Böhler, Jochen; Borodziej, Włodzimierz; von Puttkamer, Joachim (Hrsg.): Legacies of Violence. Eastern Europe’s First World War. München 2014 : Oldenbourg Verlag, ISBN 978-3-486-74195-7 VI, 334 S. € 49,95

: Gewalt im Ersten Weltkrieg. Töten – Überleben – Verweigern. Essen 2013 : Klartext Verlag, ISBN 978-3-8375-0887-1 276 S. € 22,95

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Wolfgang Elz, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Die Erinnerung an den Weltkriegsausbruch vor hundert Jahren hat viele wissenschaftliche Buchveröffentlichungen erbracht und zahllose Tagungen, Vorträge und Medienpublikationen über Entstehung und Verlauf des Krieges. In einigen dieser Beiträge blieb das Allerelementarste im Krieg unberücksichtigt oder war sehr an den Rand gerückt: Gewalt ausüben, verwunden und töten, oder: verwundet und getötet werden. Eine Monographie und ein Sammelband, die genau diese Sicht in den Mittelpunkt stellen, bieten also eine Bereicherung. Allerdings handelt es sich um zwei in der konkreten Perspektive sehr unterschiedliche Bücher.

Benjamin Ziemann greift in weiten Teilen seiner Monographie (bei sechs von neun Kapiteln, die in drei Großkapiteln angeordnet sind) auf bereits früher an verschiedenen Orten Veröffentlichtes zurück. Das wird vielleicht nicht gerade versteckt, aber etwas entlegen in den am Buchende gesammelten Anmerkungen erläutert. Zumeist haben diese sechs Kapitel allerdings eine Überarbeitung erfahren.

Einleitend (S. 7–21) beschreibt Ziemann den Ersten Weltkrieg als „Laboratorium der Gewalt“, das bisher ungeahnte Todeszahlen sowie millionenfache Verwundungen hervorrief und mit den „Verstümmelten“ ein Erbe mit visueller Nachwirkung hinterließ. In einem kursorischen Überblick über bisherige Gewaltforschung zum Ersten Weltkrieg weist er einige seit den 1990er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelte Konzepte zurück mit ihren oft allzu plakativen (und gelegentlich kaum überprüfbaren) Vorannahmen, etwa von der Wirksamkeit eines Todestriebes; solche Vorannahmen würden die eigentliche historische Arbeit, nämlich aus Quellen Erkenntnis zu gewinnen, eher verhindern. Seine Metapher vom „Laboratorium“ soll dagegen auf den allen beteiligten Armeen gemeinsamen Versuchscharakter verweisen, im neuen, industrialisierten Krieg mit offener Dynamik unterschiedliche Formen von Gewalt zu erproben.

Im ersten Großkapitel (S. 24–90) werden die „Gewaltpraktiken“ untersucht. Um sich der Antwort auf die Frage zu nähern, wieso die große Mehrheit der Soldaten bereit war, sich über vier Jahre hinweg am Gewaltexzess zu beteiligen, der ja auch den eigenen Tod bedeuten konnte, ermittelt Ziemann zunächst das relative Todesrisiko im deutschen Heer: Über den ganzen Krieg hinweg fielen von 1000 Kriegsteilnehmern „nur“ 34. Auch wenn es Unterschiede über die vier Jahre hinweg, an den verschiedenen Fronten und bei unterschiedlichen Alterskohorten gab, bedeutet dies: Entgegen landläufigen Vorstellungen war der Soldat eben nicht dem nahezu sicheren Tod geweiht. Zudem gab es Nischen für jene, die in der Heimat oder der Etappe nie zum Fronteinsatz kamen. Andererseits verursachte die stark in den Vordergrund rückende Artilleriewaffe außerordentlich viele Verwundungen, so dass häufig erneut in den Krieg ziehen musste, wer von seiner Verwundung geheilt war. Bei der Frage nach den Sinnstiftungsversuchen des einzelnen Soldaten für den Krieg stößt Ziemann auf christlichen Glauben, denjenigen an die Nation oder die sozialistische Naherwartung mit ihrer letztlich gemeinsamen Vorstellung, selbst aktiv ein Opfer zu bringen; diese Sinngebungsstrategien machten jedoch mit fortschreitender Kriegsdauer dem Gefühl Platz, nutzlos geopfert zu werden, wie Ziemann anhand einiger Tagebuch- und Briefauszüge aus den ersten Kriegsmonaten mit ihren mit Abstand höchsten Verlustzahlen aufzeigt. In diesem Zusammenhang äußert er sich auch über die deutschen Übergriffe gegen Zivilisten in Belgien, die er unter anderem aus der Überforderung der vormarschierenden Truppen angesichts der gewaltigen Opferzahlen interpretiert, und der davon zu unterscheidenden Haltung an der Ostfront, wo es vermeintlich um die Verteidigung gegen ein barbarisches Regime und eine unterlegene Kultur ging.

