A. Spilker: Geschlecht, Religion und völkischer Nationalismus

Titel
Geschlecht, Religion und völkischer Nationalismus. Die Ärztin und Antisemitin Mathilde von Kemnitz-Ludendorff (1877–1966)


Autor(en)
Spilker, Annika
Reihe
"Geschichte und Geschlechter" 64
Erschienen
Frankfurt / New York 2013: Campus Verlag
Anzahl Seiten
S. 447
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Kemper, Hamburger Institut Sozialforschung

Wer die öffentliche Debatte über den Stand des Feminismus verfolgt, reibt sich mitunter verwundert die Augen. Jenseits der differenzierten fachlichen Auseinandersetzungen zu gegenwärtigen Geschlechtskonstruktionen und –normierungen, beschränken sich öffentliche Rekurse auf feministische Positionen in überwiegend stupider Verkürzung auf das Schlagwort „Sprachpolizei“ oder die soziale Facette „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“. Zudem findet auch die Geschichte der Frauenbewegung – das ist eine weitere Zumutung – meist als Sozial- weniger als Ideengeschichte statt. Allzu oft gerät in Vergessenheit, auf welche reichhaltige und schillernde ideelle Bandbreite der Feminismus, wie alle Gedankengebäude, blicken kann. Anders ausgedrückt, verschwinden Frauen meistens dann aus den Analysen, wenn von Intellektuellen die Rede ist; herausragende weibliche Persönlichkeiten gelten als Ausnahmen, nicht als Facetten ideengeschichtlicher Diskurse. Alternativen hierzu und jenseits der fachspezifischen Queer-Studies erschienen zum Glück jüngst.1

Die Ideen des Feminismus zeigten sich immer wieder anschlussfähig für äußerst unterschiedliche politische Richtungen. Wer sich vergewissern will, wie weit die Querverbindungen reichen und wie sehr zusammengehen konnte, was mittlerweile aus dem politischen Gesichtsfeld verbannt zu sein scheint, dem und der sei die Dissertation von Annika Spilker empfohlen. Im Mittelpunkt ihrer 2012 an der Universität Kassel abgeschlossenen Arbeit steht Mathilde von Kemnitz-Ludendorff, die als Teil der Frauenbewegung gelten muss, die sich als Ärztin profilierte und die schließlich mit ihrem dritten Ehemann Erich Ludendorff ab Mitte der 1920er-Jahre zum Kopf der völkischen „Ludendorff-Bewegung“ avancierte. Die Religionsintellektuelle von Kemnitz-Ludendorff, wie sie von Spilker eingeführt wird, kann als eindrückliches Beispiel für die persönlichen, ideellen und habituellen Verwerfungen angesehen werden, die intellektuell aufgeschlossene und zugleich ehrgeizige Menschen zwischen Ende des 19. Jahrhunderts und der Zwischenkriegszeit erfahren konnten. So manche, nicht nur feministische, gegenwärtige Debatte lässt sich nur mit einem Blick auf diese Zeit verstehen, als sich in Deutschland aus kaum begradigten Denkströmen und -stilen weitverzweigte Suchbewegungen bildeten und Lebensreform, Emanzipation, Okkultismus, Nationalismus, Rassismus, medizinische Neuerungen in Psychiatrie, Hygiene und Sexualkunde miteinander verbanden. Die Themenfelder waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts unabgeschlossen, dynamisch und gleichzeitig von großer persönlicher Konkurrenz gekennzeichnet. Wer sich hier auf intellektuelle Auseinandersetzungen in einem Thema einließ, konnte am Ende ganz woanders Sinnerfüllung finden.

