St. Scheil: Entfesselung des Zweiten Weltkriegs

Cover
Titel
Fünf plus Zwei. Die europäischen Nationalstaaten, die Weltmächte und die vereinte Entfesselung des Zweiten Weltkriegs


Autor(en)
Scheil, Stefan
Reihe
Zeitgeschichtliche Forschungen 18
Erschienen
Anzahl Seiten
533 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Jochen Arnold, Universitätsarchiv Freiburg

Aus mehreren Gründen ist es schwierig, dem Leser einen Eindruck von dieser Studie zu verschaffen. Zunächst liegt dies an der Fülle des ausgebreiteten Materials und der Vielzahl gewichtiger Thesen: Stefan Scheils Untersuchung der Machtpolitik Deutschlands, Polens, Italiens, Frankreichs und Großbritanniens sowie der Weltmächte USA und Sowjetunion entspricht in ihrer breiten thematischen Anlage und dem sparsamen Gebrauch von Fußnoten eher angelsächsischen Studien. Das ist ausgesprochen ambitioniert, zumal gegenwärtig viele Arbeiten am voluminösen Fußnotenapparat zu ersticken drohen, Scheil sich noch dazu ausschließlich auf veröffentlichte Quellen und Literatur stützt. Erschwerend kommt hinzu, dass sämtliche Thesen die bisherige Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges in atemberaubender Konsequenz neu interpretieren - fast die komplette Forschung zu diesem Gebiet wird revidiert. Allein dieser Versuch garantiert also eine ebenso spannende wie provozierende Darstellung. Gerade deswegen sind aber grundsätzliche Bemerkungen zum methodischen Vorgehen und der Perspektive des Autors angebracht.

Der Band beginnt mit der Prämisse, dass keine “geschichtswissenschaftliche Erklärung für den Zweiten Weltkrieg so einfach sein kann wie die Behauptung, er sei von Adolf Hitler langfristig geplant und gezielt entfesselt worden” (S. 495). Bisherige Darstellungen seien in ihrer “Einfachheit schlechterdings nicht zu unterbieten: Der Krieg konnte nur in Europa beginnen, nur ein Land konnte diesen Krieg auslösen und der Diktator dieses Landes hat dies ganz bewusst getan, umgeben von einer friedliebenden und gutwilligen Umwelt” (S. 17). Diesem “germanozentrischen Trend” (S. 19) müsse eine klare Absage erteilt werden, da der Zweite Weltkrieg von den Mächten gemeinsam entfesselt worden sei. In der Tat fällt auf, dass sich zahlreiche Gesamtdarstellungen der deutschen Forschung nahezu ausschließlich auf die Politik Hitlers konzentrieren. Den Zweiten Weltkrieg begreift Scheil hingegen als Konsequenz der “Globalisierung” der Politik in der Moderne, was die innereuropäische egoistische Machtpolitik der Staaten eigentlich ad absurdum geführt habe. Die USA und die Sowjetunion hätten die europäische Politik mit ihrem wachsenden Anspruch auf Mitsprache erheblich beeinflusst, eine zunehmende “Entmachtung Europas” sei die Folge gewesen (S. 20). Während Präsident Roosevelt auf ein System kollektiver Sicherheit und Abrüstung in Europa drängte, suchte Stalin die Rivalität der Staaten zur weiteren Expansion des Kommunismus zu nutzen. “So war die UdSSR Teilnehmer an der internationalen Konkurrenz der Mächte, und ihre sprunghafte militärische und wirtschaftliche Entwicklung setzte gemeinsam mit anderen Ereignissen, wie beispielsweise der Wiederbewaffnung Deutschlands, einen Prozeß in Gang, der die Nachkriegsordnung von Versailles überwand.” (S. 497) Hitler habe zunächst keinen konkreten Plan zur Führung eines Eroberungskrieges im Osten verfolgt, während Stalin bereits Expansion in Richtung Westeuropa geplant habe, worauf er sich seit Anfang der 1930er-Jahre intensiv vorbereitete. Später sei dies allerdings durch eine Phase machtpolitischer Konsolidierung unterbrochen worden. Der sowjetische Diktator entfesselte jedoch den Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit Hitler und versuchte mit seinem Angriff auf Finnland Ende 1939, die Westmächte und das Deutsche Reich gegeneinander aufzubringen.

