J. Le Goff: Faut-il vraiment découper l'histoire en tranches ?

Cover
Titel
Faut-il vraiment découper l'histoire en tranches ?.


Autor(en)
Le Goff, Jacques
Reihe
La librairie du XXIe siècle
Erschienen
Paris 2014: Seuil
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 18
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marc Mudrak, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Wenige Wochen vor seinem Tod am 1. April 2014 hat der große französische Mediävist Jacques Le Goff ein schmales Bändchen vorgelegt, das seine Sicht auf die europäische Vormoderne resümiert. Es handelt sich dabei um die Synthese seiner jahrzehntelangen Forschungen unter anderem an der 6. Sektion der Pariser École pratique des hautes études und der daraus unter seiner maßgeblichen Mithilfe hervorgehenden École des hautes études en sciences sociales. Auf 207 Seiten beschäftigt sich der Autor mit der Natur und der zeitlichen Ausdehnung des Mittelalters.

Le Goff macht sich für die Aufhebung der Trennung zwischen Mittelalter und Renaissance stark. Er spricht stattdessen von einem „langen Mittelalter“, das sich von der Spätantike bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts erstreckt habe. Durch diese Integrationsbemühungen und dank des reichhaltigen Bezugs auf aktuelle internationale Forschungsergebnisse sind die Überlegungen Le Goffs nicht nur anschlussfähig an die unterschiedlichen Themengebiete der Geschichtswissenschaft, sondern relevant sowohl für Mediävisten als auch für Frühneuzeit-Historiker. Darüber hinaus beschäftigt sich der Autor mit Sinn und Unsinn der Unterteilung der Geschichte in Zeiträume sowie allgemeiner mit dem Phänomen „Zeit“.

Das Buch beginnt mit einer Reflexion über den doppelten Charakter von Epochenbildungen. Diese entstehen laut Le Goff einerseits aus der Suche nach dem inneren Verbindenden bestimmter Zeitabschnitte, andererseits aus der Suche nach Brüchen und Übergängen. Genau entlang dieser beiden Variablen baut der Autor auch seine Hypothese vom „langen Mittelalter“ auf. Exkursartig blickt er auf die in der Antike und im Mittelalter entwickelten Zeitvorstellungen, etwa die Vier-Reiche-Lehre oder die augustinische Idee von den sechs Weltzeitaltern, mit denen ein Alterungs- und Niedergangsprozess verbunden wurde. Fortschritt oder originäre Neuerung hatten in diesem Zeitdenken keinen Platz, wohl aber Erneuerung bzw. renovatio.

Großen Wert legt Le Goff auf die historiographische Entstehung der Kategorie „Mittelalter“. Im 14. und vor allem im 15. Jahrhundert hatten manche Gelehrte den Eindruck, in einer neuen Atmosphäre zu leben, die auf antike Idealvorstellungen Bezug nahm und sich von der Zwischenzeit – der auf Petrarca zurückgehenden media aetas – abgrenzen musste. Der Mittelalterbegriff setzte sich aber erst im 17. Jahrhundert durch und behielt lange die negative Konnotation, die im 19. Jahrhundert allmählich aufgehoben wurde. Le Goff: „La périodisation de l’histoire n’est jamais un acte neutre ou innocent“ (S. 37). Periodisierungen sind demnach nötig, um die Zeit zu strukturieren. Sie bleiben aber selbst konstantem Wandel unterworfen.

Nach einem vielschichtigen wissenschaftsgeschichtlichen Blick auf die Periodisierungsfrage und die in Deutschland frühe, in Frankreich späte Etablierung der Historie als eigene Fachdisziplin an den Universitäten schreitet Le Goff weiter zu einem ersten zentralen Moment für seine Hypothese des „langen Mittelalters“: der Dekonstruktion der Renaissance als neuem, eigenem Zeitabschnitt. Die historische Kategorie der Renaissance, verstanden als Aufbruchsepoche nach einem chaotischen, finsteren Mittelalter, sei erstmals von Jules Michelet in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France 1840 wirklich dingfest gemacht worden. Aber auch Jacob Burckhardt als einer der Gründerväter der Renaissance kommt in der Schilderung Le Goffs zu seinem historiographischen Recht. Dann geht der Autor näher auf aktuelle Darstellungen der Renaissance ein. Humanismus, Kunst, Religion und die Entdeckung Amerikas würden in diesen weiterhin als distinktive Merkmale angeführt, die epochale Veränderungen bewirkt hätten.

