J. Stalfort: Die Erfindung der Gefühle

Cover
Titel
Die Erfindung der Gefühle. Eine Studie über den historischen Wandel menschlicher Emotionalität (1750–1850)


Autor(en)
Stalfort, Jutta
Reihe
Histoire 41
Anzahl Seiten
460 S.
Preis
€ 36,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ute Frevert, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

Jutta Stalfort hat Philosophie und Geschichte studiert; ihre Dissertation (bei Hans-Jürgen Pandel in Halle) zeugt davon. Sie beschäftigt sich, wie der Titel eher undeutlich markiert, mit Konzepten menschlicher Gefühle, wie sie in der berühmten ‚Sattelzeit‘ entwickelt worden sind – vor allem von Philosophen (die das, was später Psychologie hieß, damals noch mitverwalteten), daneben auch von Theologen und zunehmend von Medizinern. Und sie versucht, aus diesen Konzepten eine „historische Studie zur Emotionalität einer Sozialgruppe“ zu destillieren. Gemeint ist das Bürgertum.

Diesem „empirischen Teil“, wie sie ihn nennt, vorgelagert ist ein „theoretischer Teil“. Er verfolgt das Ziel, Emotionen als historischen Forschungsgegenstand zu etablieren. Das geschieht in Auseinandersetzung mit „modernen“ psychologischen Theorien, vor allem mit dem von Silvan Tomkins (durchgehend falsch geschrieben als Sylvan Tomkin) und Paul Ekman vertretenen Konzept angeblich kulturinvarianter Basisemotionen und mit der Erregungs-Kognitionen-Theorie, wie sie von Stanley Schachter, Jerome Singer und anderen entwickelt wurden. Gegen die systematische Vernachlässigung kultureller Faktoren in beiden Konzepten setzt die Autorin sodann die These, dass Kultur entscheidend an der körperlichen und psychischen Formung von Emotionalität beteiligt sei. Kultur stelle nicht nur unterschiedliche Anlässe und Bewertungen von Gefühlen bereit, sondern auch „kulturspezifische Emotionen“, die „von ihrer Physiologie her und von ihrem Sinngehalt nur in einer bestimmten Kultur existieren“ (S. 55).

Für diese These greift Stalfort auf die bekannten Untersuchungen der Linguistin Anna Wierzbicka zurück, die Sprache und Begriffe als Schlüssel zur Erforschung von Emotionen benutzt. Sprache und Begriffe geben einem „Fühlereignis“ Raum und rahmen es auf eine kulturspezifische und oft unübersetzbare Weise. Fühlereignisse (oder auch Fühlerfahrungen, Fühlerlebnisse) sind omnipräsent und ubiquitär, möglicherweise sogar universell. Zu Gefühlen aber werden sie erst dann, wenn sie namhaft gemacht werden. Erst ihre Benennung versieht Empfindungen mit „gerichteten Handlungsimpulsen“ und „kognitiven Szenarien“. In die Benennung (Stalfort nennt das „Emotionalisierung“) gehen kulturspezifische Wertungen, Normierungen, Hierarchisierungen ein, die individuelles Fühlen mit gesellschaftlichen Vorgaben und Konventionen verkoppeln.

Wo aber bleibt die historische Dimension? Wie kommt es zu emotionalem Wandel? Hier verweist Stalfort zunächst darauf, dass sich Fühlerfahrungen und Wahrnehmungsschemata tatsächlich ändern und dass bestimmte Begriffe, die diese Erfahrungen in Gefühle verwandeln, heute weniger bedeutsam und wirklichkeitsprägend sind als vor hundert oder zweihundert Jahren. Als Beispiel dienen ihr Konzepte wie Demut und vor allem Ehre. Die Gründe für solche Veränderungen identifiziert sie sodann in gesellschaftlichen Umbrüchen und Entwicklungen, allen voran in der „Entstehung, dem Wandel und dem Verschwinden einer gesellschaftlichen Gruppe“ (S. 145).

