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Titel
Signale aus der Vergangenheit. Eine kleine Geschichtskritik.


Autor(en)
Ernst, Wolfgang
Erschienen
München 2013: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
211 S.
Preis
€ 26,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Haas, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Um die Geschichtsphilosophie ist es still geworden. Und die Frage, aus welcher Richtung ein neuer Impuls zu ihrer Wiederbelebung zu erwarten wäre, ist nicht einfach zu beantworten. Vielversprechend ist der Weg über den Begriff des Mediums, nicht nur, weil er in klassischen Geschichtsphilosophien nicht oder kaum explizit reflektiert wird, sondern besonders auch, weil er verspricht, unsere an permanenter medialer Selbstüberholung reiche Zeit auf den Begriff zu bringen. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung unternimmt nun der an der Humboldt-Universität lehrende Medientheoretiker Wolfgang Ernst.

Kaum jemand ist zu einem solchen Unterfangen geeigneter als Ernst, hat er doch Geschichte und Archäologie studiert und zur Geschichtsästhetik von Antikensammlungen promoviert. Und auch in späteren Arbeiten spielen mit Gedächtnis und Erinnerung zentrale Kategorien des geschichtstheoretischen Diskurses eine bedeutende Rolle in seinen Arbeiten.

Dabei beginnt das mit einem weitreichenden, wenn auch im Begriff der „kleinen“ Geschichtskritik selbstkritisch vorsichtig formulierte Vorhaben, mit einer einfachen Medienerfahrung. Anstatt danach zu fragen, wie uns die Quellen (als Metapher für heraussprudelndes) Wissen über Vergangenheit ermöglichen, wird das gegenwärtig Vorhandene der Vergangenheit als ein (mediales) Signal begriffen, das spezifisch auf Zeit verweist. Ausgang ist damit die einfache Tatsache, dass Vergangenes immer nur in der Gegenwart ist, dass Gedächtnis in der Gegenwart stattfindet. Geschichte als eine kontinuierliche Abfolge von Zeiteinheiten ist das Resultat einer Modellierung, die meist narrativ funktioniert. Die Abfolge, in der Staaten, Nationen und Individuen Identität formulieren, ist eine symbolische, nicht eine der realen Überlieferung. Soweit folgt das Buch den Arbeiten von Benedict Anderson, Hayden White und dem großen Rest mehr oder minder kulturhistorisch zu nennender Arbeiten, die Wissen und damit auch Identität als ein Konstrukt ansehen, wobei die Bedingungen des Konstruiertseins Fragen der Metatheorie und damit des Nachfolgers der Geschichtsphilosophie darstellen.

Wolfgang Ernst betont nun, dass diese Abfolge von Zeiteinheiten nur eine Form ist, in der uns Zeit begegnet. „Geschichtliches Geschehen ist in viel höherem Maße eine Funktion techno-logischer also materieller wie symbolischer Dispositive als es die klassische Historiographie einsah.“ (S. 20) Was dann zu schreiben wäre, ist eine „Medienarchäologie der Historie“ (S. 21). Den Ansatzpunkt der hier ansetzenden, sehr komplexen und nicht immer ohne Vorkenntnisse des jüngeren medientheoretischen Diskurses zu lesenden Argumentationsführung kann man in einem veränderten Umgang mit Quellen sehen. Die quellenkritische Methode definiert den Wissenschaftsanspruch der Geschichte im Ansatz des Historismus. Ablagerungen der Zeit in Gestalt von Umschreibungen, Palimpsesten, willentlichen oder zeitbedingten Zerstörungen müssen rückgeführt werden auf die Ursprungsform. Die Historischen Hilfswissenschaften waren auch entstanden, um die Ablagerungsprozesse der Zeit rückgängig zu machen und den Ursprungstext zu rekonstruieren. Dieser wurde dann entlang der wahr-falsch Binarität beurteilt, was wiederum zur Erzählung einer (vermeintlich) wahren Geschichte führte.

