiligten sich Parteifunktionäre, Wirtschaftsexperten, Designer, Journalisten und Repräsentanten des Kulturfeldes. Sie arbeitet die ambivalenten Bewertungen heraus, mit denen die Diskursteilnehmer Grenzen neu verhandelten und sich zunächst einmal gegen die mangelnde Ästhetik und die Askese der Chruschtschowschen Geschmacksnormen wandten. Letztlich entstand ein dauerndes Lavieren zwischen „kultiviertem“ Konsum und unsozialistischem Materialismus ebenso wie zwischen „modernem“ Konsum, der einen selbstbewussten, fordernden Konsumenten hervorbrachte, und der Delegitimierung von übermäßigem Genuss.

Die Abschnitte 3 bis 7 rücken den Konsumenten in den Blick. Kapitel 3 blickt auf Konsumstile und die Maßstäbe für Kaufentscheidungen. Dabei zeichnet Chernyshova eindrücklich nach, dass Einkaufen auch in der sozialistischen Gesellschaft eine öffentliche Praktik war, in der der Konsument mit dem Staat in Aushandlungen trat. Das vierte Kapitel verfeinert diesen Blick auf den Konsumenten anhand der Kategorien class, gender und generation. Sie bargen den Schlüssel zur sozialen Differenzierung, die vor allem über neue Konsumhierarchien funktionierte.

Kapitel 5 bis 7 sind Fallstudien über Konsumpraktiken. Sie erzählen die Geschichte des „modernizing Soviet consumers“, indem die Autorin mit Blick auf die Konsumenten den Wandel ihrer Einstellungen, Werte und Rahmenbedingungen differenziert analysiert. Im Mittelpunkt stehen Kleidung und Mode, Möbel und elektrische Haushaltsgeräte wie Fernseher, Kühlschrank oder Staubsauger. Chernyshovas Lesart ist die einer gemeinsamen ost- und westeuropäischen Konsummoderne, in der sich die Praktiken der sowjetischen Konsumenten den westlichen phänomenologisch annäherten. Auch unter den spezifischen sozialistischen Rahmenbedingungen entwickelte sich ein Konsument, der seine Kaufentscheidungen zunehmend selektiver traf, weil er sich für modische Konjunkturen, technische Entwicklungen und den Ruf bestimmter Produkten interessierte. Dennoch blieben quantitative und qualitative Unterschiede: Viele Konsumerlebnisse erforderten in der sozialistischen Konsumordnung mehr Anstrengungen, Beziehungen, Erfindungsreichtum und Gespür. Geld war entgegen westlicher Klischees wichtig, hatte aber nicht die alles entscheidende Bedeutung wie in kapitalistischen Gesellschaften. Die Produkte hatten oft ein längeres Leben, weil die Menschen sie pflegten, reparierten oder umfunktionierten.

Eines der zentralen Argumente Chernyshovas, das auf die gesellschaftliche Ebene zielt, ist, dass Konsum im Mittelpunkt eines Handels zwischen Partei und Bevölkerung stand, von dem beide Seiten profitierten: Die Partei gab vor, die Konsuminteressen der Bürger zu verfolgen und diese stellten dafür das politische System nicht in Frage. Diesen stabilisierenden Mechanismus haben schon Autoren wie James Millar oder zuletzt Jane Zavisca unterstrichen. Doch Chernyshova geht darüber hinaus, indem sie dieses Argument explizit gegen die lange dominante Perspektive auf die Breschnew-Jahre als Stagnationsphase wendet. Mit Vladimir Kozlov unterstreicht die Autorin, dass das Breschnew-Regime neue Legitimität zu erlangen suchte, indem der Lebensstandard weiter erhöht werden sollte und gleichzeitig Chruschtschows Strategie der Entstalinisierung in milder Form in ihr Gegenteil verkehrt wurde. Solche Re-Stalinisierungstendenzen waren im Konsumbereich sehr deutlich in Geschmacks- und Stilfragen bei der Wohnungseinrichtung zu beobachten.

Die Erwartungen der Konsumenten in den langen 1970er-Jahren stiegen stetig, die Gesellschaft differenzierte sich und entwickelte verschiedene Konsum- und Geschmacksstile. Diese Individualisierung war aus Sicht der Partei ein unintendierter und wenig geschätzter Effekt. Sie betraf stärker die Nachkriegsgenerationen. Was für die Älteren Fortschritt bedeutete, da es den Sowjetbürgern nie so gut ging wie in den 1970er-Jahren, produzierte bei den Jüngeren Frustration über unerfüllte Konsumwünsche. In Chernyshovas Interpretation unterminierte dieser Konsum- und Generationenkonflikt letztlich die Stabilität des Regimes, ohne seinen Zusammenbruch zu verantworten.

Jeder, der sich mit der Gesellschaftsgeschichte der späten Sowjetunion beschäftigt, muss diese überaus gelungene, gut geschriebene und dicht argumentierende Studie zu Rate ziehen. Wenn überhaupt, wäre es an der ein oder anderen Stelle wünschenswert gewesen, neben den offiziellen Diskursen noch näher an die Praktiken des ‚ordinary citizen‘ heranzurücken. Dies könnte die Aufgabe weiterer Oral-History-Projekte sein, die hier einen glänzenden Ausgangspunkt fänden.

Anmerkung:
1 Susan E. Reid, Communist Comfort: Socialist Modernism and the Making of Cosy Homes in the Khrushchev Era, in: Gender & History 21 (2009), 3, S. 465–498; Ina Merkel, Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln 1999.

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