Anschließend (S. 63–90) analysiert Ziemann Ernst Jüngers Weltkriegstagebücher auf dessen Perzeption von Gewalt hin. Er greift dabei auf die inzwischen edierten Originaltagebücher zurück und nicht, wie etliche frühere Interpreten, auf das literarisch stilisierte „In Stahlgewittern“. Auch in diesen Tagebüchern findet sich immer wieder der Hinweis auf die dominierende Artillerie, die den Soldaten im Grabenkrieg vielfach zur Untätigkeit verdammte bzw. ihm nur die Opferrolle zuwies. Der von Jünger ersehnte Infanteriekampf „Mann gegen Mann“ war unter diesen Bedingungen die Ausnahme. Aus Jüngers Tagebuch (und damit natürlich zunächst einmal auch nur für dessen Autor) relativiert Ziemann die in der britischen Forschung wiederholt vertretene These, das Töten sich ergebender Gegner sei fast der Normalfall gewesen. Dagegen konnte es zu seltsamen Szenen kommen, wenn sich kleinere Einheiten am Schützengraben informell mit dem Gegner auf eine vorübergehende Waffenruhe verständigten. Ziemann sieht unter anderem darin den fundamentalen Unterschied zum Ostfeldzug ab 1941: Die Mehrheit der Soldaten führte den Krieg an der Westfront und in emotional nicht aufgeheizten Momenten im Bewusstsein, dass auch auf der Gegenseite Menschen kämpften.

Das zweite Großkapitel (S. 92–153) widmet sich der „Gewaltverweigerung“, also Krankheitssimulation, Selbstverstümmelung, unerlaubter Entfernung, Überlaufen und Desertion. Ziemanns Schätzung für alle deutschen Soldaten, die sich bis zum Sommer 1918 dem weiteren Kriegsdienst solcherart entzogen, ergibt als Untergrenze circa 100.000 – relativ mehr als im Zweiten Weltkrieg, aber bei über 10 Millionen mobilisierten deutschen Soldaten doch kaum 1 Prozent. Über Einzelfallaussagen zu Motiven der Fahnenflüchtigen kommt man allenfalls bei dem großen Anteil aus den nationalen Minderheiten hinaus, also insbesondere der Elsass-Lothringer und Polen. Die auch im Krieg praktizierte Diskriminierung bot ihnen wenig Motivation, das eigene Leben für Deutschland aufs Spiel zu setzen.

