U. Huhn: Glaube und Eigensinn

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Titel
Glaube und Eigensinn. Volksfrömmigkeit zwischen orthodoxer Kirche und sowjetischem Staat 1941 bis 1960


Autor(en)
Huhn, Ulrike
Reihe
Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 81
Erschienen
Wiesbaden 2014: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
363 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sonja Lührmann, Simon Fraser University (Kanada)

Das religiöse Leben in den offiziell dem Atheismus verschriebenen sozialistischen Staaten Osteuropas und Asiens hat als Forschungsthema derzeit Konjunktur. Bezogen auf die Sowjetunion schließt sich langsam die durch die Sperrfristen der Archive bedingte Lücke zwischen den zwanziger und dreißiger Jahren, die schon relativ früh von Historikern erforscht wurden, und der Umbruchsituation der neunziger Jahre, die vor allem Ethnologen und Politikwissenschaftlern in den Blick genommen haben. Ulrike Huhns bei Harrassowitz veröffentlichte Dissertation, die die wiedererstarkten religiösen Praktiken in den letzten Jahren des zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit als Indiz für ein verändertes Verhältnis der sowjetischen Bevölkerung zu ihrer Staatsmacht deutet, leistet dazu einen fundiert recherchierten Beitrag.

Thematisch bezieht sich die Arbeit auf die russisch-orthodox geprägte Bevölkerung der zentralen Schwarzerdegebiete Russlands und deren Reaktionen auf die staatliche Religionspolitik. Dass der deutsche Überfall auf die Sowjetunion eine Kehrtwende in der Haltung der sowjetischen Führung zur orthodoxen Kirche bewirkte, ist wohl bekannt. Wo noch 1937/38 die Vernichtung kirchlicher Strukturen und Würdenträger auf dem Programm stand, wurden ab 1943 institutionelle Rahmenbedingungen geschaffen, unter denen die Kirche und andere Religionsgemeinschaften im sozialistischen Staat existieren konnten. Wie aber die Landbevölkerung (sowohl Gläubige als auch die mit der Umsetzung der Kirchenpolitik betrauten Funktionäre) diesen Umschwung deutete und darauf reagierte, bleibt weitgehend im Dunkeln und lässt sich aus den Quellen oft nur indirekt rekonstruieren. Huhn hat in akribischer Detektivarbeit Text- und Bilddokumente aus zentralen und regionalen Archiven zusammengetragen und zeigt auf, welche Fragen Laien, Geistliche und Funktionäre beschäftigten.

Ein großer Vorzug des Buches liegt darin, dass es einen klaren Gegensatz zwischen atheistischem Staat und bäuerlichem Widerstand ebenso vermeidet wie die absolute Trennung von institutionalisierter Religion und Volksfrömmigkeit. Statt „Widerstand“ wählt Huhn als theoretischen Rahmen den von Alf Lüdtke übernommenen Begriff des Eigen-Sinns, der es ihr erlaubt, religiöse Praktiken als solche ernst zu nehmen und nicht automatisch auf „antisowjetische Manifestationen“ zu reduzieren (S. 31). Gleichzeitig konnte das Beharren auf dem Eigen-Sinn inoffizieller Praktiken die Grenzen dessen, was ein Sowjetbürger sein und tun konnte, vorsichtig erweitern: „Wer im Sommer 1941 für den sowjetischen Sieg betete und in Petitionen auf Kirchenöffnungen drängte, um einen Ort für die Trauer um die […] gefallenen Söhne zu haben, stellte zwar einerseits seine Loyalität gegenüber dem sowjetischen Regime unter Beweis, dehnte aber damit zugleich den Rahmen des Möglichen aus und wies der als potentiell antisowjetisch diffamierten Handlung des Gebets einen neuen Sinn zu.“ (S. 32) Im Einzelnen gelingt Huhn die Abkehr vom Topos des Widerstands nicht immer. Aber im Ganzen zeigt sie eindrücklich den Übergang von der sich der Kollektivierung widersetzenden Bauernschaft der dreißiger Jahre zu den „sowjetischen Gläubigen” der fünfziger, für die der sozialistische Staat kein Feind mehr war, sondern unabänderlicher und meist als normal angenommener Lebenszusammenhang.