Den Einfluss ideologischer Faktoren auf die Politik will Scheil “auf eine angemessene Größe reduzieren”, zumal sie “nur in wenigen Fragen entscheidend gewesen” seien (S. 18). Hier erheben sich jedoch Fragen, da etwa die große Bedeutung “universaler Prinzipien” wie Freihandel oder Menschenrechte für die Politik der USA betont werden (S. 24), die ja durchaus als “demokratisch-kapitalistische Ideologie“ begriffen werden können. Hier zeigt sich einmal mehr das gewichtige Problem, das eine strikte Unterscheidung zwischen ideologischen und machtpolitischen Faktoren sowie den komplexen persönlichen Motiven der Protagonisten kaum durchzuhalten ist. Großraumtheorien, wie die von Carl Schmitt, werden als Teil von auch heute noch verbreiteten geopolitischen Vorstellungen verstanden und als kontinentales Gegenstück zum imperialen Führungsanspruch der USA eingeordnet. Es habe sich um einen Versuch gehandelt, den “Globalisierungsdruck”, den “Zwang zur Ausübung direkter Herrschaft und zur permanenten Konkurrenz überall auf der Welt, von Europa und besonders von Deutschland” (S. 26) zu nehmen. Völkerbund und internationales Recht seien demgegenüber noch nicht ausreichend entwickelt gewesen, zumal mit Blick auf die umfangreichen Kolonialreiche Englands und Frankreichs. Die “Eigendynamik” der durch den Versailler Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg geschaffenen Nationalitätenkonflikte sei in London und Paris auf wenig Verständnis gestoßen. Ein gemeinsames Kennzeichen für alle Regierungen der 1930er-Jahre war jedoch die Einschränkung ihrer Handlungsfähigkeit durch die wachsende Bedeutung der öffentlichen Meinung. Der Glaube an die Wirkung militärischer Entscheidungen sei hingegen wenig verbreitet gewesen (S. 34), was manchen Leser verwundern dürfte. Gerade Hitler, Mussolini und Stalin waren es doch, die in begrenzten militärischen Aktionen eine wesentliche Option zur Machterweiterung erkannten.

Im Gegensatz zu vielen Studien nimmt Scheil Hitler beim Wort, d.h. dessen interne Äußerungen werden nicht als Teil eines groß angelegten Täuschungsmanövers gegenüber seiner engeren Umgebung auf dem Weg zur Entfesselung des “ersehnten“ Krieges, sondern als Ausdruck seiner Überlegungen zu dieser Zeit begriffen. Tatsächlich scheint sich jene Hitler-Forschung allzu weit von den Quellen zu entfernen, die Vieles als taktisch inspirierte Einlassung interpretiert und ihre Ergebnisse selektiv auf vergleichsweise wenige Dokumente aufbaut. Hitler erscheint bei Scheil hingegen weniger als Subjekt der internationalen Politik, sondern das Deutsche Reich wird überwiegend als Objekt der Politik anderer Mächte präsentiert. Diese begrüßenswerte Modifizierung der Perspektive wird in dieser Studie jedoch übertrieben, wenn Hitler als “normaler“ Außenpolitiker in einer Linie mit Bismarck und Wilhelm II. rangiert und suggeriert wird, dass Danzig tatsächlich das alleinige Ziel seines Vorgehens gegen Polen gewesen sei. Nur “unmittelbaren Anlass für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges” (S. 499) bot demnach der seit 1928 schwelende deutsch-polnische Konflikt. Schuld an der Eskalation im September 1939 sei vor allem die hypertrophe Politik der polnischen Regierung gewesen, die jede Einigung abgelehnt habe und einen siegreichen Angriffskrieg (S. 84ff.) gegen das Deutsche Reich hätte führen wollen. Die Ausweitung zum Weltkrieg 1940/41 wird wiederum auf die Ablehnung aller vermeintlich ehrlich gemeinter Friedensbemühungen Hitlers durch die englische Regierung zurückgeführt.