Damit ist Le Goff nicht einverstanden. Das hartnäckige negative Bild des Mittelalters liege heute weniger in diesem selbst begründet, sondern komme insbesondere im Vergleich mit der Renaissance zum Ausdruck. Dann allerdings gelte das Mittelalter noch häufig als barbarisch und rückständig. Le Goff setzt deshalb zu einer wahrhaftigen Verteidigungsschrift an. Die Bezugnahme auf die Vernunft etwa sei an den mittelalterlichen Universitäten allgegenwärtig gewesen in einer Zeit, die überhaupt „lateinischer“ war als die Renaissance. Antike Klassiker wurden im 12. Jahrhundert wiederentdeckt. Scholastik wird zum de-facto-Fortschritt. Auch den Bruch zwischen Mittelalter und Renaissance relativiert Le Goff und erkennt letzterer nur in wenigen Bereichen, darunter der Kunst, tatsächlichen Neuheitscharakter zu.

Dafür sieht er umso mehr Verbindendes in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur. Diese Kontinuitätslinien buchstabiert Le Goff im langen Schlusskapitel seines Buchs durch. Gewichtige historische Veränderungen erkennt er erst im 18. Jahrhundert mit der Kolonialisierung, der Unabhängigkeit der USA, Verbesserungen der Transportwege in Europa oder Neuerungen im Wirtschaftssystem. Davor dominierte Kontinuität bei nur gradueller Differenz. Diese „lange Dauer“ zeige sich in allen möglichen historischen Bereichen: dem ökonomischen Denken, der Ernährung, dem Gebrauch von Metall, bei Kleidung und Sitten, der Dominanz der Landwirtschaft, der Literatur, der Entstehung moderner Staaten, der gesellschaftlichen Organisation und dem Christentum.

Dennoch präsentiert Jacques Le Goff das „lange Mittelalter“ nicht als homogenen, invariablen Block. „La réalité, c’est qu’il y eu dans le fil du Moyen Âge des renaissances plurielles plus ou moins étendues, plus ou moins conquérantes“ (S. 183). Die groß geschriebene Renaissance wird dabei zur „dernière renaissance médiévale“ (S. 186). Eine veritable Epoche sei für gewöhnlich lang und geprägt von kontinuierlichen Entwicklungen, erklärt der Autor. So gebe es in der Geschichte weder Stillstand noch plötzlichen, totalen Umbruch, sondern nur permanente Veränderungen, die mal mehr und mal weniger erfolgreich sind.

Nun könnte man viele Einzeleinwände gegen dieses Gesamtpanorama anführen. Aus deutscher Perspektive fiele dazu unter anderem die Reformation ein, die Le Goff ein wenig vorschnell als Spielart der Christianisierung, keinesfalls aber als Umwälzung beschreibt. Auch ist zu fragen, ob die Selbsteinschätzung mancher Zeitgenossen der Renaissance, tatsächlich in einer neuen Zeit zu leben, so leicht übergangen werden kann.

Dennoch überzeugt Le Goff. Die Kontinuitätsargumente überwiegen mit Blick auf die breite Masse, auf die es dem Annales-Historiker ankommt. Zudem gibt er seinem Konzept die nötige Flexibilität, so dass Nuancierungen oder „mittelalterliche Renaissancen“ durchaus ihren historischen Platz erhalten. Derartige Synthesen, die so gut lesbar und eingängig daherkommen, tatsächlich aber nicht nur profunde Kenntnisse der Vormoderne, sondern auch langwieriges Nachdenken offenbaren, sind heute selten geworden. Le Goff schließt mit seiner Studie an große Traditionen der französischen Forschung an. So etwa an das Nachdenken über die Zeit, die nicht erst seit Braudels „longue durée“ fester Bestandteil der Geschichtswissenschaft links des Rheins ist. Dort ist die Neigung zur Beschäftigung mit langen Dauern und großen Räumen bis heute durchaus üblich. Weiterhin liegen ihm die Lebensbedingungen und Kulturen des „gemeinen Mannes“ am Herzen, die er zur Epochenbildung ideen- oder elitengeschichtlichen Erwägungen zurecht vorzieht. Daraus ist ein lesenswertes, anregendes und erfrischendes Buch entstanden: ein wissenschaftliches Vermächtnis.1

Anmerkung:
1 Seine persönlichen Erinnerungen hat Le Goff schon 1996 in einem spannenden Gesprächsbuch festgehalten. Vgl. Jacques Le Goff, Une vie pour l’histoire. Entretiens avec Marc Heurgon, Paris 1996.

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