Anders dagegen stellt sich das Problem, wenn wir mit neuen Medien umgehen. Die Signalprozesse kennen diese Ablagerungen nicht. Audioaufnahmen beispielsweise sind, soweit ihre Dekodierungstechnik noch zur Verfügung steht, so wieder aktivierbar, wie sie entstanden sind. Es bedarf keiner hermeneutischen Rekonstruktion im Anschluss an eine quellenkritische Analyse eines ursprünglichen und wahren Sinngehalts. Damit verschiebt sich das klassische Portfolio der Geschichtswissenschaft: „Die Emanzipation der Historischen Hilfswissenschaften vom Primat des historischen Diskurses steht an.“ (S. 23) Die Dinge werden also nicht zunächst in die Geschichte und damit in einen präfigurierten Sinnkontext eingeordnet. Vielmehr zählt die Präsenz des Artefakts, also die Verschränkung von materiellen Eigenschaften und Einbettung in symbolische Kodierungen. Wo die historisch-hermeneutische Lesart den Sinn herausarbeiten will, sucht die medienarchäologische nach der Form des gegenwärtig Vorhandenen.

Damit nimmt Ernst einen Ansatz auf, der sich um die Toronto School gruppiert hat. Das Medium ist nicht nur ein zu vernachlässigender Träger einer zu interpretierenden Botschaft, es ist wesentliches Moment der Sinngenerierung, insofern es als Agency auftritt, die im Moment der Dekodierung und Enkodierung die Botschaft den technischen Bedingungen und damit der Materialität des Mediums unterwirft. Damit geht es für Ernst nicht mehr um die narrative Modellierung von historischer Zeit, sondern um Zeitverkettungen und Zeitsignale auf der Signifikantenebene. Das ist dann auch mit dem sehr schön gewählten Titel „Signale aus der Vergangenheit“ gemeint: nicht mehr die Erkennbarkeit des Vergangenen durch die überkommenen Überreste, sondern der durch das technisch-mediale Dispositiv bedingten Auseinandersetzung mit komplexen, technisch modellierten Zeitverhältnissen. Ließen sich in der klassischen Historiographie die quellenkritisch rekonstruierten vermeintlich wahren Ereignisse in eine Chronologie des Früher und Später einordnen, so erzeugen technische Übertragungsmedien eine andere Zeit und andere Zeitintervalle. Sprachliche Semantik ist ein nachgeordnetes, wenn überhaupt vorhandenes Element der Art und Weise, wie hier Sinn erzeugt wird. Damit steht ein Wechsel in der Aufstellung der Geschichtswissenschaft an: an die Stelle des sinnauslegenden Historikers tritt der medienwissenschaftlich informierte „Zeitkritiker“.

Diese Grundthese ist nicht ganz neu, sondern speist sich aus vielen Theoremen und Argumenten, die im Kontext der kulturwissenschaftlichen Theoriebildung in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt wurden. Kittler und Heidegger sind oft zitierte Bezugsgrößen. Die poststrukturalistische ebenso wie die neuere medienwissenschaftliche Theoriebildung bildet den Hintergrund, vor dem die Argumentation entfaltet wird. Daneben argumentiert Wolfgang Ernst immer auch mit historischen Entwicklungen und Innovationen in der technischen Mediengeschichte. Die Technik wird dabei nicht nur benutzt. Sie ist wesentliche (handlungsmächtige) Agency der Kulturgeschichte.

Das eminent Wichtige an dem Buch von Ernst ist aber, dass es diese Ansätze für eine Geschichtstheorie fruchtbar macht, die nicht nur wie beispielsweise Hayden White die Beschränkungen im Wissenschaftsanspruch der Geschichtswissenschaft deutlich macht. Vielmehr geht es um die Veränderungen, die die medialen Entwicklungen auszulösen beginnen und wie intensiv diese das (immer noch in weiten Teilen dominierende) hermeneutische Basisgefüge der Geschichtswissenschaft unterminieren. Nicht der spezifische Gebrauch der (bald nicht mehr ganz so) Neuen Medien, besonders der digitalen, ist entscheidend für die Theorie und Forschungspraxis der Geschichtswissenschaft, sondern die in der technischen Medialität bedingte Modifikation in der Darstellung und Konstruktion von Zeitverhältnissen. Dieser geschichtstheoretisch sehr bedeutsame Gedanke, der hier in diesem Buch Konturen annimmt, ist mit dem Begriff „Signale aus der Vergangenheit“, die eben eine andere Forschungspraxis erfordern, als es Quellen tun, sehr gut auf den Begriff gebracht. Damit macht das sehr lesenswerte Buch eines auf einer sehr anspruchsvollen theoretischen Argumentationsebene deutlich: Dass es hier um mehr geht als darum, wie Archive in Zukunft die nicht mehr so neuen Neuen Medien archivieren. Es geht darum, wie sich die Geschichtswissenschaft in einer technisch-medial veränderten Zeit neu aufstellen kann.

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