War das so? Hätte Hitler tatsächlich die besetzten polnischen Gebiete aufgegeben, einen polnischen Staat wiederhergestellt – trotz des zweifellos enormen Verlustes an Ansehen in der eigenen Bevölkerung? Gab es nicht vielmehr niemals diese Chance für einen wirklichen Frieden, weil Hitler zu taktieren versuchte, um die ersehnte “freie Hand“ im Osten endlich zu erhalten und die deutsche Vorherrschaft auf dem Kontinent zementieren wollte? Konnte Winston Churchill Hitler überhaupt einen gesichtswahrenden Rückzug angesichts der aufgepeitschten Stimmung 1940 ermöglichen? Hat Churchill nicht vielmehr Hitlers Absichten richtig erkannt und alles getan, um ein deutsch-beherrschtes Mitteleuropa zu verhindern?

Viele Thesen Scheils erscheinen eingängig, andere erwecken hingegen den Eindruck, dass Quellen in ihrer Aussagekraft strapaziert wurden. Auch der polnischen Seite hätte der Autor beispielsweise jenes Maß an Empathie zuteil werden lassen sollen, dass er der deutschen zuerkennt. Konnte man als polnischer Außenpolitiker Hitlers Versprechungen 1939 vor dem Hintergrund der aus vielen Gründen aufgeheizten Atmosphäre trauen? Manchmal trennt der Autor die verschiedenen Ebenen der Analyse nicht sauber. Beispielsweise die drei Fragestellungen: Was wollte Stalin 1941? Wie nahmen andere Länder die Sowjetunion 1941 wahr? Was wissen wir heute über Stalins Absichten? Angesichts der anhaltend rudimentären Quellenlage zur sowjetischen Politik scheint jedenfalls Vorsicht geboten. Abschließend muss darauf verwiesen werden, dass allein ein Experte zur Außenpolitik der europäischen Mächte, der Sowjetunion und USA in den 1930er-Jahren das Gewicht der Quellen und der vorgebrachten Argumente treffend bewerten kann. Zumindest der Rezensent konnte sich von Zweifeln nicht lösen, gleichwohl argumentiert und belegt der Autor zumeist plausibel. Seine Thesen verdienen es deswegen, eingehend diskutiert und verifiziert zu werden.

Kommentare

Von Scheil, Stefan24.02.2004

Klaus-Jochen Arnold hat bei H-Soz-Kult eine Besprechung meiner Studie "Fünf plus Zwei" veröffentlicht. Obwohl sich weitgehend um eine auf Fairness achtende und im wesentlichen zutreffende Analyse handelt, möchte ich doch kurz auf ein paar Stellen antworten, durch die ein falscher Eindruck entstehen könnte. Arnold schreibt, ich würde "Hitler als 'normalen' Außenpolitiker mit Bismarck und Wilhelm II. in eine Linie" stellen und "suggerieren, dass Danzig tatsächlich das alleinige Ziel seines (Hitlers) Vorgehens gegen Polen gewesen sei". Dies ist in mehrfacher Hinsicht nicht zutreffend.