Jedes Kapitel des Buches hat eigene zeitliche und geografische Schwerpunkte. Am Anfang steht die Umbruchssituation der Kriegsjahre, als überraschend für die kirchlichen Hierarchen, aber auch für einfache Gläubige und für Staatsbeamte in der Provinz, die vorher fast gänzlich zerstörten kirchlichen Strukturen plötzlich wieder aufgebaut werden sollten. Berichte lokaler Korrespondenten des Verbands der militanten Gottlosen zeigen, wie schnell sich Nachrichten von dieser überraschenden Wende verbreiteten und oft als weitergehende Zugeständnisse interpretiert wurden, als sie gemeint waren. Stalin sei jetzt gläubig und werde überall Kirchen öffnen, schlossen manche Bürger, andere interpretierten die Nachricht vom eigentlich für die Propaganda unter den Alliierten herausgegebenen Buch „Die Wahrheit über die Religion in Russland“ als Anzeichen, dass jetzt die Verbreitung religiöser Ansichten im Land wieder erlaubt sei (S. 77f.).

Das dritte Kapitel enthält die originellsten Materialien des Buches, bei denen es um den Wiederaufbau kirchlicher Strukturen in der Eparchie Tambow in Südrussland geht. Am Beispiel dieses Bistums, in dem es 1943 keine geöffnete Kirche mehr gab, stellt Huhn dar, unter welchen Schwierigkeiten die von oben angeordnete politische Kehrtwende in die Praxis umgesetzt wurde. Zu diesen Schwierigkeiten zählte die Integration von Priestern und Gemeinden, die der Anfang der zwanziger Jahre zeitweise vom Staat unterstützten Erneuerer-Bewegung angehört hatten, und der Umgang mit Priestern, die (wie viele ihrer Bischöfe auch) vor dem Krieg in Lagern gesessen hatten. Der 1944–46 in Tambow tätige und später heiliggesprochene Bischof Luka (Voino-Jassenezki) bezog hier eine ungewöhnlich klare Position, indem er sich offen für Priester mit Lagervergangenheit einsetzte und gleichzeitig forderte, dass Erneuerer-Priester nur durch öffentlichen Bußakt wieder für das Moskauer Patriarchat arbeiten konnten. Der Verlust kirchlicher Archive machte es aber unmöglich, die Vergangenheit der Kandidaten effektiv zu kontrollieren. Durch den scharfen Kontrast zwischen Bischof Luka und Personen aus dessen Umfeld, die einen versöhnlicheren Kurs im Umgang mit dem Staat steuerten, bietet Tambow ein besonders eindrückliches Beispiel für weiter verbreitete Konfliktlinien.

Die folgenden Kapitel handeln von Wallfahrten orthodoxer Laien mit oder ohne Begleitung von Priestern, die in den Nachkriegsjahren vielerorts zu Massenerscheinungen wurden. Diese gemeinsamen Besuche verehrter Quellen, Seen und verlassener Klöster, deren Teilnehmerzahlen bis zum Beginn der neuen antireligiösen Kampagnen unter Nikita Chruschtschow stetig anstiegen, veranschaulichen das breite Spektrum religiös motivierten Handelns unter wechselnden politischen Bedingungen. Huhn übt hier berechtigte Kritik an Interpretationen, für die jede Beteiligung an einer Wallfahrt schon eine Abspaltung von der offiziellen Kirche bedeutet, und verweist auf den Unterschied zwischen illegalen Praktiken, die als Protest gegen die staatliche Kirchenpolitik gemeint waren, und denen, die lediglich den Mangel an geöffneten Kirchen durch den Besuch offiziell nicht anerkannter Kultstätten kompensierten.

