J. Jung: Lydia Welti-Escher (1858–1891)

Cover
Titel
Lydia Welti-Escher (1858–1891).


Autor(en)
Jung, Joseph
Erschienen
Zürich 2013: NZZ Libro
Anzahl Seiten
316 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Elisabeth Joris, Zürich

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um eine ergänzte Version der 2008 erstmals aufgelegten Biographie der Zürcherin Lydia Welti-Escher.1 Dem Autor Joseph Jung wurde erst nach deren Erscheinen Einblick in ein bis dahin verschlossenes Konvolut des im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern deponierten Quellenbestands der Familie Welti gewährt. Das Dossier „Angelegenheit Lydia Welti-Escher“ enthält Dokumente, die neue Erkenntnisse über die letzten Lebensjahre von Lydia Welti-Escher ermöglichen. Diese flossen in die dritte Auflage bzw. in die Neuauflage von 2009 ein und führten zu einer leichten Verschiebung in der Bewertung der involvierten Personen. Diese Version wurde 2013 unverändert, aber ohne den rund 250-seitigen Anhang veröffentlicht, der u.a. Briefe und Aufzeichnungen sowie das Scheidungsurteil und das ausführliche psychiatrische Gutachten zweier italienischer Ärzte zum Geisteszustand der Protagonistin enthält.

Lydia Welti-Escher war das einzige Kind von Alfred Escher (1819–1882), dem damals einflussreichsten Schweizer Politiker, Eisenbahnunternehmer und Bankier, der die Nordsüdverbindung Deutschland-Italien durch den Gotthardtunnel durchsetzte. Kurz nach dessen Tod heiratete seine Tochter den Juristen Friedrich Emil Welti (1857–1940), Sohn von Bundesrat Emil Welti (1825–1899), der sich als für den Verkehr zuständiges Mitglied der Schweizer Regierung mit seinem ehemaligen Förderer Escher überworfen hatte. Als Kunstmäzene förderte das Ehepaar den Maler, Radierer und Bildhauer Karl Stauffer-Bern (1857–1891), der in den 1880er-Jahren in Berlin zu den begehrten Porträtisten gehörte und sich 1888 in Rom niederliess. Nachdem sich das Verhältnis zwischen Lydia Welti-Escher und Karl Stauffer in Italien zu einer auch sexuell gelebten Liebesbeziehung gewandelt und sich die beiden in Rom einquartiert hatten, erachtete Bundesrat Welti die Situation für seinen Sohn als unhaltbar. Aufgrund einer von Schwiegervater und Ehemann veranlassten Intervention des Schweizer Gesandten am italienischen Hof, Simon Bavier, wurde Lydia Welti-Escher in Rom in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Der seinerseits ebenfalls auf Veranlassung Baviers verhaftete Stauffer nahm sich später als gebrochener Mann mit einer Überdosis Medikamente das Leben. Kurz darauf verübte auch Lydia Escher (geschiedene Welti) Suizid. In einem einführenden Kapitel stellt Jung diese „Protagonisten“ der nach ihm als „tragische Liebesgeschichte, Kriminalfall und Politskandal“ (S. 15) endenden Biographie vor.

Unter dem Titel „Der Skandal“ folgt die minutiöse Aufarbeitung der Verhaftung Karl Stauffers und der Überredung Lydia Welti-Eschers zum freiwilligen Eintritt in die psychiatrische Anstalt. Jung gelingt es, die höchst fragwürdige und rechtlich nicht zulässige Zusammenarbeit zwischen dem Gesandten Bavier in Rom und Bundesrat Welti in Bern aufzuzeigen. Ebenso fragwürdig erscheint die Indienstnahme von Edmund Schaufelbühl, Leiter der schweizerischen Irrenanstalt Königsfelden, mit dem Ziel, Stauffer vorsorglich für geisteskrank, zu erklären, falls die Anklage, wonach der Künstler die psychisch beeinträchtigte Lydia Welti-Escher vergewaltigt und entführt habe, von der italienischen Justiz nicht geteilt würde. Allerdings zeigte sich die italienische Justiz nicht willfährig, auch nicht die mit der Abklärung von Stauffers Geisteszustand beauftragten italienischen Ärzte, ebenso wenig die beiden Gerichtsmediziner, die Lydia Welti-Eschers psychische Verfassung untersuchten. Diese beurteilten die Patientin aufgrund der genau protokollierten sechs Sitzungen, in der sie Fragen zu ihrer Herkunft, ihrer Ehe, ihrer Gesundheit und zu den inkriminierten Geschehnissen ausführlich und klar beantwortete, sowie aufgrund der körperlichen, physiologischen und psychologischen Untersuchung als geistig gesund und von wachem Verstand. Die Beziehung zu Stauffer sei sie aus freiem Willen eingegangen, sie wolle nicht weiter mit ihrem Ehemann zusammenleben. Beide, Stauffer und Welti-Escher, wurden fast gleichzeitig entlassen, sollten sich jedoch nicht mehr sehen, da Lydia Welti-Escher inzwischen die Liebe zum Künstler aufgekündigt hatte. Jungs Schlussfolgerung, wonach es sich hier um einen krassen Fall von Amtsmissbrauch handle, um die Schuld an der bewusst vorangetriebenen Scheidung Lydia Escher zuzuweisen und damit die ökonomischen Interessen von Friedrich Emil Welti am Escherschen Vermögen durchzusetzen, kann aufgrund der aufgearbeiteten Quellen beigepflichtet werden.

