J. Chapoutot: Der Nationalsozialismus und die Antike

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Titel
Der Nationalsozialismus und die Antike.


Autor(en)
Chapoutot, Johann
Erschienen
Anzahl Seiten
500 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Willing, Marburg

Vor rund 40 Jahren leitete Losemanns Dissertation „Nationalsozialismus und Antike“ die Erforschung der Verstrickungen der deutschen Althistorie mit dem NS-System ein.1 Seinerzeit stark angefeindet, griff sie bereits auf archivalische Quellen zurück und bahnte einer kritischen Auseinandersetzung mit der „braunen Vergangenheit“ den Weg. Zahlreiche einschlägige Studien folgten, die das „Dritte Reich“ lexikalisch erfassten2, in die Verlaufsgeschichte der althistorischen Disziplin einordneten3, einzelne Gelehrte porträtierten4, die Darstellung antiker Epochen unter nationalsozialistischen Vorzeichen untersuchten5, institutionelle Entwicklungslinien nachzeichneten6, Äußerungen Hitlers sowie seiner Epigonen zur Antike analysierten7 und Konferenzergebnisse zu der Problematik zusammenfassten.8 Mutatis mutandis trifft diese kontinuierliche Verdichtung der wissenschaftsgeschichtlichen Aufarbeitung auch auf die Schwesterdisziplinen Klassische Archäologie und Klassische Philologie zu, sodass mittlerweile ein hoch spezialisierter Kenntnisstand zu der Materie zu verzeichnen ist.

Das vorliegende Werk des französischen Historikers Johann Chapoutot, das auf seiner 2008 veröffentlichten Doktorarbeit „Le national-socialisme et l’Antiquité“ basiert, greift die Thematik auf. Für die hervorragende Übertragung ins Deutsche zeichnet der versierte Philologe Walther Fekl verantwortlich. Chapoutot gliedert seine Studie in drei Hauptkapitel. Der erste Teil, „Die Annexion der Antike“, erörtert die vielgestaltigen Bestrebungen der Nationalsozialisten, die Geschichte in ihrem Sinne zu vereinnahmen. Den Ausgangspunkt bildete die These Hitlers aus dem Jahr 1920, wonach alle Hochkulturen letztendlich ihren Ursprung bei den nordischen Ariern gehabt hätten. Unter der Losung ex septentrione lux, die alle bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse quasi auf den Kopf stellte, wurde die Antike als Teil der indogermanischen Geschichte interpretiert und in das deutsche Erbe inkorporiert.

Diese herbeiphantasierte Ursprungsthese ermöglichte nicht nur die Aufwertung der vermeintlich „primitiven“ Germanen, die von Heinrich Himmler, der SS und anderen deutschtümelnden Kräften glorifiziert wurden, sondern konnte auch als Rechtfertigung deutscher Expansionsbestrebungen instrumentalisiert werden. Zum „Partei-Evangelium“ stilisiert und in den Rang eines „Staatsdogmas“ erhoben (S. 41), fand die nordische Ursprungslehre in dem berüchtigten „Rassenkundler“ Hans F. K. Günther ihren radikalsten und einflussreichsten Verfechter. Schulbücher, Lehrschriften, Lexika wie der „Brockhaus“ sowie Gelehrte aus der Archäologie, Althistorie, Klassischen Philologie, Kunst, Pädagogik und Philosophie sorgten für eine enorme Verbreitung des Nordismus im „Dritten Reich“. Am Beispiel von Martin Heidegger zeigt Chapoutot die Faszination auf, die der Nationalsozialismus mit seiner „Annexion der Antike“ auf Intellektuelle zu entfalten vermochte.

Im zweiten Teil der Studie untersucht der Autor „Die Nachahmung der Antike“. Anknüpfend an die Idealisierung des klassischen Griechenlands, die bereits im 18. Jahrhundert durch Johann Joachim Winckelmann erfolgt war, sahen die Nationalsozialisten eine rassische Identität zwischen den antiken Vorbildern und den deutschen Ariern. Der durch Sport gestählte, mit hohem Intellekt ausgestattete nordische Krieger firmierte zum Schönheitsideal in Kunst und Kultur. Die Inszenierung der Olympischen Spiele von Berlin 1936 und ihre filmische Überhöhung durch Leni Riefenstahl folgten dieser Dramaturgie. Dabei setzte die NS-Propaganda insbesondere den Staffellauf von der Peloponnes in die Reichshauptstadt zur Entzündung der olympischen Flamme als konkrete Materialisierung der Verwandtschaft der Griechen des Altertums mit den Deutschen der Gegenwart ein.

Platon stilisierte man zum „Denker der Diktatur und des Rassenstaats“ (S. 206), während Aristoteles, Sokrates und die Stoiker an Reputation verloren. Zum vorbildlichen Militärstaat für den „Schwarzen Orden“ der SS avancierte Sparta, in dem Heldentum und Opferbereitschaft einer Elite es ermöglicht hätten, die „Rassereinheit“ durch die Züchtung schöner Körper und Ausmerzung von „Minderwertigen“ zu bewahren. Auch das Imperium Romanum erregte Hitlers größte Bewunderung, was angesichts seiner Antike-Fixierung nicht verwundern kann. Übernahme von römischer Symbolik in den Standarten der NS-Organisationen, die neu geschaffene Monumentalarchitektur, der Reichsautobahnbau und die megalomane Weltherrschaftsidee orientierten sich am Römischen Reich, wobei man mit gigantischen Großprojekten (das Zeppelinfeld in Nürnberg oder die Ruhmeshalle in „Germania“) die antiken Vorbilder noch zu übertreffen suchte.