Zum ersten habe ich Hitler an keiner Stelle mit Bismarck oder Wilhelm II. verglichen oder behauptet, er sei ein "normaler Außenpolitiker" gewesen. Ich habe diese Gleichsetzung, die damals in westlichen Diplomatenkreisen recht häufig anzutreffen war und die für die Person Bismarck auch Hitler selbst für sich in Anspruch nahm, deutlich kritisiert. Die vieldiskutierten Besonderheiten charismatisch begründeter Herrschaftsausübung in einer modernen Massengesellschaft gehören zu den wichtigen Themen der Studie. Sie hatten auch Auswirkungen auf den außenpolitischen Entscheidungsprozeß in Deutschland. Dessen Methoden hatten einen bedeutenden Anteil an der Eskalation der europäischen Streitigkeiten. Zur:

"Begründung soll zunächst auf die in "Logik der Mächte" gemachten Bemerkungen zu den Entwicklungen in Hitlers außenpolitischen Zielen zwischen "Mein Kampf" und dem "Hoßbach–Protokoll" hingewiesen werden, sowie auf die daran angebundenen Betrachtungen seines (d.h. Hitlers, d. Verf.) Status als zugleich gesellschaftlicher wie politischer homo novus, der ihn letzten Endes auf eine Rolle als "charismatischer Herrscher" festlegte. Dies alles kann und muß hier nicht im einzelnen wiederholt werden. Es soll nur noch einmal unterstrichen werden, daß Hitlers Bereitschaft zum Einsatz von militärischer Gewalt nach dieser Interpretation nicht durch einen planlosen Willen zu Mord und Totschlag verursacht wurde, sondern klar definierten Zielen diente – formuliert in der Hoßbach–Besprechung vom November 1937."1

Zum zweiten ist die Formulierung unangebracht, ich würde etwas "suggerieren", denn ich habe klar formuliert und begründet, welche Thesen ich im einzelnen vertrete. Dazu gehört im übrigen die Ansicht, dass das außenpolitische Modell Franklin D. Roosevelts noch am ehesten das Potential besaß, einen großen europäischen Krieg zu verhindern.

Zum dritten habe ich weder gemeint noch geschrieben, dass "Danzig tatsächlich das alleinige Ziel seines (Hitlers) Vorgehens gegen Polen gewesen sei". In dieser Studie wie im Vorgängerband "Logik der Mächte", ist nachzulesen, dass Danzig für beide Seiten eine entscheidende Rolle als politisches Symbol spielte und warum ein materiell eher zweitrangiger Streitpunkt wie der völkerrechtliche Status der Freien Stadt diese politische Bedeutung meiner Ansicht nach erreichen konnte.

Danzig sollte demnach im Spätsommer 1939 für die NS-Führung der Hebel sein, mit dem der neue polnisch-englische-französische Garantievertrag politisch zerstört werden konnte. Mit dem "Anschluss" Danzigs hätte sich diese westliche Garantie als nutzlos erwiesen, da die polnischen Rechte in der Stadt mit darin eingeschlossen waren, insbesondere in dem polnisch-französischen Beistandsabkommen.2 Dass Hitler für den Fall eines polnischen Nachgebens in der Danziger Frage "in den sauren Apfel beißen und Polens Grenzen garantieren" wollte, lässt sich beispielsweise in den Goebbels-Tagebüchern nachlesen.(3) Eine internationale Konferenz unter Beteiligung Frankreichs, Englands, Italiens und der UdSSR, wie sie von deutscher Seite gegenüber Großbritannien für den Fall eines andauernden polnischen Widerstands gegen ein bilaterales Abkommen angeregt wurde,4 hätte der Republik Polen dagegen wohl das Schicksal der in München aufgeteilten Tschechoslowakei beschert. Zu diesem Zweck war im deutsch-sowjetischen Geheimprotokoll zum Nichtangriffspakt von August 1939 ja bereits "für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung" eine Regelung getroffen worden.

Die polnische Regierung ihrerseits bezog im Gegenzug im August 1939 den Standpunkt, man fordere in Zukunft das völlige Desinteresse Deutschlands an der Freien Stadt Danzig und drohte andernfalls militärische Maßnahmen an.5 Die Warschauer Administration ging dabei von der Vertragstreue der westlichen Bündnispartner hinsichtlich der zugesagten militärischen Unterstützung aus, sowie von der Vertragstreue UdSSR zum wenige Monate früher erst bestätigten gegenseitigen Nichtangriffspakt. Sie glaubte sich für diesen Fall auf einen militärischen Schlagabtausch einlassen zu können und war zuversichtlich, dabei gegebenenfalls siegreich zu sein. Der polnische Botschafter in Berlin, Josef Lipski hat dies am 31. August 1939 deutlich gesagt, als er den ihm gerade übergebenen 16-Punkte-Plan der deutschen Regierung ungelesen zur Seite legte und gegenüber dem englischen Botschaftsvertreter Ogilvie–Forbes klarstellte, keine Veranlassung zu haben, sich für irgendwelche deutschen Verhandlungsangebote zu interessieren: Die polnischen Truppen würden bald auf Berlin marschieren.6