Allerdings kommt Huhn selbst bisweilen mit der Quellenlage in Schwierigkeiten, wenn sie etwa das Neuaufkommen von Berichten über Wallfahrten ab 1944 als Indiz dafür deutet, dass die entsprechenden Stätten wirklich seit der Zeit der Kollektivierung in den späten zwanziger Jahren nicht besucht worden seien. Über den Klaren See im Gebiet Gorki schreibt sie z.B., die 1944 einsetzenden Berichte über alljährliche Massenwallfahrten am Tag des Altarfests eines benachbarten Dorfes zeigten „das Wiederaufleben von religiösen Festtraditionen, die in den 1930er-Jahren weitgehend aus dem öffentlich begangenen dörflichen Festkanon verschwunden waren“ (S. 249, vgl. auch S. 215). Später heißt es dann allerdings, dass dörfliche Altarfeste erst 1937 unmöglich wurden, und ab 1939, „als sich eine Entspannung der Religionspolitik abzeichnete“, schon wieder begangen wurden (S. 257). Als Leser stellt man sich die Frage, ob es in den Quellen klare Hinweise darauf geben kann, dass bestimmte Traditionen vor 1944 abgerissen waren, oder ob die 1944 (neu) einsetzenden Berichte einfach dadurch begründet sind, dass es nun mit den Bevollmächtigten des Rates für Kirchenangelegenheiten zuständige Staatsbeamte gab. Vorher, wie Huhn selbst darstellt, fiel die Zuständigkeit für alles ideologisch Fremde der Geheimpolizei zu, deren Archive für Historiker bislang nicht zugängig sind.

Allgemein hätte dem Buch eine differenziertere Reflektion darüber gut getan, wie mit der von der Autorin sehr wohl als problematisch erkannten Außenperspektive der meisten vorhandenen Dokumente umzugehen sei. Huhn merkt zwar an, Quellenbegriffe wie „Gerücht“ seien von analytischen Kategorien zu trennen (S. 39). Gleichzeitig zweifelt sie aber selten an der Faktizität dessen, was Aktivisten des Verbandes der Gottlosen oder Bevollmächtigte für religiöse Angelegenheiten über dörfliche Praktiken berichten, selbst wenn diese Berichte offensichtlich denunziatorischen Charakter haben, z.B. bei Anschuldigungen gegen Gläubige, sie würden andere Dorfbewohner dazu zwingen, im Dampfbad Kreuze zu tragen (S. 51). Im letzten Kapitel, das wieder auf Gerüchte als Form inoffizieller Kommunikation zurückkommt, findet Huhn dann einen überzeugenderen Interpretationsansatz. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt der in offiziellen Quellen nacherzählten Gerüchte und Anekdoten zeichnet sie die Entwicklung des von den Gerüchten vorausgesetzten Verhältnisses zwischen orthodoxen Laien und Staatsmacht zwischen den späten 1930er- und 1950er-Jahren nach: von der Verkörperung des Antichrist wurden Regierungsvertreter auch für gläubige Bürger zu Autoritätspersonen, an deren Auftreten und gesellschaftliche Funktion sich sogar das Bild des Priesters manchmal symbolisch anglich. Die Kriegszeit veränderte nicht nur das Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften, sondern auch die Orientierung der Sowjetbürger in der sie umgebenden Institutionenlandschaft, die eine neue Normalität gewonnem hatte. Diese Schlussfolgerung weist über das Thema Volksreligiosität hinaus zu Fragen der gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik der Nachstalinzeit, bei deren Erforschung bisher religiöse Faktoren relativ wenig Beachtung gefunden haben.

Ulrike Huhns Monografie bereichert die Forschung zur Kultur der späteren Sowjetzeit durch ungewöhnliche Quellen und sensibles Interpretationsvermögen. Es bleibt zu hoffen, dass eine russische oder englische Übersetzung noch einmal Anlass zu einer so gründlichen Überarbeitung bietet, wie sie das dargestellte Material verdient.

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