M. van Ackeren: Die Philosophie Marc Aurels

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Titel
Die Philosophie Marc Aurels. Bd. 1: Textform – Stilmerkmale – Selbstdialog; Bd. 2: Themen – Begriffe – Argumente


Autor(en)
Ackeren, Marcel van
Reihe
Quellen und Studien zur Philosophie 103
Erschienen
Berlin 2011: de Gruyter
Anzahl Seiten
XX, 763 S.
Preis
€ 129,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Horst, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bremen

Während in den letzten Jahren zahlreiche Beiträge der Philosophie Marc Aurels gewidmet worden sind, hatte die ältere Forschung nur ein geringes Interesse an den „Selbstbetrachtungen“. Dies gilt insbesondere für die philosophische Forschung, die sich weigerte, die wie unzusammenhängende Tagebuchnotizen daherkommenden Aphorismen als Philosophie anzuerkennen. Die „Selbstbetrachtungen“, so ihr Urteil, beschäftigten sich ausschließlich mit lebenspraktischen Fragen und ließen darüber hinaus keinen Bezug zu theoretischen Erörterungen erkennen. Diese negativen Einschätzungen wurden in den letzten Jahren grundlegend revidiert. Durch das zunehmende Interesse an der Philosophie der Lebenskunst haben sowohl die „Selbstbetrachtungen“ als auch die kaiserzeitliche Philosophie der beiden ersten nachchristlichen Jahrhunderte eine deutliche Aufwertung erfahren. In diesem Kontext steht auch die im Jahr 2011 veröffentlichte Habilitationsschrift von Marcel van Ackeren, die das Ziel hat, erstmals eine umfassende Interpretation der „Selbstbetrachtungen“ zu bieten. Dabei vertritt van Ackeren die These, dass es sich bei den „Selbstbetrachtungen“ um einen Selbstdialog handelt, für den es in der Antike keine Vorbilder gegeben habe. Die Besonderheit der „Selbstbetrachtungen“ erklärt van Ackeren durch das den Selbstdialog begründende enge Zusammenspiel von Form und Inhalt. Mit dieser These versucht er sich von der bisherigen Forschung abzugrenzen, die Form und Inhalt stets getrennt voneinander untersucht habe. Während die historische Forschung die „Selbstbetrachtungen“ vornehmlich in ihrer Wechselwirkung zur Politik Marc Aurels analysiert habe, sei der philosophische Gehalt von der philologischen Forschung nicht oder nur sehr selektiv berücksichtigt worden, wohingegen die Arbeiten zur Philosophie die Form gar nicht wahrgenommen hätten. Diese Kritik gelte schließlich auch der Monographie von Pierre Hadot.1 Obwohl Hadot nicht nur den Inhalt, sondern auch das Abfassen des Textes als Bestandteil einer „geistigen Übung“ bezeichne, sei der von ihm dargestellte Zusammenhang zwischen Form und Inhalt letztlich nur unzureichend begründet worden.

Angesichts dieser Kritik überrascht zunächst die Entscheidung von van Ackeren, Form und Inhalt wiederum getrennt voneinander zu analysieren. Auf insgesamt 763 Seiten werden in dem ersten Band „Textform – Stilmerkmale – Selbstdialog“ die formalen Besonderheiten der „Selbstbetrachtungen“ untersucht und in dem zweiten Band „Themen – Begriffe – Argumente“ die Inhalte. Dabei wird der Zusammenhang zwischen Form und Inhalt im ersten Band noch wesentlich deutlicher als im zweiten hervorgehoben, in dem nur noch gelegentlich auf die zuvor behandelten formalen Aspekte der „Selbstbetrachtungen“ zurückgegriffen wird. Somit ist vor allem der erste Band für die Begründung der These entscheidend.

Die isolierte Behandlung der Inhalte ist nicht mit dem Ziel verbunden, den unsystematisch erscheinenden „Selbstbetrachtungen“ eine Struktur zu verleihen. Denn auch in diesem Zusammenhang grenzt sich van Ackeren deutlich von Pierre Hadot ab, der ausgehend von der traditionellen Dreiteilung der Philosophie in Logik, Physik und Ethik versucht hat, die einzelnen Überlegungen Marc Aurels verschiedenen Themenbereichen zuzuordnen. Van Ackeren konstatiert stattdessen die nach seiner Auffassung nicht vorhandene Systematik als wesentlichen Bestandteil der „Selbstbetrachtungen“ und versucht im Gegensatz zu Hadot, ein möglichst vielseitiges und repräsentatives Bild von den Inhalten der „Selbstbetrachtungen“ zu zeichnen.