Mathilde von Kemnitz-Ludendorff wuchs in einem religiösen, aber kritischen Haushalt auf. Ihr Vater Bernhard Spieß, Theologe und Philosoph, beeindruckte sie zusammen mit ihrer Mutter wegen des stetigen „‘Ringens‘ mit der christlichen Religion“. Sowohl die Lehre von der göttlichen Dreifaltigkeit, als auch die manifeste Geschlechterhierarchie innerhalb der christlichen Kirche standen innerhalb von Kemnitz‘ Familie immer wieder in Frage. Nach ihrer Lehrerausbildung nahm Mathilde von Kemnitz 1901 ein Medizinstudium auf, ein zu dieser Zeit kompliziertes und waghalsiges Unternehmen für Frauen, denen erst 1899 vom Deutschen Bundesrat die Genehmigung erteilt worden war, das medizinische Staatsexamen ablegen zu können. Sie gehörte somit zur ersten Frauen-Generation, die sich innerhalb der akademischen Berufswelt das Recht auf Anerkennung erstritt. Das gleichberechtigte, wenngleich auf Verschiedenartigkeit beruhende Zusammengehen von Männern und Frauen sowohl in der Ehe oder Sexualität als auch in politischen Unternehmungen, stellte dementsprechend einen roten Faden in ihrem Engagement dar, wenngleich sich die ideelle Ausrichtung im völkischen Sinne stark radikalisierte. Spilker legt anschaulich dar, wie dieses Geschlechterverständnis Teil eines übergreifenden Leitthemas in von Kemnitz‘ Weltbild darstellte. Gespeist aus einer religiösen Sinnsuche fand sie sowohl in der monistischen Lehre Ernst Haeckels als auch im völkischen Religionsverständnis immer wieder zum Thema Einheitlichkeit. So hatte sie etwa während ihres Medizinstudiums Vorlesungen bei August Weismann gehört, dessen Vererbungslehre darauf hinauslief, einen essentiellen, unveränderbaren Kern der Erbanlagen anzunehmen.

Ihre sexualmoralischen, später völkisch-religiösen Erneuerungsvorstellungen unterfütterte Mathilde von Kemnitz mit profundem Wissen aus der zeitgenössischen Psychiatrielehre und Rassenhygiene. Die Fähigkeit zur wissenschaftlich-medizinischen Ausdrucksform sicherte ihr nicht nur öffentliche Wahrnehmung sondern auch Anerkennung in politischen Kreisen. Inhaltlich wurde von Kemnitz von der damals schon umstrittenen, aber gleichzeitig wirkungsvollen Lehre Emil Kraepelins geprägt. Einerseits trug Kraepelin maßgeblich dazu bei, die „Einheitspsychose“ zu delegitimieren und die „Existenz vieler unterschiedlicher Störungen“ zu belegen (S. 123), andererseits legte er für diese Störungen klare, naturwissenschaftlich zu analysierende Krankheitsbilder fest, die jenseits aller persönlichen und umweltbedingten Faktoren beim Patienten feststellbar seien. Kraepelin war Leiter der Münchner psychiatrischen Klinik, wo von Kemnitz nach ihrer Dissertation ab 1913 als Assistentin arbeitete. Am Beispiel der in diesem Kontext propagierten Psychiatrielehre, die auch die Behandlung von traumatischen Neurosen während des Ersten Weltkrieges bei Soldaten beeinflusste, zeigt Spilker das weit verzweigte Netz von Personen und Ideen auf, die den völkischen Diskurs stimulierten und von der Psychoanalyse bis zum Okkultismus reichen konnten.

Mathilde von Kemnitz politisierte und radikalisierte sich im Laufe des Krieges. Ein Zusammengehen mit der Frauenbewegung nach 1918 misslang, obwohl sie frauen- und sexualpolitisch progressive Positionen vertrat. Da sie diese mittlerweile mit einem sehr ausgeprägten Nationalismus verband, der oberhalb der geschlechterpolitischen Forderungen eine grundsätzliche „rassenpsychologische Differenz“ annahm (S. 158), verband sie mehr mit anderen völkischen Autorinnen wie Pia Sophie Rogge-Börner oder Lenore Kühne. Die weiblichen völkischen Intellektuellen, zu denen auch Käthe Schirmacher zählte, kannten sich offenkundig untereinander vor allem durch ihre Veröffentlichungen, auf die sie gegenseitig Bezug nahmen. Aber konkrete Vernetzungen oder Zusammenarbeit fanden nur selten statt. Spilker geht der Frage jedoch nicht weiter nach, ob die emanzipierten völkischen Frauen gezielt auf Netzwerke von Männern setzten, um sich zu etablieren. Bei Mathilde von Kemnitz ist dieser Umstand jedenfalls augenfällig.