Mit dem Sommer 1918 änderte sich die Zahl der „Fahnenflüchtigen“ grundlegend. Die Mehrheit der Soldaten, physisch-psychisch restlos erschöpft, fand sich nun mit der Niederlage ab, und „Frieden um jeden Preis“ wurde zur Devise. Revolutionäre Politisierung spielte dabei kaum eine Rolle. Ziemann greift Deists Interpretation vom „verdeckten Militärstreik“ im deutschen Heer auf, der im Frühsommer 1918 begann und schnell drastisch wuchs:1 die Erklärung des massenhaften Desertierens, Absetzens und Überlaufens einerseits als Ausdruck des Autoritätsverlusts der Militärbehörden und andererseits des entschiedenen, aber nicht – wie der Begriff „Streik“ falsch interpretiert werden könnte – organisierten Willens vieler Soldaten, dem Krieg ein Ende zu machen und sich nicht mehr der Gefahr des nun noch sinnloser erscheinenden Sterbens auszusetzen. Ziemann errechnet als Untergrenze alleine für die als regelrechte Fahnenflüchtige Erfassten für Juli bis November 1918 185.000 Mann; die zahlreichen neuen Erlasse der Militärbehörden zum Umgang mit „Drückebergerei“ lassen aber auf ein noch breiteres Massenphänomen schließen.

Das letzte Großkapitel untersucht die „Gewaltverarbeitung“ (S. 156–219), die Kriegsauswirkungen in der Nachkriegsgesellschaft. Weil in Deutschland – im Gegensatz zu Frankreich – nach 1918 ein breit akzeptierter und die Nation überwölbender Referenzrahmen fehlte, konnten „nationale Verbände“ mit ihrer Verherrlichung von Krieg und Heldentod die Oberhand gewinnen und so „mediale Gewöhnung an Gewalt“ herbeiführen (S. 170). Andererseits gab es in der Nachkriegszeit nicht nur die Freikorps, die die Gewaltpraxis des Krieges in die Republik transportierten, sondern auch die gegenteilige Entwicklung vom Frontsoldaten zum Pazifisten, die Ziemann recht breit am Beispiel des wenig bekannten Berufsoffiziers Heinrich Schützinger darlegt. Im letzten Abschnitt untersucht Ziemann mit zwei kriegskritisch-pazifistischen Romanen einen Ausschnitt aus der Nachkriegsliteratur, der zwar in den Auflagen recht erfolgreich war, vielleicht aber nicht unbedingt den Titel des Großkapitels, nämlich „Gewaltverarbeitung“, ganz typisch bearbeitet. Er mag ein gewisses Desiderat beheben, wenn er vor allem die pazifistische Seite der Gewaltverarbeitung beschreibt – die andere Seite, Gewaltstilisierung als Nachkriegsphänomen, gerät damit jedoch etwas aus dem Blick.

Dennoch bleibt als Fazit, dass Ziemann bei aller Einschränkung seiner Aussagereichweite, nämlich im Wesentlichen auf die deutsche Seite und dort auf die Westfront, eine Fülle ansprechender Interpretationsmuster und kluger Gedanken gelingt. Ob sich alle diese Interpretationen verallgemeinern lassen, mag offen bleiben, weil mancher Abschnitt lediglich auf Literatur oder eingeschränkter Quellengrundlage basiert. Dies sollte aber anspornen, einige Aussagen künftig in Detailstudien anhand geeigneter Quellencorpora zu überprüfen.

Wenn Ziemann gelegentlich feststellt, dass die Gewalt an der Ostfront – im Vergleich mit dem Westen – bisher schlecht erforscht sei, so wirkt dem der Sammelband entgegen, der (mit Ausnahme eines Beitrags) aus einer Jenenser Tagung des Jahres 2012 hervorging und sich dem Titel nach den „Legacies of War“, tatsächlich aber vor allem auch der Gewalt selbst im Ersten Weltkrieg in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa widmet.

Gewalt entwickelte sich in dieser Region, so die Herausgeber einleitend (S. 1–6), in anderem Kontext als an der Westfront: Im Westen kämpften nationale Armeen dies- oder jenseits klarer staatlicher Grenzen und weitgehend im Stellungskrieg; im Osten und Südosten verwickelte und zertrümmerte der Weltkrieg multinationale Großreiche mit all den Folgen, die sich daraus ergaben: „ethnische Säuberungen“, Antisemitismus, Deportationen, paramilitärische Gewalt. Zudem kannte der Krieg gewaltige Bewegungsphasen, und schließlich dauerte er mit seinen Vorläufern, den Balkankriegen, und Nachkriegskämpfen im vormaligen Russischen und Osmanischen Reich doppelt so lang wie im Westen, mithin als „langer Krieg“ von 1912 bis mindestens 1920. In vielerlei Hinsicht stellte er mit seinen Gewalterfahrungen ein Arsenal für die Jahre nach 1939 bereit, das im Zweiten Weltkrieg in ganz anderer Weise zu Gewaltexzessen führte.