Der dritte Teil des Werkes ist dem „Nachhall der Antike“ gewidmet. Hitler fasste unter Verdrehung der Lehren Darwins den Verlauf der Geschichte als „Rassenkampf“ auf, in dem das nordische Abendland gegen die orientalische Gefahr, oder, noch primitiver, Arier gegen Semiten einen permanenten Überlebenskampf ausfochten. Daher richtete sich die Aggression des NS-Staates gegen die Juden, die den „Volkskörper“ unterwandern und zersetzen sowie als „Weltparasit(en)“ (S. 315) in Erscheinung treten würden. Als Beispiel für dieses menschenverachtende Zerrbild verweist Chapoutot auf den bekannten Propagandafilm „Der Ewige Jude“ aus dem Jahr 1941 mit seiner widerwärtigen Rattenmetapher. Auch sei in verquerer Logik eine Wesensverwandtschaft zwischen antikem Judentum, Christentum und den Bolschewisten der Gegenwart konstruiert worden, sodass der Ausrottungsgedanke der Wannseekonferenz, der Holocaust, den Nazis geradezu „als Akt rassischer Notwehr“ gegen das „jüdisch-christlich-bolschewistische Komplott“ erschienen sein musste (S. 311 u. 329).

Als Gründe für den Zerfall der antiken Zivilisationen machte die NS-Ideologie Geburtenrückgang, Dekadenz sowie die „Entnordung“ des Volkes durch „Semitisierung und Vernegerung“ aus (S. 346). Die verhängnisvolle „Rassenmischung“ habe so das Ende des Imperium Romanum und des Alexanderreichs verursacht. Das Verbot der Kapitulation und die scheinbar irrsinnige Fortsetzung des verlorenen Krieges bis zur totalen Vernichtung in den letzten Monaten des NS-Regimes interpretiert Chapoutot überzeugend mit der Inszenierung des eigenen Untergangs im Sinne einer Wagnerschen „Götterdämmerung“. Vorrangiges Ziel Hitlers sei es gewesen, nach römischem Vorbild großartige Bauten oder zumindest ihre Ruinen zu hinterlassen, um sich ein Denkmal zu setzen und vor der Nachwelt unsterblich zu machen. Das deutsche Volk, das die Herausforderung des „Rassenkampfes“ nicht bestanden hätte, habe damit seine Existenzberechtigung verloren und müsse in einem Fanal von der Bühne der Weltgeschichte abtreten. Das Werk klingt mit Schlussbetrachtung, Bibliographie und Namensregister aus.

Angesichts der eingangs erwähnten intensiven Forschungen kann man zwar nicht davon sprechen, dass „der Bezug des Nationalsozialismus zur Antike kaum das Interesse der Historiker geweckt“ habe (S. 16), doch verdient die Monographie Chapoutots dennoch hohe Wertschätzung. Dies liegt zum einen in dem multiperspektivischen Zugriff begründet, der eine totalitäre Mobilisierung des Altertums durch das Hitler-Regime aufzeigt. Das Verhältnis von NS-Ideologie und Antike wird quasi „aus einem Guss“ dargestellt, sodass die Absurdität des Rassenwahnsinns und seine erschreckend konsequente Umsetzung offenkundig zutage tritt. Zum anderen ist die exzellente stilistische Leistung des französischen Kollegen hervorzuheben, der mit einer feinsinnigen Portion Ironie aufwartet. Wenn der NS-Ursprungsmythos mit dem Ungeheuer von Loch Ness verglichen (S. 48), Günthers krude Rassentheorie als „hermeneutisches Delirium“ bezeichnet (S. 70) oder Hitler als „Bunker-Leonidas“ tituliert wird (S. 395), dann gehen wissenschaftliche Qualität und intellektuelles Vergnügen Hand in Hand.

Anmerkungen:
1 Volker Losemann, Nationalsozialismus und Antike. Studien zur Entwicklung des Faches Alte Geschichte in den Jahren 1933–1945, Hamburg 1977.
2 Volker Losemann / Hans-Ernst Mittag, Art. „Nationalsozialismus“, in: Der Neue Pauly, Bd. 15/I, Stuttgart 2001, Sp. 723–767.
3 Karl Christ, Römische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft, München 1982; ders., Hellas. Griechische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft, München 1999.
4 Diemuth Königs, Joseph Vogt. Ein Althistoriker in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Basel 1995; Stefan Rebenich, Alte Geschichte in Demokratie und Diktatur. Der Fall Helmut Berve, in: Chiron 31 (2001), S. 457–496; Martina Pesditschek, Barbar, Kreter, Arier. Leben und Werk des Althistorikers Fritz Schachermeyr, 2 Bde., Saarbrücken 2009.
5 Beat Näf, Von Perikles zu Hitler? Die athenische Demokratie und die deutsche Althistorie bis 1945, Bern 1986; Stefan Rebenich, From Thermopylae to Stalingrad. The myth of Leonidas in German historiography, in: Anton Powell / Stephen Hodkinson (Hrsg.), Sparta, beyond the mirage, Swansea 2002, S. 323–349.
6 Cornelia Wegeler, „…wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik“. Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921–1962, Wien 1996.
7 Alexander Demandt, Klassik als Klischee. Hitler und die Antike, in: Historische Zeitschrift 274 (2002), S. 281–313; Volker Losemann, „Ein Staatsgedanke aus Blut und Boden“: R. W. Darré und die Agrargeschichte Spartas, in: Laverna 16 (2005), S. 67–120.
8 Beat Näf (Hrsg.), Antike und Altertumswissenschaft in der Zeit von Faschismus und Nationalsozialismus, Mandelbachtal 2001.

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