Um zu zeigen, dass es sich bei den „Selbstbetrachtungen“ um praktizierte stoische Philosophie handelt, geht van Ackeren im ersten Band ausführlich auf den Selbstdialog und den Prozess des Schreibens ein. Vor allem das im Werk häufig vorkommende wiederholte Aufschreiben von Sätzen habe die Funktion übernommen, zentrale Gedanken memorieren zu können, um sie für die Bewältigung jeweils aktueller Probleme griffbereit zu haben. Im Unterschied zu einem in der Forschung verbreiteten Ansatz geht van Ackeren davon aus, dass in den „Selbstbetrachtungen“ nicht fremde Lehrsätze verinnerlicht, sondern interne mentale Prozesse in einem Selbstdialog bewusst gemacht und verändert worden seien. Van Ackeren richtet sich an dieser Stelle insbesondere gegen Foucault, auf den die Überlegungen zum Selbstdialog im Wesentlichen zurückgehen.2 Wenn Foucault davon ausgehe, dass in den „Selbstbetrachtungen“ vor allem fremde Gedanken aufgenommen worden seien, könne er den Selbstbezug und den selbstdialogischen Charakter der Schrift nicht überzeugend nachweisen. Dieser von van Ackeren beobachtete Widerspruch hätte durch theoretische Überlegungen zur Subjektivität aufgehoben oder zumindest relativiert werden können. In ähnlicher Weise wie Foucault hat Joachim Dalfen gezeigt, dass die fremden Gedanken und die logoi der Lehrer die „Konzeption und Konstitution des Subjekts“ zum Ziel hatten.3 Ausgehend von diesem Subjektivitätskonzept stellt sich das Subjekt weniger als ein philosophisch-kontemplatives Vermögen als eine Projektionsfläche fremder Gedanken dar. Wenn das Subjekt insbesondere durch die Aufnahme fremder Gedanken konstituiert wird, könnten somit auch die auf fremden Gedanken beruhenden „Selbstbetrachtungen“ als selbstdialogisch bezeichnet werden.4

Van Ackeren versucht seine Argumentation weiterhin durch eine textvergleichende Untersuchung zu unterstützen. Auch in diesem Kapitel soll belegt werden, dass sich die „Selbstbetrachtungen“ im Unterschied zu anderen selbstdialogischen Texten nicht auf ein Außen beziehen. Sein erstes Beispiel sind die homerischen Epen, in denen die Helden den Selbstdialog als etwas erfahren, das durch die Reaktion auf ein äußeres, schwieriges Problem in ihnen aufkommt und laut wird. Schließlich seien auch die zentralen Selbstdialoge bei Seneca und Epiktet eng mit einem interpersonalen Dialog verbunden gewesen. Seneca habe alle Texte an andere Personen gerichtet und auch die Lehrvorträge Epiktets, die nicht von ihm selbst geschrieben worden sind, seien nicht an ihn, sondern an seine Schüler adressiert worden. Dass auch die „Selbstbetrachtungen“ auf ein Außen reagieren, wird jedoch bereits im Ersten Buch erkennbar, in dem sich Marc Aurel an die Worte Frontos erinnert, die ihn insbesondere vor der Aristokratie warnen sollten.5 Da die Aristokratie sich gegen diejenigen Kaiser verschwor, die sich über ihre Interessen hinwegsetzten, stellte das Akzeptanzdefizit seitens der Aristokratie für jeden Kaiser eine Bedrohung dar. Die „Selbstbetrachtungen“ reagieren auf diese Gefahr und versuchen gleichzeitig, sie zu überwinden. Dies wird bereits anhand der Affektenlehre erkennbar, die nicht nur, wie van Ackeren im zweiten Band herausstellt, auf das Erleben von Ruhe, Freude und Gelassenheit ausgerichtet ist, sondern darüber hinaus auch politische Funktionen übernimmt. Dies kann am Beispiel des Zornes verdeutlicht werden, der, wie sich auch anhand weiterer Texte zeigen ließe, von der Aristokratie mit tyrannischen Herrschaftsstrukturen verbunden wurde. Wenn Marc Aurel den Zorn als negativen Affekt bezeichnete, war es ihm möglich, sich gleichzeitig von einem von der Aristokratie kritisierten Herrscherbild zu distanzieren. Umgekehrt übernehmen die in den „Selbstbetrachtungen“ immer wieder hervorgehobenen positiven Affekte wie die Menschenliebe, das Wohlwollen und die Gutgesinntheit die Funktion, der Aristokratie einen ihr wohlgesonnenen Kaiser zu präsentieren. Die Aristokratie muss man sich dabei aber nicht als konkreten Adressaten vorstellen, sondern eher als eine imaginierte Instanz innerhalb eines Selbstdialoges.