Drei Beiträge im ersten Teil stellen eine „World in Transition“ vor, wobei Vorkriegsentwicklungen ebenso in den Blick geraten wie Folgen des Krieges für die Großregion. Joachim von Puttkamer (S. 9–23) legt zunächst dar, wie der Krieg in den eigentlich multinationalen Reichen Russland und Österreich-Ungarn mehr und mehr zum „nationalen“ Krieg, zum russischen bzw. (deutsch-)österreichischen Krieg wurde, die Monarchien ihre Integrationskraft verloren und somit die Nachkriegsnationen und die damit verbundenen Konflikte sowie die Probleme der neuen Regime, die Staatsautorität herzustellen, bereits vorgeprägt wurden.

Mark Blondich betrachtet die "borderlands" (S. 25–50), jene national umstrittene und in den Jahren nach 1917 besonders gewalttätige Region Ostmitteleuropas. Hier führten häufig erst Zwang oder Zufälle dazu, dass sich die Bevölkerung der einen oder der anderen Ethnie zugehörig fühlte. Auf der Balkanhalbinsel war dies schon vor dem Weltkrieg zu beobachten, als die dortigen Nationalstaaten die (konfligierende) Arrondierung ihres Staatsgebiets insbesondere in Makedonien auskämpften. Die Balkankriege von 1912/13 brachten denn auch mit modernen Waffensystemen und Grausamkeiten gegen Zivilisten und Kriegsgefangene bereits jene Gewaltformen hervor, die andernorts erst zum Weltkrieg gehörten.

Genauer auf diese Gewalt in Ostmitteleuropa schaut in seinem Beitrag Jochen Böhler (S. 51–66): Russische Militärs übernahmen das Konzept der „verbrannten Erde“, das ebensowenig originell war wie die Verdächtigung der Zusammenarbeit mit dem Feind, die sich gegen Juden und (im Süden) Muslime, später auch gegen Polen und Ukrainer richtete. Allein dies führte zur Vertreibung oder Deportation von Millionen aus ihren angestammten Gebieten. Nach 1917 herrschten also schon desolate Verhältnisse in einer Großregion, die nun noch durch das Auftreten von Warlords und paramilitärischen Banden ins Chaos gestürzt wurde, in dem Grausamkeiten für Kämpfer, aber auch für Zivilisten zum Alltag wurden.

Die zweite Abteilung widmet sich in drei Beiträgen der Besatzungsherrschaft. Jonathan E. Gumz zeigt (S. 69–87), wie die im späten 19. Jahrhundert entwickelte völkerrechtliche Normierung einer „humanen“ Besatzungsherrschaft im Krieg und mit der Erschütterung der Souveränität der Großreiche erodierte. Übergriffe gegen Zivilisten waren eine Begleiterscheinung schon der russischen Besatzung, und mit dem Verlust der russischen Souveränität war die normative Grundlage völlig zerstört, so dass sich auch die deutsche Besatzung, gespeist von den Vorstellungen von Ober Ost über die Zukunft jener Gebiete, von dieser Norm wegentwickelte und zu Gewaltmaßnahmen gegen Zivilisten verstieg.