Auch hier wurden weitergehende Ziele als "Danzig" nicht ausgeschlossen: Man "hofft, (auf) einen Gewinn, der sich ergeben soll aus einer schließlichen und unvermeidlichen deutschen Katastrophe ... Man hofft im stillen in Warschau nicht nur auf die bedingungslose Integration Danzigs in den polnischen Staatsbereich, sondern auf viel mehr, auf ganz Ostpreußen, auf Schlesien, ja auf Pommern" wie Völkerbundkommissar Burckhardt nach einem Gespräch mit dem polnischen Außenminister Beck 1938 notierte.7

Mir ist bewusst, dass die von mir skizzierte Ansicht eine Position ist, die ungewohnt und möglicherweise umstritten sein wird. Sie beruht jedoch auf der Analyse gesicherter und frei zugänglicher Quellen. Es ist bedauerlich und unverständlich, dass viele davon bisher keinen Eingang in den Diskurs gefunden haben oder nicht in eine Gesamtinterpretation eingebunden wurden. Um nur ein Beispiel zu nennen, sei etwa darauf verwiesen, dass ein Standardwerk wie Walter Hofers "Entfesselung des 2. Weltkriegs" die oben beschriebene Übergabe der 16-Punkte an den polnischen Botschafter und dessen Reaktion nicht erwähnt, sondern bestreitet, dass dieser Plan der polnischen Regierung zur Kenntnis gebracht wurde.

Da bei Arnold im weiteren von "Schuld" die Rede ist, sei abschließend bemerkt, dass es nicht der Zweck meiner Arbeit ist, Schuld zu verteilen. Ich gebe eine Analyse der damaligen Machtpolitik in Europa, deren Zynismus und "heiliger Egoismus" in das Desaster von 1939 und den Folgejahren geführt hat. Die polnische wie die deutsche Regierung, so nationalistisch und militant sie 1939 auch eingestellt waren, waren nicht die einzigen Akteure. Zu viele haben im Europa von 1939 geglaubt, die eigenen Interessen am besten durch internationale Politik mit dem Ziel fördern zu können, den Bestand oder gar die Existenz anderer Staaten in Frage zu stellen. Josef Stalin stand nicht allein, als er am 7. Dezember 1939 ankündigte, der "Nichtangriffspakt helfe Deutschland in gewisser Weise. Bei nächster Gelegenheit müsse man die andere Seite aufhetzen".(8) Die Entfesselung des Krieges lässt auch vor diesem Hintergrund als "vereinte Entfesselung" interpretieren.

Anmerkungen:
1 Zit. n. Scheil, Fünf plus Zwei, S. 111.
2 Vgl. Walter Hofer, Die Entfesselung des Zweiten
Weltkriegs, S. 220.
[3] Zit. n. Goebbels, Tagebücher, I, 6, S. 300, 25. März 1939.
4 Vgl. ADAP, Serie D, Bd. VII, Dok. 421, Meine Darstellung
in: Stefan Scheil, Logik der Mächte, S. 203.
5 Weißbuch der polnischen Regierung, Dok. 86, 10. August 1939, S. 129.
6 Vgl. Birger Dahlerus, Der letzte Versuch, S. 110 und die Protokolle des Nürnberger Prozesses, Bd. 9, S. 521.
7 Zit. n. C.J. Burckhardt, Meine Danziger Mission, S. 156 f.
[8] So Stalin im Beisein von Georgij Dimitroff. Vgl. Scheil, Fünf plus Zwei, S. 144. Zur Einschätzung, daß es deswegen "nicht mehr möglich ist, Stalin im Zusammenhang mit dem Nichtangriffspakt lediglich defensive Absichten zu unterstellen", vgl. etwa Bernd Bonwetsch, Stalins Äußerungen zur Politik gegenüber Deutschland, in: Gerd Ueberschär/Lew Bezymenskij (Hrsg.): Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941, Darmstadt 1998, S. 145-154, hier S. 147.


