V. Knigge (Hrsg.): Kommunismusforschung und Erinnerungskulturen

Cover
Titel
Kommunismusforschung und Erinnerungskulturen in Ostmittel- und Westeuropa.


Herausgeber
Knigge, Volkhard
Reihe
Europäische Diktaturen und ihre Überwindung. Schriften der Stiftung Ettersberg 19
Erschienen
Köln 2013: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
202 S., ca. 16 Abb.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Birgit Hofmann, Seminar für Wissenschaftliche Politik, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

„Der Kommunismus“, so schrieb der französische Historiker François Furet über den Untergang des Staatssozialismus, „endet [...] gewissermaßen im Nichts.“1 Tatsächlich scheint das „Ende der Illusion“ – so der Titel von Furets Buch – die einst auch in Frankreich begeisterte Anhänger gefunden hatte, besonders in Mittelosteuropa ein politisches Vakuum zu hinterlassen. Dessen Dimension wird erst heute, mit dem Abebben der Demokratie-Euphorie post-1989 und dem Siegeszug populistischer und autoritärer Strömungen vollends sichtbar. Während letztere die kommunistische Geschichte zur politischen Mobilisierung nutzen, unterliegt sie zugleich einer fortschreitenden Historisierung und Ausdifferenzierung.

Den Anbruch einer „neue[n] Phase der vertiefenden Bewertung der kommunistischen Regime“ (S. 10) benennt Hans-Joachim Veen als Ausgangspunkt des hier zu besprechenden Sammelbandes. Dementsprechend werden in der Einführung Kommunismusforschung und Erinnerungskulturen sowohl in Ost- als auch Westeuropa thematisiert. Die vom Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Volkhard Knigge, herausgegebene Publikation geht auf das 11. Internationale Symposium der Stiftung Ettersberg zurück und ist entlang der angesprochenen Themenfelder in drei Abschnitte gegliedert, die einmal den „Kommunismus in den Geschichtskulturen Ostmitteleuropas“ (S. 17–90) und „Westeuropas“ (S. 91–116) sowie „Stand und Perspektiven“ von „Erinnerungskultur“ (S. 117–192) in den Blick nehmen. Damit wird ein breites Forschungsfeld geöffnet, in dem durchaus noch Bedarf an synthetisierenden Studien besteht.

Einen Vergleich postkommunistischer Erinnerungskulturen bietet Michal Kopeček gleich zu Beginn. Er differenziert zwischen einer ersten, legitimatorisch geprägten Phase der 1990er-Jahre, in der sich eine „liberal-republikanisch(e)“ sowie eine „konservativ-national(e)“ (S. 26) Tradition des „Erbe(s) der Dissidenz“ (S. 23) herausgebildet habe, sowie einer „qualitiativ neue[n] Politik der Erinnerung“ im „Namen der Rekultivierung des ‚nationalen Gedächtnisses‘“ seit der Jahrtausendwende (S. 31). Der Siegeszug der konservativ-nationalen Linie sei auch einer liberalen Politikdominanz mit ihrer Tendenz zur Versöhnung und mangelnden Aufarbeitung der Vergangenheit zuzuschreiben. Gemeinsam sei beiden Strömungen jedoch der Rekurs auf einen „nutzbaren Totalitarismus“ (S. 36), dieser werde erst durch eine neue Historikergeneration in Zweifel gezogen.

Antanas Gailius’ eher essayistischer Beitrag über Litauen zeigt, wenn von einer „fast 50-jährigen Lagerhaft“ Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg die Rede ist (S. 39), diesen Gebrauch der Totalitarismustheorie. Gailius macht die Besonderheiten insbesondere baltischer Erinnerungsmentalität deutlich, die von der Geschichte der Inkorporation in die Sowjetunion geprägt ist; man habe „[d]ie Frage, ob der Kommunismus verbrecherisch ist [...], überhaupt nicht diskutiert“ (S. 40). Der Beitrag zielt damit auf den Kern der Spaltung Europas: „Selbst die grausamen Bilder aus unserer Welt waren für unsere Gesprächspartner im Westen nicht überzeugend genug, um ihre Meinung über den Kommunismus zu ändern.“ (S. 43)