Stephan Lehnstaedt untersucht die wirtschaftliche Bedeutung der Besatzungsgebiete (S. 99–112): Alle Großmächte gingen ökonomisch unvorbereitet in den Krieg, und Arbeitskräfte- und Lebensmittelmangel wurden schnell zu ernsten Problemen (vor allem der Mittelmächte). Die Besatzungsgebiete versprachen Abhilfe, aber weder improvisierte Zwangsarbeiter-Programme noch Nahrungsmittelausbeutung lieferten die erhofften Erfolge.
Robert L. Nelson betrachtet Umsiedlungen und Umsiedlungspläne während des Ersten Weltkriegs (S. 113–127). Auf deutscher Seite war dies der geplante „Transfer“ von Millionen von Ostmitteleuropäern nach einem deutschen Sieg, um deutschen Kolonisten Platz zu schaffen, was Nelson im Kern auf die Idee des „leeren Raumes“ nach nordamerikanischem Vorbild zurückführt. Auf dem Balkan hatte es dagegen schon 1912/13 Deportationen gegeben, in den Ostprovinzen des Russischen Reiches wurden in der Weltkriegsanfangszeit Deutsche und Juden deportiert, und die in Kleinasien gegen die Armenier durchgeführten Maßnahmen verdeutlichen, dass Zwangsumsiedlungen, wenn nicht ohnehin intendiert, so doch im Ergebnis zum Genozid führen können.

Die dritte Abteilung behandelt die Radikalisierung während des Krieges. Einen bisher häufig nur für den Westen beachteten Aspekt, den „Krieg der Geister“, greift Maciej Górny auf (S. 133–167) und zeigt die Entwicklung der damals noch jungen Rassenanthropologie. Ihr boten sich mit dem „Menschenmaterial“ etwa in Kriegsgefangenlagern neue Möglichkeiten. Die daraus entwickelten Rassentheorien dienten dazu, den Feind rassisch-theoretisch auszugrenzen oder Expansionsgebiete für die eigene „Rasse“ zu reklamieren – auch dies ein Erbe für die Nachkriegszeit in etlichen am Krieg beteiligten Ländern.

Piotr J. Wróbel betrachtet für den „langen Krieg“ von 1914 bis 1921 in Ost- und Ostmitteleuropa antisemitische Gewalt und sieht sie als „foreshadowing the Holocaust“ (S. 169–208). Als „nichtnationale“ Gruppe waren die Juden während der Kriegs- und Nachkriegszeit weitgehend ungeschützt, etwa vor Pogromen und Deportationen aus den russischen Westprovinzen. Im Chaos der Kriegsendphase und mit dem Auftreten von Warlords gerieten sie erneut zwischen alle Fronten. Allein für die umkämpfte Ukraine liegen vage Schätzungen über die Zahl getöteter Juden für die Jahre 1917–1921 bei 30.000 bis 200.000 Menschen.

Robert Gerwarth bringt einen Aufsatz zum Wiederabdruck (S. 209–231), der die gegenrevolutionäre Gewalt in den besiegten Mittelmächten thematisiert. Die Hunderttausenden, die sich in Deutschland, Österreich und Ungarn in Freikorps organisierten, begegneten zu Hause einer Welt, die nach ihren meist konservativen Vorstellungen von Schande beschmutzt war. Die Freikorps spiegelten dabei die Vorstellung von Hierarchie und Maskulinität, wie sie im Krieg gelebt worden war. Tatsächlich glichen sie im Baltikum wie im Reich eher einer Soldateska des Dreißigjährigen Krieges, wenn sie unterschiedslos Sozialisten und Juden ermordeten – legitimiert mit der „Säuberung“ der Nation von ihren vermeintlich unreinen Feinden. Zwar nicht personell, aber ideologisch knüpften die Nationalsozialisten an diese Ideen von 1918/19 an: die Reinigung der Nation vom jüdisch-slawischen Bolschewismus.