Von Oswald, Christian24.02.2004

Gleich zu Beginn seiner Rezension spricht Herr Arnold von „der Fülle des ausgebreiteten Materials und der Vielzahl der gewichtigen Themen“, die das Buch von St. Scheil zu bieten habe. Zwei Zeilen später liest man, dass der Autor nur „sparsamen Gebrauch von Fußnoten mache“ und sich „ausschließlich auf veröffentlichte Quellen und Literatur stützt“. Schließlich würde die bisherige Vorgeschichte des zweiten Weltkrieges in atemberaubender Konsequenz neu interpretiert – fast die komplette Forschung zu diesem Gebiet revidiert.

Niemand liebt es, „am voluminösen Fußnotenapparat zu ersticken“. Aber wenn jemand die gesamte bisherige Geschichtsschreibung umkrempeln will, muss er sich schon etwas Mühe geben und seine neuen Thesen auch belegen. Neue Quellen für seine neuen Thesen hat Herr Scheil offensichtlich auch nicht zu bieten. Die Kombination von wenig Fußnoten, nur schon publiziertem Material und atemberaubenden neuen Thesen muss jeden Leser doch ausgesprochen misstrauisch machen. Mir stellt sich da die Frage, ob Herr Arnold tatsächlich so ahnungslos ist, da er doch die Sonderbarkeiten des Buches recht hübsch zu charakterisieren weiß, aber keine Konsequenzen daraus zieht, oder ob er das Publikum hinters Licht zu führen wünscht. Auf alle Fälle macht seine Rezension sehr deutlich, dass Herr Scheil wirklich die komplette Forschung zu diesem Gebiet zu revidieren wünscht. Er betreibt, wenn man Herrn Arnold glauben darf, Geschichtsrevisionismus der reaktionärsten Sorte.

Zu diesem Zweck wird zunächst ein Popanz aufgebaut: Es gäbe einen germanozentrischen Trend in der Geschichtswissenschaft, die die Kriegsschuld allein bei Hitler suche und die internationalen Zusammenhänge ausblende. Die geschichtswissenschaftliche Erklärung des zweiten Weltkriegs, wonach dieser Krieg von Hitler langfristig geplant und gezielt entfesselt worden sei, sei an Einfachheit nicht zu unterbieten. Es fragt sich welches die ernstzunehmenden Untersuchungen sind, die unterschlagen würden, dass Hitler und seine Kriegspläne nur in einer bestimmten internationalen Konstellation gedeihen konnten. Und diese Feststellung schließt doch keineswegs aus, dass der zweite Weltkrieg gezielt von Hitler entfesselt wurde. Die plausiblen Argumentationen von Herrn Scheil, die Herr Arnold so sehr schätzt und die er noch aus eigenem Fundus ergänzt, erweisen sich als Augenwischerei.