Ärgerlich sind hingegen die persönlich gefärbten Stellungsnahmen des Autors. Er spielt die Rolle des Verteidigers von Lydia Welti-Escher, der die intimen Gefühle der Angeklagten zu kennen weiss: „Lydia ist keine Person, die sich leichtsinnig mit Karl Stauffer einlässt, um sich wenig später eines anderen zu besinnen. [...] Von ihrem Charakter her würde man erwarten, dass sie umso mehr um Stauffer kämpft, je mehr Steine ihr in den Weg gelegt werden.“ (S. 35) Jung begibt sich damit ins Feld psychologischer Spekulation, wie auch mit der Deutung von Lydia Welti-Eschers Brief, mit dem sie Stauffer den Abbruch der Beziehung ankündigt. Der Brief sei zwar eindeutig von ihr abgefasst, doch die „Diktion des Briefes entspricht nicht Lydias Duktus“ (S. 41), sondern demjenigen ihres Ehemanns. Während Jung nicht nur Lydia Welti-Escher in seinen psychologisierenden Erklärungen nur beim Vornamen nennt, sondern oft auch deren Mutter lediglich „Augusta“, werden im ganzen Buch alle in die Auseinandersetzung involvierten Männer immer mit vollem Namen oder mit dem Familiennamen bezeichnet.

Ebenso ärgerlich ist auch das psychologisierende Fazit Jungs über die nachhaltige Wirkung des idealisierten Vaterbildes, das ihr den Zugang zu Männern verbaut habe. Im ‚Double-Bind’ der Verweigerung der vom Vater vorgeschlagenen Ehepartner einerseits und im Ringen um Anerkennung ihrer Wahl anderseits wurzle die „Verzweiflung, die sie 1882 zum Suizidversuch trieb“ (S. 104).

Immer wieder verweist die Biographie über politische Machtstrukturen hinaus auf frauendiskriminierende Gesellschaftsstrukturen, ohne dass Jung diese Verknüpfungen jedoch verdeutlicht. Daher wirkt nach dreissig Jahren historischer Frauen- und Genderforschung das Urteil der Germanistin Hildegard Elisabeth Keller höchst befremdlich, die Joseph Jung in ihrem Geleitwort einen „Pionier der Frauengeschichtsforschung des 19. Jahrhunderts“ (S. 9) nennt. Die individualisierende Argumentation Jungs lässt eher darauf schliessen, dass ihm geschlechtergeschichtliche Ansätze weitgehend fremd sind. Trotz dieser Vorbehalte ermöglicht eine kritische Lektüre dieser Biographie facetten- und aufschlussreiche Einblicke in die Geschlechterordnung des 19. Jahrhunderts im Kontext der sich etablierenden liberalen Wirtschaft- und Gesellschaftspolitik. Für einen Sohn hätte Alfred Escher mit Sicherheit eine akademische oder unternehmerische Ausbildung vorgesehen. Die Tochter jedoch genoss trotz ihrer Position als einziges Kind nur eine ebenso ungezielte wie disparate Allgemeinbildung. Escher erwog für sie lediglich die Position der Bankiersgattin, nie die einer Nachfolgerin. Ihre Eigenständigkeit bewies Lydia Escher im Bestehen auf der vom Vater lange abgelehnten Verbindung mit dem Bundesratssohn. Ihre Abhängigkeit von normativen Leitbildern war aber mindestens ebenso stark wie ihr Widerstandsgeist. Sie manifestierte sich in der zumindest in ihrem Sprechen ausgedrückten Suche nach dem starken Arm und ihrem Selbstverständnis als Muse und grosszügige Förderin der bildenden Kunst.

Was Jung in den abschliessenden Kapiteln bezüglich der Vermögensaneignung Friedrich Emil Weltis durch die Scheidung aufzeigt, ist ein Lehrstück in Sachen geschlechtshierarchischer Machtverhältnisse. Mehr als fragwürdig ist auch der von ihm minutiös aufgearbeitete öffentliche Umgang mit der Kunststiftung, die Lydia Welti-Escher gründete und der Eidgenossenschaft vermachte. Die mit einem immensen Vermögen dotierte Stiftung sollte der Konstituierung einer Kunstsammlung dienen. Mit der auf starken Druck des inzwischen von ihr geschiedenen Friedrich Emil Welti hin geänderten Bezeichnung in „Gottfried Keller- Stiftung“ verschwand auch der namentliche Hinweis auf die Stiftungsgründerin. Hinter der schludrigen bis statutenwidrigen Verwendung des Stiftungsvermögens verbirgt sich eine Geschichte, die alle Ingredienzen eines politischen und kunsthistorischen Skandals enthält. So erweist sich die vorliegende Biographie trotz wissenschaftlicher Mängel als lesenswert. Sie ergänzt die schon aufgearbeiteten Biographien von Frauen aus dem Bürgertum um eine weitere vielschichtige Figur.

Anmerkung:
1 Joseph Jung, Lydia Welti-Escher (1858–1891). Biographie, Zürich 2009.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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