Um das Wesen des Kommunismus geht es auch bei Marek Zybura, der den Fall Polen untersucht, wo es früh eine entsprechende intellektuelle Auseinandersetzung gab, die mit der Liberalisierung des Staatssozialismus abebbte. Auch die polnischen Intellektuellen sahen „keinen kategorialen Unterschied zwischen Faschismus/Nazismus und Kommunismus“ (S. 52). Zyburas Beitrag weist ebenfalls auf die Defizite liberaler Politik nach dem Systemwechsel hin, welche zum Aufstieg nationalistischer und populistischer Bewegungen beitrugen, die ihren Erfolg auch den Angriffen auf den Versöhnungsimperativ der Protagonisten des „Runden Tisches“ verdanken.

Mit Ungarn untersucht Joachim von Puttkamer das prägnanteste Beispiel für eine offiziell verordnete Erinnerungskultur. Er analysiert hierzu die Gemäldeausstellung „Helden, Könige, Heilige“ der Budapester Nationalgalerie, deren „Leitmotiv“ der „Leidensweg“ der ungarischen Nation sei (S. 71), die als „Körper“ (S. 62) und „Opferkollektiv“ inszeniert werde. Es treten wiederum „[n]ationalsozialistische und kommunistische Herrschaft“ als extern und dabei „als Kontinuum“ in Erscheinung (S. 63). Elemente einer europäisch geprägten Gedenkkultur zeigen sich im Verweis auf die „Mitverantwortung für den Holocaust“ (S. 67).2 Im Zentrum der Kommunismus-Erinnerung steht der Aufstand 1956, der insbesondere in den letzten Jahren im politischen Kampf gegen die ungarische Linke instrumentalisiert wird (S. 69).

Dass der Kommunismus auch in einigen westeuropäischen politischen Kulturen fest verankert war, zeigt Gilbert Merlio im zweiten Teil des Bandes am Beispiel des „Kommunismus in der Geschichtskultur Frankreichs“. Merlio zeichnet den Aufstieg und den Fall der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) von den 1930er-Jahren bis zum „Aufklärungs- und Entzauberungsprozess“ (S. 96) nach, der in den 1980er-Jahren seinen Höhepunkt erreichte. Die PCF habe ihre Reputation aus dem „antifaschistischen Kampf [...]“ ziehen können und „die Leidenschaft der Franzosen für die Revolution“ angesprochen (S. 93). Dabei schienen „[d]ie ungeheuren Verbrechen der Nazis“ jene „der Kommunisten in Stillschweigen ein[zuhüllen]“ (S. 94).

Torsten Oppelland analysiert den „Kommunismus in der Geschichtskultur Deutschlands“. Die Auseinandersetzung mit der DDR sei weniger dem Ziel der „nationalen Integration“ (S. 104) unterworfen und von der NS-Vergangenheit nach wie vor überschattet (S. 105). Als Akteure der Erinnerungskultur macht Oppelland – durchaus anregend, jedoch etwas holzschnittartig – drei Gruppen aus: „Antikommunisten“, der Mainstream der alten Bundesrepublik (S. 106), „Utopie-Bewahrer“, worunter er hier zum Beispiel ehemalige Funktionäre und LINKE-Politiker fasst, und „[d]ie Indifferenten“, die „post-mémoire“-Generation. Zu Recht kritisiert Oppelland eine „geschichtskulturelle Konzentration auf das verbrecherische Herrschaftssystem“ – Ziel historischen Bildungsarbeit müsse „die eigene politische Urteilskraft“ sein (S. 113).

Damit wird zum dritten Teil des Bandes übergeleitet, der mit Martin Sabrows hervorragenden Reflexionen zur Rolle des „Zeitzeugen als Figur der Zeitgeschichte“ beginnt. Diese entspringe einem aufklärerischen Impetus und „präge“, indem sie als „Mittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart“ auftrete (S. 126) und „Authentizität“ suggeriere, „unser Bild von der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts“ (S. 118). Mit dem Zeitzeugen habe erneut das „historische [...] Subjekt“ die Bühne betreten, die Geschichtserzählung sich von der Helden- zur Opfergeschichte gewandelt. Zeitzeugen hätten heute jedoch im Zuge ihrer Omnipräsenz ihre „ursprünglich kritische Funktion“ eingebüßt (S. 124). Recht knapp behandelt Sabrow die Problematik der DDR-Zeitzeugenschaft, in der Täter- und Opferperspektiven besonders leicht verschwimmen können.

