C. Kuller: Bürokratie und Verbrechen

Cover
Titel
Bürokratie und Verbrechen. Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland


Autor(en)
Kuller, Christiane
Reihe
Das Reichsfinanzministerium im Nationalsozialismus 1
Erschienen
München 2013: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benno Nietzel, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

In den letzten Jahren gehörte die wirtschaftlichen Ausplünderung und Enteignung der Juden während des Nationalsozialismus zu einem der wichtigsten Forschungsfelder der NS-Geschichte. Standen dabei längere Zeit vor allem die gewerbliche „Arisierung“ und die mannigfache Beteiligung der deutschen Bevölkerung daran im Mittelpunkt, verlagerte sich das Interesse allmählich hin zur fiskalischen Enteignung der jüdischen Bevölkerung, wodurch der NS-Staat und seine Verwaltung wieder mehr in den Blick rückten. In mehreren regionalen Verbundprojekten wurde die Rolle der Finanzbehörden in der antisemitischen Enteignungspolitik untersucht. Die Münchner Habilitationsschrift von Christiane Kuller geht ursprünglich auf eines dieser Projekte, das sich der bayerischen Finanzverwaltung widmete, zurück.1 Nachdem nun auch das Bundesfinanzministerium ein groß angelegtes Projekt zur Geschichte des Reichsfinanzministeriums im Nationalsozialismus ins Leben gerufen hat, wurde ihre Arbeit als erster Band in die gleichnamige Buchreihe aufgenommen.2

Die Finanzverwaltung als Akteur der NS-Judenverfolgung ist also alles andere als ein neues Forschungsthema. Viele der Fragen und Themen, mit denen sich Kuller in ihrem Buch beschäftigt, hatte etwa die Dissertation von Martin Friedenberger vor einigen Jahren bereits sehr überzeugend behandelt.3 Die Autorin zieht den Rahmen aber noch einmal weiter, betrachtet auch einige bisher vernachlässigte Aspekte und verbindet die Analyse der politischen Ziele der Finanzverwaltung im Geflecht der verschiedenen Verfolgungsakteure mit der Untersuchung der Verwaltungspraxis bei der Umsetzung antisemitischer Verfolgungsmaßnahmen auf den unteren Ebenen. Zudem rückt sie das antisemitische Verwaltungshandeln in der NS-Zeit in eine längere zeitliche Perspektive und zieht aus ihrem Gegenstand Schlussfolgerungen, die auch die Rolle der Verwaltung in der NS-Diktatur im Allgemeinen betreffen.

Die Darstellung gliedert sich nach einzelnen Aktionsfeldern der Judenverfolgung, in die die Finanzverwaltung in unterschiedlicher Weise als Akteur involviert war. Zunächst geht es aber erst einmal um die behördliche Organisation der Finanzverwaltung. Dieses etwas überlange Kapitel macht bereits deutlich, dass die deutschen Finanzbeamten keineswegs nur Ausführende andernorts gemachter Gesetze und Verordnungen waren. Stattdessen ergriffen einzelne Abteilungen bereits früh von sich aus die Initiative und trugen Vorschläge und Konzepte zur Diskriminierung der jüdischen Bürger zusammen. Hierzu bedurfte es keiner massiv „nazifizierten“ Beamtenschaft, denn das personelle Revirement nach der NS-Machtübernahme fiel vergleichsweise mild aus, die Einstellung hoch ideologisierter Überzeugungstäter wie des Staatssekretärs Fritz Reinhardt war insgesamt die Ausnahme.

Das zweite Kapitel wendet sich mit der Steuerpolitik einem zentralen Aufgabenbereich der Finanzverwaltung zu. Mit dem Steueranpassungsgesetz von 1934 wurde die Richtlinie festgeschrieben, die Steuergesetze nach nationalsozialistischer Weltanschauung auszulegen. Kuller hebt hervor, dass die Finanzverwaltung damit als erste öffentliche Verwaltung des Reiches offiziell der NS-Ideologie folgte. Dass sich den Finanzbeamten zahlreiche Spielräume für die informelle Diskriminierung jüdischer Steuerzahler auftaten, hatte aber auch mit längeren Traditionen deutscher Steuergeschichte zu tun. So dienten Steuerregelungen in Deutschland seit jeher auch außerfiskalischen Zielen und boten vielfältige Ermäßigungs- und Erlassmöglichkeiten, die ganz im Ermessen der Finanzbehörden lagen. Diese Instrumente zu nutzen bedurfte keiner grundsätzlichen Umgewöhnung, zumal die Rechtsposition der Steuerpflichtigen in Deutschland traditionell schwach war. Obwohl die Steuerabteilung des Reichsfinanzministeriums sich in den ersten Jahren der NS-Herrschaft zu einem Planungszentrum für die Judenverfolgung entwickelte, war die Steuerpolitik aber letztlich nicht das entscheidende Beraubungsinstrument gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Mit der Judenvermögensabgabe 1938 ging der Fokus endgültig von der steuerlichen Diskriminierung zum Zugriff auf das jüdische Vermögen über. Dass Ende 1938 noch eine eigene Steuerklasse für Juden eingerichtet wurde, hatte praktisch keine großen Auswirkungen mehr.

