Martin Klüners: Geschichtsphilosophie und Psychoanalyse

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Titel
Geschichtsphilosophie und Psychoanalyse.


Autor(en)
Klüners, Martin
Erschienen
Göttingen 2013: V&R unipress
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 49,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Haas, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Das an der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation entstandene Buch unternimmt den überzeugenden Versuch, in Sigmund Freuds Arbeiten einen Beitrag zur Geschichtsphilosophie aufzuspüren. In einem als „dreigliedrigen Dialog“ (S. 24) bezeichneten Vorgehen wird dieses Ziel entfaltet. Zunächst wird Freud in einen Dialog mit der geschichtsphilosophischen Tradition gesetzt. Dabei wird von Platon über Augustinus, Hobbes, Rousseau, Kant, Hegel und Marx sowie Burckhardt und Nietzsche, über die Vertreter des philosophischen Historismus Weber, Jaspers und Toynbee, die Vertreter der Frankfurter Schule bis zu Danto, Ricoeur und White nichts ausgelassen, was sich in einem Einführungsband in die Geschichte der Geschichtsphilosophie finden ließe. Jeder einzelne der behandelten Autoren wird – nach einer Einführung in den jeweiligen geschichtsphilosophischen Ansatz – in einem Kapitel in Beziehung zu Freud gesetzt. Dieser Teil nimmt fast die Hälfte des Umfanges des Buchs ein.

Der zweite Teil setzt Freuds Arbeiten in Bezug zur zeitgenössischen Wissenschaft und arbeitet chronologisch entlang der einzelnen Schriften des Begründers der Psychoanalyse geschichtsphilosophische Ansätze heraus. In einem dritten Abschnitt, dem kürzesten, werden die Aussagen Freuds zu historischen Ereignissen chronologisch geordnet. Ihre Systematisierung geschieht dabei über eine Parallelsetzung von Menschheitsgeschichte und individueller Lebensabschnittsfolge: Dies geben die Kapitelüberschriften transparent wieder: Es beginnt mit „infantia: Das Altpaläolithikum“ und geht unter anderem über „adolescentia: Das Neolithikum“ nach Bronze- und Eisenzeit bis zum abschließenden sechsten Abschnitt „senectus: Die germanische Welt“.

Als Definition der Geschichtsphilosophie und damit auch als Bewertungsmaßstab wird diese als philosophische Formation charakterisiert, die zwischen Voltaire und Marx mit Vorläufern und einigen Nachzüglern anzusiedeln ist. Sie beschreibt Geschichte als Universalgeschichte mit einem klar benennbaren Ende und folgt Kants Theorem vom Ausgang des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit (S. 25). Alles Nachfolgende wird mit einiger Penetranz als „Schwundstufe“ (unter anderem S. 18) bezeichnet. An diesem Maßstab – und nicht etwa daran, was die Lektüre Freudscher Schriften dem aktuellen geschichtstheoretischen Diskurs zu bieten hätte – orientiert sich das Vorgehen. Aktuelle Debatten und Diskurse bleiben insgesamt in der Arbeit weitgehend unbeachtet. Damit ist die Arbeit dezidiert, wenn auch nicht argumentativ herausgearbeitet, gegen postmoderne und kulturwissenschaftliche geschichtstheoretische Ansätze geschrieben – mithin genau jene Ansätze, die einer psychoanalytischen Öffnung historischer Reflexion offen stehen (S. 24).

Der erste Teil stellt nach einer Zusammenfassung des jeweils behandelten Autors, der im vorliegenden Buch, in dem man keine universelle Einführung in die Geschichtsphilosophie sucht, eigentlich unnötig wäre, Parallelen und Widersprüche zur Psychoanalyse heraus. Dies fußt aber nicht auf einer methodisch sauber durchgeführten begriffsanalytischen Arbeit oder historisch verifizierbaren Rezeptionswegen. Allzu oft bleiben die Aussagen daher im Vagen und Allgemeinen und haben keine für den in Freuds Werk aufzudeckenden geschichtsphilosophischen Ansatz systematische Funktion. Eine solche Systematisierung gelingt auch im zweiten Abschnitt nicht, in dem die Partikel in den einzelnen Werken Freuds zusammengetragen werden. Insgesamt stellt dies einen guten Materialfundus dar, bei dessen Lektüre man nachvollziehen kann, wie reizvoll und überzeugend der Ansatz, Freuds Psychoanalyse als Geschichtsphilosophie zu lesen, hätte sein können, wenn man öfters strukturierte begriffsanalytische mit diskursanalytischer Methodik kombiniert hätte anstatt auf ein über weite Strecken bloß assoziatives Verfahren zu setzen. Aber immerhin bewegt sich das vorliegende Buch damit im Rahmen des Freudschen therapeutischen Programms. Wenn es gelungen wäre, dieses als ein methodisches Verfahren herauszuarbeiten, das sich in eine aktuelle kulturwissenschaftliche Methodologie gewinnbringend einsetzen ließe, wäre eine Perspektive entwickelt worden, die das Anliegen, Freud als Geschichtsphilosophen ernst zu nehmen, anschlussfähiger präsentiert hätte.

Psychoanalyse ist ein breiter, in sich äußerst heterogener Diskurs, der nicht allein im Werk Freuds aufgeht. Freuds Versuche, eine monolithische Schulbildung zu betreiben, die alternative Ansätze im Keim ersticken sollte, und besonders auch sein kulturwissenschaftliches Werk prägt, wird in der vorliegenden Arbeit nicht kritisch mit in die Betrachtung eingebunden. Die Reflexion bleibt auch zu sehr auf die deutsche Rezeption oder besser formuliert mangelnde Rezeption von Freuds Ansätzen fokussiert und positioniert sich daher allzu wenig in einem globalen methodischen Diskurs, der aktuell das Theoretisieren von Geschichte zu Recht prägt.