Nach dem Tod ihres ersten Mannes und ihrer kurzen gescheiterten zweiten Ehe, näherte sich von Kemnitz ab Anfang der 1920er-Jahre zunehmend völkischen Gruppierungen an – ihr Wohnort München bot hierfür zu dieser Zeit zahlreiche Möglichkeiten. Spilker geht ausführlich auf das Kennenlernen und Annähern mit Erich Ludendorff ein, den Mathilde 1923 kurz vor dessen Beteiligung am Hitler-Putsch kennenlernte. Ihre Partnerschaft und spätere Ehe war offenkundig von einer bis dahin für von Kemnitz ganz neuen gleichberechtigten intellektuellen Anerkennung gekennzeichnet. Sie hatte bis dahin ihre sexualmoralischen oder völkischen Ideen vor allem als Ausnahmepositionen erlebt und sowohl ihre Ausbildung als auch Erfahrungen im Gesundheitswesen als konstante Ausnahmesituationen erfahren. Vor diesem Hintergrund erklären sich zum Teil auch Mathilde von Kemnitz-Ludendorffs Positionsveränderungen, also Radikalisierungen, und ihr Ehrgeiz, in einer völkisch grundierten, auf prinzipieller Einheitlichkeit pochenden Bewegungen, wie die von ihr mitkreierte Ludendorff-Bewegung, endlich Erfüllung zu finden.

Dies alles zeichnet Spilker bis in die Zeit des Nationalsozialismus anschaulich und gut lesbar nach, vervollständigt durch eine ausführliche Werkanalyse von Mathilde von Kemnitz-Ludendorffs Schlüsselwerken, die sie zwischen 1913 und 1921 anfertigte. Hier muss nun auch die Kritik ansetzen, denn das von Spilker intellektuellengeschichtlich ausgebreitete Panorama, in dem von Kemnitz-Ludendorff als Schnittstellen-Protagonistin zwischen den verschiedenen Denkströmungen und Zeiten vor und nach dem Ersten Weltkrieg agierte, ist bemerkenswert und bietet Stoff für weitergehende Überlegungen zum feministischen und rechten Denkstilwandel. Vor allem die bei von Kemnitz-Ludendorff immer wieder auftauchende Figur der Einheitlichkeit, die sich aus essentialistisch begründeter Vielfältigkeit speiste, lädt dazu ein, den Bogen bis zu gegenwärtigen rechtskonservativen Konzepten wie dem sogenannten Ethnopluralismus zu reflektieren. Soweit führt Spilker ihre Untersuchung jedoch nicht fort; anders ausgedrückt macht sie den feministisch-völkisch-religiösen Ideensack nicht ganz zu. Sowohl ein Ausblick auf die Zeit nach 1945 und jenseits des Spruchkammerverfahrens gegen von Kemnitz-Ludendorff wäre hilfreich, als auch die pointierte Volte, inwieweit Feminismus und völkisches Denken auch gegenwärtig sehr wohl zusammengehen und ein fundamentalistisches Weltbild formen können. Spilkers Fazit bleibt hinter dem Potenzial der sehr guten Untersuchung zurück.

Anmerkung:
1 Siehe etwa den Themenschwerpunkt zu Shulamit Firestone, in: Mittelweg 36/23 (2014). Vgl. auch Rossana Rossanda, Versuch einer posthumen Wiedergutmachung an den Frauen von 1789, in: Argument 56/3 (2014), S. 319–324.

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