Die Ausplünderung der jüdischen Emigranten durch Reichsfluchtsteuer und Devisenbewirtschaftung, um die es im dritten Kapitel geht, sind in der neueren Literatur so ausführlich untersucht worden, dass hierzu nichts wesentlich Neues erwartet werden kann. Kuller hebt erneut die Initiative der Finanzverwaltung hervor, die von sich aus die für die jüdische Bevölkerung ungünstigste Auslegung der Reichsfluchtsteuergesetze erarbeitete und umsetzte. Das anschließende vierte Kapitel untersucht die gewerbliche „Arisierung“, bei der die Finanzverwaltung eigentlich eher eine Nebenrolle spielte. In einzelnen Fällen, etwa bei der „Arisierung“ des Petschek-Konzerns, erwiesen sich allerdings Steuernachforderungen der Finanzbehörden als das entscheidende Druckmittel gegenüber jüdischen Unternehmern. Ansonsten war die Tätigkeit der Reichsfinanzverwaltung vor allem darauf ausgerichtet, gegenüber Partei- und Privatinteressen die Profitinteressen des Staates zur Geltung zu bringen. Daher hatten die Finanzämter durchaus ein Interesse an einer gewissen Mindesthöhe von Erlösen aus Unternehmensverkäufen, da die jüdischen Eigentümer erst hieraus die ihnen auferlegten Steuern begleichen konnten. Die Ende 1938 eingeführte „Entjudungsgewinnabgabe“ zielte schließlich auf die exzessiven privaten Profite bei der „Arisierung“. Obwohl ihr Aufkommen nach den Berechnungen Kullers viel höher war als bisher angenommen, konnte der NS-Staat letztlich aber nur einen kleinen Teil dieser Profite abschöpfen.

Mit der staatlichen Enteignung des jüdischen Vermögens beschäftigt sich das fünfte und letzte Kapitel. Auch hier rückt Kuller die Geschehnisse in eine längere zeitliche Perspektive und verweist darauf, dass bereits während der Weimarer Republik die rechtlichen Möglichkeiten der Enteignung erweitert wurden. Der Fokus des Kapitels liegt vor allem auf der Art und Weise, in der die Finanzverwaltung in Konkurrenz mit anderen Instanzen und Akteuren um den Zugriff auf das jüdische Vermögen rang. Erst im Laufe eines längeren Durchsetzungsprozesses rückte sie 1941 in die zentrale Position einer Hauptverwertungsinstanz für das Vermögen der deportierten jüdischen Bürger, musste indes weiterhin die Zugriffsversuche von Reichssicherheitshauptamt, Gestapo und kommunalen Akteuren abzuwehren suchen. Dabei verfolgten die Finanzbeamten die fiskalischen Interessen des Staates, nicht selten aber auch eigene Interessen. Die im Zuge der „Aktion 3“, der Verwertung der Vermögensgegenstände deportierter Juden, propagandistisch herausgestellte Unterstützung von Luftkriegsgeschädigten mit jüdischem Hausrat rangierte in der Praxis keineswegs an erster Stelle, vielmehr sicherten sich der NS-Staat und seine Behörden den größten Teil der Beute.

In ihren Schlussbetrachtungen bündelt Kuller noch einmal wichtige Erkenntnisse zur Rolle von Verwaltung in der NS-Judenverfolgung. Sie hebt heraus, dass gerade die Konkurrenz unterschiedlicher Behörden und Instanzen um das jüdische Vermögen eine radikalisierende Wirkung auf die Enteignungspolitik ausübte, da die verschiedenen Akteure sich mit immer rabiateren Methoden in den Vordergrund zu spielen versuchten. Im Laufe der Zeit veränderte sich dabei der Charakter von Verwaltung; einzelne Abteilungen der Finanzverwaltung begannen ihre Tätigkeit ganz auf die jüdische Bevölkerung auszurichten und entwickelten dazu spezielle Kenntnisse und Routinen. Ein völliger Ausbruch aus früheren Traditionen war dies nicht, denn die deutsche Finanzverwaltung verfügte bereits über Erfahrung damit, hochpolitische und tagesaktuelle Aufgaben umzusetzen. Sie blieb dabei kein reiner Normenstaat, vielmehr lassen sich an vielen Stellen die Auflösung geregelter Verfahren und das Eindringen von Willkür beobachten. Dennoch war, so Kuller, die scheinbare Legitimation durch Verfahren in vieler Hinsicht entscheidend, denn die Finanzverwaltung versah als Hauptverwertungsinstanz das ehemals jüdische Vermögen mit neuen, anerkannten Eigentumsrechten. Ohne die Aura eines geregelten Verwaltungshandelns hätte dies kaum gelingen können.

Als eine thematisch gegliederte Gesamtdarstellung ist das Buch nicht so sehr auf einzelne Thesen oder eine zusammenhängende Erzählung hin komponiert. Der etwas unübersichtliche Aufbau und ein wenig pointierter Schreibstil sorgen bisweilen dafür, dass wichtige Interpretationen und Zwischenergebnisse in der Darstellungsfülle unterzugehen drohen. Für Experten des Themengebietes dürfte der Neuigkeitswert nicht besonders groß sein. Die Stärke des Buches ist es, auf der Basis einer breiten eigenen Quellenrecherche das Forschungsfeld um die Enteignung der jüdischen Bevölkerung im Nationalsozialismus empirisch noch einmal neu aufzurollen und in einen systematischen Zusammenhang zu bringen, der vielfältig anschlussfähig ist. Für künftige Forschungen zur Rolle der Verwaltung im Nationalsozialismus und zur NS-Judenverfolgung wird das Werk eine wichtige Referenz darstellen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Hans Günter Hockerts u.a. (Hrsg.), Die Finanzverwaltung und die Verfolgung der Juden in Bayern, München 2004; Christiane Kuller, Finanzverwaltung und Judenverfolgung. Die Entziehung jüdischen Vermögens in Bayern während der NS-Zeit, München 2008.
2 Zum Gesamtprojekt vgl. <http://www.reichsfinanzministerium-geschichte.de> (27.06.2014).
3 Martin Friedenberger, Fiskalische Ausplünderung. Die Berliner Steuer- und Finanzverwaltung und die jüdische Bevölkerung 1933–1945, Berlin 2008.

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