Auch wenn eine Auseinandersetzung mit dem Erklärungspotential der Freudschen Psychoanalyse im vorliegenden Buch nicht stattfindet, ist es ein ambitioniertes und in der Idee überzeugendes Unternehmen. In der Umsetzung bleiben aber erhebliche Mängel. Sie nehmen dem Buch die in der Idee vorhandene Überzeugungskraft. In erster Linie liegt dies im Mangel expliziter Methodik im Umgang mit den Texten Freuds. Darüber hinaus fehlen eine selbstkritische Reflexion des eigenen Argumentationsortes und eine Anbindung an den aktuellen Forschungsstand. Dennoch bietet das Buch eine Fülle spannender Anregungen zur Neubeschäftigung mit Sigmund Freud und der klassischen Psychoanalyse im Rahmen geschichtstheoretischer Diskussionen.

Kommentare

Von Klüners, Martin06.08.2014

Es stellt eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar, eine über 300seitige Arbeit in einer kaum mehr, im vorliegenden Fall sogar deutlich weniger als tausend Wörter zählenden Rezension zu besprechen. Eine Beschränkung auf das, was individuell wichtig erscheint, ist der Kompromiss, der dabei notwendigerweise geschlossen werden muss. Freilich birgt ein solcher Kompromiss nicht selten das Risiko zu großer Vereinfachung und daraus resultierender Einseitigkeit. Und mithin besteht aus genannten Gründen in Einzelfällen die Gefahr, dass die geübte Kritik ihrem Gegenstand nicht mehr wirklich gerecht wird. Dies ist m.E. auch das Problem von Stefan Haas' Rezension meiner 2013 bei V & R unipress erschienenen Dissertation mit dem Titel „Geschichtsphilosophie und Psychoanalyse“.

Haas lässt sich kaum auf die Arbeit selbst und damit ihre eigentliche Leistung ein. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den zentralen Thesen meiner Dissertation, wie ich sie mittlerweile übrigens auch schon in unterschiedlichen Aufsätzen publiziert habe1, sucht man in Haas' Besprechung somit vergebens. Weder der epistemologische Diskurs, noch die mannigfaltigen interdisziplinären Verknüpfungen, noch die Einbettung der Untersuchung in eine breit angelegte geistes- und philosophiegeschichtliche Gesamtschau werden von ihm in irgendeiner Weise diskutiert. Auffällig ist überdies, dass Haas fast nur aus Einleitung und Inhaltsverzeichnis zitiert. Gänzlich falsch ist seine Behauptung einer „Parallelsetzung von Menschheitsgeschichte und individueller Lebensabschnittsfolge“ im dritten Teil meiner Arbeit, die durch die dortigen Kapitelüberschriften „transparent wieder[gegeben]“ werde – hätte man hier zusätzlich zu den Kapitelüberschriften einmal den kurzen einleitenden Absatz zu diesem Teil des Buches gelesen, hätte auffallen müssen, dass die Kapitelüberschriften eben gerade keine Parallelsetzung von Menschheitsgeschichte und individueller Lebensabschnittsfolge intendieren, sondern als „spielerische[r] Umgang mit einer geschichtsphilosophischen Tradition“ zu verstehen sind (S. 254). Haas’ abschließendes Urteil, dass „eine Auseinandersetzung mit dem Erklärungspotential der Freudschen Psychoanalyse im vorliegenden Buch nicht stattfindet“ sowie seine gleichzeitige Attestierung „erhebliche[r] Mängel“ bei der Umsetzung des immerhin als ambitioniert bezeichneten Vorhabens kann man unter dem Eindruck des Vorgenannten, id est des konsequenten Ignorierens der im Buch eigentlich verhandelten Debatten und der dabei gewonnenen Erkenntnisse, wohl kaum anders denn als Anmaßung werten.

Um nicht missverstanden zu werden: Es ist völlig legitim, wenn Haas die seiner Meinung nach in meiner Untersuchung zu kurz gekommene Berücksichtigung gewisser Aspekte kritisiert, die er für wichtig hält. Jede Arbeit hat ihre natürlichen Grenzen, keine Arbeit leistet alles. Von diesem – aus meiner Sicht allerdings doch sehr einseitigen, die eigentliche Absicht der Dissertation komplett ausblendenden – Standpunkt aus aber das ganze Buch abzuqualifizieren als mehr oder weniger gescheiterten Versuch, Psychoanalyse und Geschichtsphilosophie zusammenzudenken, darf man gelinde gesagt als tendenziös bezeichnen.

Haas’ Rezension umfasst weniger als 800 Wörter und damit nur ungefähr die Hälfte der bei HSK zulässigen maximalen Wortzahl. Es wäre also durchaus noch Raum gewesen für eine präzisere, insgesamt ausgewogenere Diskussion des Buches. Dies wäre zumindest eher im Sinne einer zu postulierenden Rezensionskultur gewesen, die sich um ebenso faire wie angemessene Urteile bemüht.

Anmerkung:
1 Vgl. Martin Klüners, Die Dialektik von Natur und Geschichte. Einige psychoanalytische Antworten auf klassische Fragen der Geschichtsphilosophie, in: Psychosozial 37 (2), 2014, S. 97-108. Zuvor u.a. schon in ders., Die Krankengeschichte als ,Novelle‘ – Die Entstehung der Psychoanalyse im Lichte der erzähltheoretisch inspirierten Geschichtsphilosophie, in: Christina Knoll/ Vanessa-Isabelle Reinwand (Hrsg.), Forschung trifft Literatur. Aktuelle Forschungsthemen im Spiegel literarischer Werke, Oberhausen 2011, S. 85-101.


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