St. Abke: Sichtbare Zeichen unsichtbarer Kräfte

Cover
Titel
Sichtbare Zeichen unsichtbarer Kräfte. Denunziationsmuster und Denunziationsverhalten 1933-1949


Autor(en)
Abke, Stephanie
Reihe
Studien zum Nationalsozialismus 6
Erschienen
Tübingen 2003: edition diskord
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Kaminsky, Fliedner Kulturstiftung Düsseldorf

Auf dem Umschlag des Buches findet sich die Reproduktion eines Denunziationsschreibens an die Kreisbauernschaft Stade vom Januar 1936, in dem der Nachbar wegen des Umgangs mit einem Juden denunziert wird. Der Denunziant mochte „wenn möglich“ nicht seinen Namen genannt wissen, da es sich um seinen „Cosenk“ handelte. Da der Anzeigende sich offenbar nicht sozial ‚co-versenken‘ will, erscheint dieser Wunsch verständlich. Die Einstimmung in das Thema Denunziation, das in vielen Fällen in verwandtschaftliche Nahbereiche führt und soziale Schicht als Faktor kenntlich macht, wird im Verlauf der Untersuchung zugunsten einer systematischen Vielschichtigkeit, ja gewissen Beliebigkeit aufgelöst. Der erste Eindruck einer bis in die Nachkriegszeit verlängerten Denunziationsgeschichte aus dem ländlichen Bereich während der NS-Zeit geht fehl, belehrt uns die Autorin doch um ihre systematische Absicht, die auch als Ausgang aus dem Problem der disparaten empirischen Basis zu verstehen ist. So benutzte sie im Wesentlichen überlieferte Akten regionaler Gerichte, ergänzt durch die Analyse regionaler Zeitungen. Den von ihr selbst als „mangel- und lückenhafte Quellenlage“ (S. 56) beschriebenen Umstand versucht sie durch eine Ausweitung des Blickes auf Denunziation auszugleichen. So lässt sie bei der Definition bewusst die Grenze zur rechtmäßig erstatteten Anzeige offen und schlägt vor, unter Denunziation „eine sprachliche Formel für die Weitergabe von Informationen zu begreifen, die das Ziel verfolgen, eine Person oder Personengruppe in den Augen des Adressaten zu diskreditieren und eine Sanktionierung zu bewirken“ (S. 61). Diese Verschiebung von den vermeintlich niederen Beweggründen der Denunzierenden zu den angerufenen Instanzen ist nicht ohne Tücken.

Nachdem sie den Lesern auf 75 Seiten die Instrumente in Form des Untersuchungsgebiets (Landkreise Stade, Bremervörde und Land Hadeln), der Quellen und der theoretisch-methodischen Überlegungen dargelegt hat, behandelt sie in einem ersten Teil historische Phasen der Denunziation (Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit) und schließt in einem zweiten Teil analytische Aspekte der Denunziationsforschung an. In der ersten Phase 1933 bis 1939 geht es um die dominierenden Anlässe der Denunziationen, die in der Ausschaltung politischer Gegner und der so genannten „Heimtücke“, der Kriminalisierung von Regimekritik bestanden. Beschreibungen von Denunziationen im Rahmen der Judenverfolgung und angesichts des reglementierten Wirtschaftslebens schließen sich an. In der Kriegszeit standen als Anlässe für Denunziationen Verstöße gegen das Abhören ausländischer Sender und gegen die Kriegswirtschaftsverordnungen sowie wegen „verbotenen Umgangs“ mit Ausländern im Vordergrund. Stellen diese Phasen einer Denunziationsgeschichte der NS-Zeit bereits in anderen Studien hinreichend beschriebene Zusammenhänge dar, so bedeutet der Einbezug der Nachkriegszeit durchaus den Versuch, ein Desiderat der zeitgeschichtlichen Forschung insgesamt zu verringern. In den Jahren 1945 bis 1949 dominierten als Anlässe der Denunziation zunächst politische Anschuldigungen im Rahmen der Entnazifizierung und Verstöße gegen die weiter geltende Kriegswirtschaftsverordnung, die in den Konflikten zwischen Einheimischen und zuwandernden Flüchtlingen instrumentalisiert wurden. Hier erfährt der Leser wirklich Neues.