Waltraud Schreiber diskutiert die Frage, „[w]ie viel Geschichte [...] die demokratische Kultur“ braucht (S. 133) in Hinsicht auf den Umgang mit Zeitzeugen und unterschiedlichen Generationen in der Gedenkstättenarbeit, so in der Gedenkstätte Berliner Mauer und eines Außenlagers des KZ Dachau. Erinnern als zentraler Zweck von Gedenkstätten finde im Spannungsfeld dreier Dimensionen statt – als Mahnen, Informieren und Sich-Erinnern von Zeitgenossen. Wie Sabrow plädiert auch Schreiber für einen vorsichtigen Umgang mit Zeitzeugen, die immer zugleich „Quelle und Darstellung“, „Exponat und Arbeitsmaterial“ (S. 147) seien.

Um die Vermittlung von Gewaltgeschichte geht es auch bei Harald Welzer, der eine kritische Betrachtung der Prämisse anstellt, dass „historisch-politische Bildung“ widerständiges Verhalten gegenüber „massen- oder völkermörderischer Gewalt“ evozieren soll (163). Es gelte, die Bereitschaft gerade zu abweichendem Verhalten zu stärken, da in verbrecherischen Systemen Gewaltausübung als geduldetes und gewünschtes Verhalten in Erscheinung trete. Täter seien in solchen Kontexten gerade keine pathogenen Charaktere. Welzer mahnt eine „reflexive Erinnerungskultur“ an, in der „Gewalthandeln“ strukturell verstanden und in seiner Geschichtlichkeit analysiert wird (S. 167).

Für ein reflexives Geschichtsbewusstsein jenseits offizieller Geschichtsdeutungen tritt auch Volkhard Knigge im abschließenden Beitrag ein. „Geschichte selbst“ sei mit den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts „unsicher geworden“ (S. 187), was den Siegeszug des Konzepts des „Erinnerns“ unter anderem ermöglicht habe. So habe im Umgang mit der DDR-Vergangenheit eine „den Erfolg der nationalstaatlichen Entwicklung absichernde [...] Erinnerungskultur“ triumphiert (S. 182); gemeinsame deutsch-deutsche „Erinnerung“ sei jedoch aufgrund der früheren Teilung unmöglich. Erinnern jenseits der Zeitgenossenschaft setze sich der Gefahr aus, „eine pädagogische Falle“ (S. 179) zu werden und könne nicht das Medium von Geschichtsbewusstsein sein.

Damit hinterfragt der vorliegende, sehr empfehlenswerte Sammelband auch die imperativische Allgegenwart eines naiven „Erinnerungs“-Begriffs. Die in der Einführung antizipierte Kommunismusforschung, deren Kerndebatten um die Gewaltgeschichte des Staatssozialismus zentriert sind, tritt allerdings im letzten Teil des Bandes teilweise eher illustrativ in Erscheinung, es dominiert der Verweis auf die NS-Vergangenheit.3 Untersuchungen zu den Spezifika postkommunistischer Erinnerungskulturen und der Interaktion nationaler Erinnerungskulturen auf europäischer Ebene bleiben weiterhin dringlich.

Anmerkungen:
1 François Furet, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, 2. Aufl., München 1996, S. 9.
2 Vgl. Regina Fritz, Nach Krieg und Judenmord. Ungarns Geschichtspolitik seit 1944, Göttingen 2012.
3 Zur jüngsten Auseinandersetzung vgl. Christian Staas, Ohne Gulag kein Holocaust? Im „Spiegel“ kommt Ihnen ein Geisterschreiber entgegen! Wie der Reporter Dirk Kurbjuweit die alte Debatte um Stalinismus und Nationalsozialismus wiederzubeatmen versucht, in: Die Zeit, 12.02.2014.

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