In einer letzten Abteilung untersuchen wiederum drei Beiträge Auswirkungen des Krieges. Julia Eichenberg (S. 236–258) prüft die für die Westfront in der französischen Historiographie gepflegte Kontroverse, was denn überhaupt die Soldaten an der Front gehalten habe, auf ihre Anwendbarkeit für die Ostfront, wo in den multinationalen Reichen viele nicht zur Verteidigung ihres Nationalstaats kämpften, sondern wie etwa die Polen auf beiden Seiten der Front. Dabei erweist sich das nationale Nachkriegsnarrativ, wonach die Polen in den kaiserlichen Armeen unter Zwang, in den späteren Grenzkriegen als nationale Angelegenheit freiwillig gedient hätten, als allzu einfach. Stattdessen hält Eichenberg das vornehmlich angelsächsische Forschungskonzept von „endurance“, also etwa geduldiger Ausdauer, für angemessener als die Dichotomie von Zwang oder Freiwilligkeit.

Philipp Ther schaut auf die „ethnischen Säuberungen“ im „langen“ Ersten Weltkrieg (S. 259–284). Ihn interessiert der Wechsel von einseitig erzwungener (zum Beispiel in den Balkankriegen, in Elsass-Lothringen 1918/19) und verhandelter Bevölkerungsverschiebung (zum Beispiel schon 1913 zwischen Griechenland und Bulgarien). Trotz der 1919 den neuen Staaten oktroyierten Minderheitenschutzverträge kann er beispielhaft (deutsch-polnische Beziehungen in der Oberschlesienfrage; griechisch-türkischer Bevölkerungsaustausch von 1923) zeigen, wie die Homogenisierung als Ideal der nationalstaatlichen Bevölkerung zum Weltkriegserbe wurde, das später Gewalt gegen Minderheiten und Vertreibungen zu legitimieren schien.

Dietrich Beyrau untersucht die Gewaltanwendung in der Sowjetunion in den Jahrzehnten bis zu Stalins Tod (S. 285–316). Im Kern sieht er die spätere staatliche Gewalt bereits im Bürgerkrieg angelegt, als die Bolschewiki sich – im Sinne Leninscher Bedrohungsszenarien – von einer Welt von sozialen, ethnischen oder politischen Feinden umgeben sahen. Stalin übernahm dieses Verständnis gegenüber ethnischen Minderheiten oder dem „Klassenfeind“, wozu schließlich jeder werden konnte, der für Missstände verantwortlich gemacht und deswegen gewaltsam bekämpft wurde.

Abschließend bietet Jörn Leonhard eine Art Zusammenfassung des Sammelbandes (S. 319–326). Dabei wird deutlich, was die bisherige Perspektive auf den Krieg im Osten und Südosten von demjenigen an der Westfront besonders unterschied: Im Osten entstanden – im Gegensatz zum Westen – keine gesellschaftsübergreifenden Erzählungen über den Krieg, keine Symboliken wie etwa Verdun für die deutsch-französische Auseinandersetzung, sondern in den neuen Nationalstaaten jeweils eigene Narrative, die auf genau diese Nationalstaaten als Telos hinausliefen. Leonhard appelliert, solchen Unterschieden, aber auch den Gemeinsamkeiten im Ersten Weltkrieg zwischen den Kriegsschauplätzen weiter nachzugehen, um den Krieg besser zu verstehen.2

Wo Ziemann in seiner Monographie auf sehr konkrete Gewaltphänomene auch und vor allem an einzelnen Beispielen eingeht, nimmt der besprochene Sammelband doch weitgehend eher die Vogelperspektive ein. Beides ist völlig legitim und sollte künftig komplementär ergänzt werden, um vielleicht einmal in eine Gesamtdarstellung einzumünden über das Elementarste am Ersten Weltkrieg: die Gewalt.

Anmerkungen:
1 Wilhelm Deist, Der militärische Zusammenbruch des Kaiserreichs. Zur Realität der "Dolchstoßlegende", in: Ursula Büttner u.a. (Hrsg.), Das Unrechtsregime. Ideologie, Herrschaftssystem, Wirkung in Europa, Bd. 1, Hamburg 1986, S. 101–129.
2 Dazu hat er selbst in seiner umfassenden Gesamtdarstellung des Ersten Weltkriegs (Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014) wesentliche Grundlagen gelegt, indem er den andernorts häufig vernachlässigten Krieg in Osteuropa bereits mitberücksichtigte.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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