Diese These leitet über in den empirischen Teil, der mit einer Quellendiskussion beginnt. Um die „emotionale Welt“ des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts zu beschreiben, greift die Autorin auf wissenschaftliche Texte zurück, die zwischen 1695 und 1853 (oder zwischen 1700 und 1900, die Zeitangaben schwanken) im deutschsprachigen Raum zu Themen wie „Neigungen“, „Gemütsbewegungen“, „Affekten“, „Leidenschaften“ und „Gefühlen“ veröffentlicht wurden. In diesen Quellen – insgesamt ca. 150 Texte – sucht und findet sie Hinweise auf soziokulturelle Veränderungen der „Emotionalität“. Das beginnt mit einer Verschiebung des Vokabulars: Sprach man im 18. Jahrhundert vorrangig von „Gemütsbewegungen“, wechselte man im 19. Jahrhundert zum Begriff „Gefühl“. Ältere, religiös getönte Vorstellungen von Seele und Lebensgeistern wichen empirisch orientierten Konzepten, die stärker zwischen äußerer Empfindung und innerem Fühlen unterschieden und Differenzierungen nach Intensität und Dauer Raum gaben. Insgesamt konstatiert Stalfort eine „ungeheure Aufwertung“ des Gefühlsvermögens, das, im Gefolge der Locke’schen Philosophie, als weniger bedrohlich erschien und mit positivem Sinn aufgeladen wurde.

Phänomenologisch äußerte sich diese Aufwertung und Aufladung in einer „enormen Ausweitung“ des „emotionalisierten Fühlspektrums“ (S. 384). Will heißen: die Zahl der Benennungen für Gefühle, Affekte und Leidenschaften nahm massiv zu. Im Mittelpunkt standen Freude, Furcht und Schmerz, Scham, Lust und Unlust sowie Zorn. Das war zwar schon im 18. Jahrhundert der Fall, allerdings lassen sich einschneidende Bedeutungsverschiebungen beobachten: Freude und Fröhlichkeit zum Beispiel wurden sehr viel positiver konnotiert, Zorn negativer. Wehmut, der „süße Schmerz“, geriet zum ständigen Begleiter des Menschen. Hierin erkennt die Autorin die Zeichen der neuen, vom Bildungsbürgertum geprägten Zeit. Gefühle, so ihre These, spielen eine elementare Rolle für diese neue soziale Formation, aus der auch die Verfasser der von ihr analysierten Gefühlstexte stammen. Die Philosophen, Theologen und Mediziner, die damals zur Feder griffen und die Landkarte des Emotionalen kartografierten, taten das nicht nur in ihrer Funktion als Wissenschaftler und Gelehrte. Als Angehörige einer neuen, sprachmächtigen und gesellschaftsprägenden Schicht schrieben sie zugleich das kulturelle Skript, das die Wahrnehmungen und Handlungsorientierungen dieser Schicht maßgeblich formte.

An dieser Stelle bricht das Buch ab, nicht ohne eine Reihe von Forschungsdesiderata zu formulieren. Selbstkritisch merkt Stalfort an, dass die Kategorie „Geschlecht“ in ihrer Analyse kaum eine Rolle spielt. Auch die institutionelle Verankerung von Gefühlskonzepten und die darauf aufruhenden sozialen Praktiken kommen, so ist hinzuzufügen, viel zu kurz. Gerade deshalb liefert das Buch eben keine „historische Studie zur Emotionalität einer Sozialgruppe“. Die Gruppe des Bildungsbürgertums, die als extrem gut erforscht gelten kann, taucht lediglich chimärenhaft auf; wer „der Bildungsbürger“ eigentlich war, in welcher (auch von anderen Schichten bevölkerten) Welt er sich befand und welche Welt er sich erträumte und erfühlte, bleibt nebulös. Auch der Wandel der Gefühlskonzepte wird nur angedeutet, hier hätte man sich weiter ausgreifende Analysen gewünscht. Damit argumentiert das Buch letztlich sehr viel mehr philosophisch als historisch. Dazu passt, dass die neue historiographische Literatur zum Thema vollkommen ausgeblendet bleibt. Weder das einschlägige Buch von Thomas Dixon „From Passions to Emotions“, das die von Stalfort beobachtete semantische Wende für die englischsprachige Wissenschaft nachgezeichnet hat, findet sich im Literaturverzeichnis, noch tauchen dort die eng verwandten, am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung entstandenen Arbeiten auf: „Gefühlswissen“ fehlt ebenso wie Jan Plampers „Geschichte und Gefühl“.1 Offenbar ist Stalforts Dissertation ohne Kenntnis dieser älteren und Parallelprojekte entstanden. Hätte sie darum gewusst, hätte sie sich den theoretischen Teil des Buches sparen können, um stattdessen intensiver an der historischen Grundierung und Vermittlung von Gefühlskonzepten zu arbeiten.

Anmerkung:
1 Thomas Dixon, From Passions to Emotions. The Creation of a Secular Psychological Category, Cambridge 2003; Ute Frevert u.a., Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt am Main 2011 (rez. von Marietta Meier, in: H-Soz-u-Kult, 03.04.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-2-007> [16.09.2014])]; Jan Plamper, Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012 (rez. von Lars Koch, in: H-Soz-u-Kult, 10.09.2013, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-3-139> [16.09.2014]).

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