Gegen die von der Aristokratie ausgehenden Gefahren und die als feindlich wahrgenommene Außenwelt sollte die Philosophie ein Pharmakon darstellen. Besonders deutlich wird dies anhand der Oikeiosis-Lehre, deren Ziel es ist, sich die Welt allmählich anzueignen und Fremdes zu Vertrautem zu machen. Die Oikeiosis-Lehre übernimmt meines Erachtens auch die Funktion, den unsystematisch erscheinenden „Selbstbetrachtungen“ eine Struktur zu verleihen.6 Leider wird die Oikeiosis-Lehre im Vergleich zum Gesamtumfang der Arbeit von van Ackeren nur sehr knapp behandelt, obwohl er bemerkt, dass die Oikeiosis Marc Aurel bekannt war und von ihm verwendet wurde. Dass sie in den „Selbstbetrachtungen“ nicht genannt wird, ist kein Grund, sie nicht für die Interpretation der Philosophie Marc Aurels zu nutzen, da leitende Gedanken – sieht man von theorieorientierten Werken ab – häufig nur implizit in die Literatur eingehen. Positiv ist hervorzuheben, dass van Ackeren nicht das Zwei-Stufen-Modell unterstützt, das die Oikeiosis immer wieder mit einer normativen Wende von einem primär egoistischen zu einem altruistischen Verhalten verbunden hat. Die Oikeiosis geht hingegen ebenso wie die stoische Philosophie stets von dem Gedanken des individuellen Nutzens aus. Auch die Übernahme von Gemeinschaftsaufgaben wird schließlich mit dem individuellen Nutzen begründet, der nur durch soziales Handeln realisiert und maximiert werden könne.7

Obwohl van Ackeren entgegen einer in der Forschung weitverbreiteten Auffassung zu der überzeugenden These gelangt, dass Marc Aurel nicht den Rückzug aus der Gesellschaft empfiehlt, leitet er den politisch-sozialen Bezug der „Selbstbetrachtungen“ nicht aus der historischen Realität, sondern aus den kosmologischen Vorstellungen ab. Der Zusammenhang zwischen der Philosophie Marc Aurels und der historischen Realität wird vor allem von der geschichtswissenschaftlichen Forschung und der Literatur zur Zweiten Sophistik untersucht, die hier jedoch nicht berücksichtigt werden. Einem Autor, der eine philosophische Untersuchung der „Selbstbetrachtungen“ anstrebt, ist dies nicht vorzuwerfen. Deutlich wird an dieser Stelle vielmehr, dass die „Selbstbetrachtungen“ weiterhin als ein Gegenstand der interdisziplinären Forschung betrachtet werden müssen, wenn es um die Frage geht, welche Funktion die philosophischen Inhalte für die soziale Praxis und die Politik übernommen haben. Die umfassende Interpretation der „Selbstbetrachtungen“, die van Ackeren geleistet hat, stellt nicht nur für die philosophische und die interdisziplinäre Forschung eine entscheidende Grundlage dar, sondern verschafft letztlich auch Marc Aurel wieder einen Platz in der Philosophiegeschichte.

Anmerkungen:
1 Pierre Hadot, Die innere Burg. Anleitung zu einer Lektüre Marc Aurels, Frankfurt am Main 1997.
2 Michel Foucault, Über sich selbst schreiben, in: ders., Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt am Main 2007, S. 137–154; ders., Sexualität und Wahrheit, Bd. 2: Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt am Main 1986; Bd. 3: Die Sorge um sich, Frankfurt am Main 1989.
3 Joachim Dalfen, Autobiographie und Biographie. Der Fall Marc Aurel, in: Grazer Beiträge 23 (2000), S. 187–211, hier S. 191, Anm. 15 u. 193.
4 Vgl. Claudia Horst, Marc Aurel. Philosophie und politische Macht zur Zeit der Zweiten Sophistik, Stuttgart 2013, S. 104–106.
5 M. Aur. ad se ipsum 1,11.
6 Horst, Marc Aurel, S. 85.
7 M. Aur. ad se ipsum 11,4: „Habe ich solidarisch gehandelt? Also habe ich etwas gewonnen.“ Vgl. dazu auch Sen. ep. 6,48,2: „[…] für einen anderen musst du leben, wenn du für dich willst leben.“

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