Der erste Teil erscheint dabei als Regionalgeschichte von Verfolgung und Denunziation in einer ländlichen Gesellschaft. Angesichts der aufgrund der disparaten Quellenlage eher zusammengesammelten Fälle von Denunziation aus einer Vielzahl unterschiedlicher Quellengattungen (eine quantitative Übersicht über die herangezogenen Fälle oder deren Verteilung findet sich leider nicht) verwundern hierbei manche Aussagen, die von „häufiger“ oder weniger häufigem Auftreten von Denunziationsfällen im Untersuchungsgebiet im Vergleich zu in diesen Fragen wesentlich quellengesättigteren Studien über andere Landesteile berichten 1, auch wenn die Illustration durch nachvollziehbar interpretierte Einzelfälle als gelungen bezeichnet werden kann.

Im zweiten Teil werden analytische Gesichtspunkte der Denunziationsforschung systematisch vertieft. Gesetzliche Regelungen, Normenabhängigkeit und Adressaten der Denunziation werden beschrieben und der Aspekt der Denunziation als soziale Praxis betont. Klare Aussagen vermisst der Leser jedoch, da für jedes Beispiel (z.B. Schichtgleichheit von Denunzierten und Denunzianten) immer auch ein Gegenbeispiel geboten wird, wodurch die Einzelfallbedeutung in den Vordergrund tritt. Dies mag seinen Grund in der schwierigen quantitativen Basis haben, die sich in qualitativer Betrachtung in Vielschichtigkeit auflöst und sich eben nicht verdichtet. Zudem versagen die amtlichen Akten oft vor der systematischen Fragestellung eine Antwort, da z.B. die Motive einer Denunziation in Mischungen von Ärgerreaktionen, Neid, Rache, Kränkung oder Pflichtgefühl bestanden hatten, die sich zwar zum Teil in den Einzelfällen herleiten lassen, doch oft auch nur plausibel vermutet werden können. Die Autorin stellt gerade vor dem Hintergrund der in der Nachkriegszeit erfolgten Denunziationen heraus, dass diese primär privat motiviert waren und keines ideologischen Überbaus bedurften, was sie auf eine Überbewertung solcher Motive in der nationalsozialistischen Zeit schließen lässt. In einem Ausblick auf Denunziation in der frühen Bundesrepublik plädiert Stephanie Abke erneut für einen erweiterten Denunziationsbegriff, der auch in demokratischen Gesellschaften Anlässe findet. Wer wollte dies bestreiten, auch wenn die möglichen Hintergründe („konservative Familienpolitik der Adenauer-Regierung“, kalter Krieg, soziale Ungleichheit etc.) etwas allgemein und beliebig erscheinen. Damit der Rezensent jedoch angesichts des ausgeweiteten Denunziationsbegriffs nicht selbst der damit definierten Gefahr des „Bloßstellens“ und „Anprangern“ erliegt, sei hier geendet.

Die abschließende Frage „Existiert denn überhaupt eine Gesellschaftsform, in der Denunziation nur eine untergeordnete oder überhaupt keine Rolle spielt?“ (S. 403) ist letztlich nur noch als rhetorische zu verstehen. Ob denn da ein internationaler Vergleich oder mehr ethnologische und verhaltenswissenschaftliche Perspektiven „wertvolle Erkenntnisse zutage fördern“ sei dahingestellt.

Anmerkung:
1 Vgl. Diewald-Kerkmann, Gisela, Politische Denunziation im NS-Regime oder die kleine Macht der Volksgenossen, Bonn 1995; Dördelmann, Kathrin, Die Macht der Worte. Denunziation im nationalsozialistischen Köln, 1997; Dörner, Bernward, „Heimtücke“. Das Gesetz als Waffe. Kontrolle Abschreckung und Verfolgung in Deutschland 1933-1945, Paderborn 1998.

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