Inwiefern die Thesen von Herrn Scheil atemberaubend Neues dem Leser zu bieten hätten, muss ein Geheimnis des Rezensenten bleiben. Dass die UdSSR unter Stalin der eigentliche Aggressor war und die Expansion nach Westen plante, - kennen wir diese Märchen nicht aus den Lehrbüchern des Antikommunismus. Wörtlich heißt es bei Arnold: „Der sowjetische Diktator entfesselte jedoch den Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit Hitler und versuchte mit seinem Angriff auf Finnland Ende 1939, die Westmächte und das Deutsche Reich gegeneinander aufzubringen.“ Also lag die wirkliche Kriegsschuld bei Stalin und der Sowjetunion. „Eine These, die in ihrer Einfachheit nicht zu unterbieten ist“ – müsste Herr Scheil sich selbst kritisieren – und die den Vorzug genießt so alt wie der Revisionismus und ebenso absurd zu sein. Was Herr Scheil über die USA zu sagen hat, überrascht ebenfalls nicht besonders. Sie seien dem Freihandel und den Menschenrechten verpflichtet, hätten aber imperialistischen Druck ausgeübt. Kennen wir dieses Vorurteil nicht auch irgendwoher? Vielleicht wären ein paar Fußnoten mehr gar nicht so schlecht gewesen. Das Material hat schon so manchen zu interessanten Gedanken geführt. Ab und zu dürfen wir uns aber auch wundern und das nicht zu wenig: Hitler, Mussolini und Stalin hätten wenig an die Wirkung militärischer Entscheidungen geglaubt.

Ein Absatz der Rezension lässt an Deutlichkeit nichts mehr zu wünschen übrig. Herr Arnold überführt darin in einem gänzlich naiven Ton das Buch des Vorwurfs der Nazipropaganda:
„Im Gegensatz zu vielen Studien nimmt Scheil Hitler beim Wort, d.h. dessen interne Äußerungen werden nicht als Teil eines groß angelegten Täuschungsmanövers gegenüber seiner engeren Umgebung auf dem Weg zur Entfesselung des "ersehnten" Krieges, sondern als Ausdruck seiner Überlegungen zu dieser Zeit begriffen. Tatsächlich scheint sich jene Hitler-Forschung allzu weit von den Quellen zu entfernen, die Vieles als taktisch inspirierte Einlassung interpretiert und ihre Ergebnisse selektiv auf vergleichsweise wenige Dokumente aufbaut. Hitler erscheint bei Scheil hingegen weniger als Subjekt der internationalen Politik, sondern das Deutsche Reich wird überwiegend als Objekt der Politik anderer Mächte präsentiert. Diese begrüßenswerte Modifizierung der Perspektive wird in dieser Studie jedoch übertrieben, wenn Hitler als "normaler" Außenpolitiker in einer Linie mit Bismarck und Wilhelm II. rangiert und suggeriert wird, dass Danzig tatsächlich das alleinige Ziel seines Vorgehens gegen Polen gewesen sei. Nur "unmittelbaren Anlass für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges" (S. 499) bot demnach der seit 1928 schwelende deutsch-polnische Konflikt. Schuld an der Eskalation im September 1939 sei vor allem die hypertrophe Politik der polnischen Regierung gewesen, die jede Einigung abgelehnt habe und einen siegreichen Angriffskrieg (S. 84ff.) gegen das Deutsche Reich hätte führen wollen. Die Ausweitung zum Weltkrieg 1940/41 wird wiederum auf die Ablehnung aller vermeintlich ehrlich gemeinter Friedensbemühungen Hitlers durch die englische Regierung zurückgeführt.“

Wir erfahren also, dass das Deutsche Reich nur das „Objekt anderer Mächte“ war. Das ist eine Ausrede von Nachkriegsnazis – die richtigen Nazis dachten ja sie würden Deutschland zum Subjekt der Geschichte machen; so sehr nimmt Herr Scheil Hitler beim Wort, dass ihm dieser Unterschied nicht mehr bewusst ist. Und uns wird endlich beigebracht, wer den Krieg vom Zaun gebrochen hat: Es war die polnische Regierung mit ihrer „hypertrophen Politik“. Da hat Herr Scheil Hitler wirklich beim Wort genommen. Sagte der nicht in seiner Rede im Radio zum Kriegsbeginn: „Seit 5 Uhr 45 wird jetzt _zurück_geschossen!“ Herr Scheil, der Autor, verbreitet Nazipropaganda, Herr Arnold, der Rezensent, hält das für plausible Argumentationen und eingängige Thesen, die diskutiert zu werden verdienen.


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