Skandale in Deutschland nach 1945

Skandale in Deutschland nach 1945

Veranstalter
Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland http://www.hdg.de (12309)
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12309
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.05.2008 - 12.10.2008

Publikation(en)

Cover
Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Skandale in Deutschland nach 1945. . Bielefeld 2007 : Kerber Verlag, ISBN 978-3-86678-122-1, 978-3-86678-106-1 216 S., 74 SW- und 148 Farbabb. € 19,90 (Museumsausg.), € 27,95 (Buchhandelsausg.)
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Kroh, Institut für Politikwissenschaft, Justus-Liebig-Universität Gießen

Lange hat die wissenschaftliche Öffentlichkeit das Thema „Skandal“ vernachlässigt. Bis in die 1980er-Jahre galten ihr die „Aufreger der Nation“ (Sven Felix Kellerhoff) als zu unseriös und letztlich belanglos.1 Wie sehr die Zunft mit diesem Urteil irrte, zeigt die Ausstellung „Skandale in Deutschland nach 1945“, die am 7. Mai im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig ihre Pforten öffnet und zuvor vom 12. Dezember 2007 bis zum 24. März 2008 bereits im Bonner Haus der Geschichte zu sehen war. Anhand von 20 Beispielen dokumentiert das Team um Ausstellungsdirektor Jürgen Reiche und Projektleiterin Andrea Mork die Vorzüge einer sozial- und geschichtswissenschaftlich informierten, museumsspezifisch aufbereiteten Skandalforschung: Ob Rosemarie Nitribitt, Contergan- oder Bundesligaskandal, ob Flick, Hitler-Tagebücher, Barschel/Pfeiffer oder Mannesmann/Vodafone – als Spiegel ihrer Zeit ermöglichen die von den Ausstellungsmachern präsentierten Skandale wichtige Rückschlüsse auf die Verfasstheit verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche. Dabei veranschaulichen die Skandale auch die Geschichte der Massenmedien, den Funktionswandel der Öffentlichkeit und die Wandlungsprozesse der politischen Kultur. Nicht zuletzt leistet die Ausstellung einen wichtigen Beitrag zu einer kritischen Lesart der jüngeren Zeitgeschichte, indem sie „eine andere Geschichte der Bundesrepublik“ (Thomas Ramge) schreibt und deren Schattenseiten in den Blick nimmt.

Eröffnet wird die Ausstellung mit einer Definition. Demnach sind Skandale „Verfehlungen, die im Zuge ihrer Enthüllung eine weithin empfundene öffentliche Empörung auslösen“ (so Mork im Katalog, S. 16f.). Diese begriffliche Klärung ist ebenso notwendig wie treffend. Denn nicht alles, was zeitgenössisch oder aus heutiger Sicht skandalös erscheinen mag, wird tatsächlich zum Skandal, und nicht jeder potenzielle Skandal trifft den „Nerv kollektiver Gefühle“.2 Implizit deutet die Trias „Regelverletzung – Offenbarung – öffentliche Entrüstung“ bereits die konstitutive Bedeutung des freien Zugangs zu unabhängigen Medien für die Identifikation eines Skandals an; folglich fällt in Diktaturen die Zahl öffentlich verhandelter Skandale sehr gering aus, weshalb die Ausstellung mit den Kommunalwahlen vom Frühjahr 1989 auch nur einen DDR-Skandal behandelt, der bezeichnenderweise zugleich das Ende der DDR einläutete.3 Im Umkehrschluss ist die Pluralisierung der Medienlandschaft ein Erklärungsansatz dafür, dass die Zahl berichteter Skandale in der Bundesrepublik im Längsschnitt zugenommen hat und das Verhalten der Medien in einigen Fällen sogar den eigentlichen Skandal darstellt – wie die Ausstellung am Beispiel des Gladbecker Geiseldramas eindrucksvoll zeigt.

Die steigende Skandalhäufigkeit spiegelt sich jedoch bedauerlicherweise nicht in der Gewichtung der chronologisch aufgebauten Ausstellung wider, deren Fälle kaum über den Forschungsstand deutlich älterer Skandalchroniken hinausgehen.4 Jeweils gemessen am Beginn der öffentlichen Empörung, fallen drei Skandale in die 1950er-Jahre, fünf in die 1960er-Jahre, einer in die 1970er-Jahre, neun in die 1980er-Jahre sowie je ein Skandal in die 1990er-Jahre und in das Jahr 2000. Unterbrochen wird die zeitliche Abfolge nur durch zwei Installationen: einerseits einen Raum, in dem Audio-Aufnahmen von einschlägigen wissenschaftlichen Zitaten zu Funktion und Relevanz von Skandalen abgespielt werden, andererseits einige Computerstationen, die es den Besuchern ermöglichen, den ihrer Einschätzung nach größten Skandal in eine an der Wand angebrachte LED-Anzeige einzuspeisen.

Auffällig ist weiterhin die Kontextgebundenheit der präsentierten Skandale, die – durchaus in Übereinstimmung mit dem Anspruch der Ausstellung – die unterschiedlichen Voraussetzungen, Verlaufsformen und Funktionen der behandelten Fälle deutlich werden lässt: Mal ist die öffentliche Empörung ungeteilt (z.B. Contergan-Skandal, Hormonskandale), mal sind sich die politischen und gesellschaftlichen Lager in der Bewertung des Skandals uneins; partiell muss die Einstufung als Skandal sogar erst im öffentlichen Deutungsstreit errungen werden (z.B. Memminger Abtreibungsprozess). Teils ist der Skandal für die Öffentlichkeit binnen weniger Wochen erledigt (Jenningers Gedenkrede), teils zieht er sich nach längerer Inkubationszeit über Jahre hinweg und flackert immer wieder auf (z.B. Starfighter-Lockheed-Affäre, Flick-Affäre; die Begriffe „Skandal“ und „Affäre“ werden weitgehend synonym verwendet bzw. folgen dem jeweiligen zeitgenössischen Gebrauch). Zu den wenigen Konstanten der Ausstellung zählt demgegenüber, dass allein fünf der ausgewählten Skandale mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus verknüpft sind (Theodor Oberländer, Hochhuths „Der Stellvertreter“, die Klarsfeld-Ohrfeige, Hitler-Tagebücher, Jenningers Gedenkrede). Offenbar eignete sich dieses Themenfeld, vor allem seit Ende der 1950er-Jahre und unterstützt durch den deutsch-deutschen Systemkonflikt, besonders gut für Zwecke der Skandalisierung.

Anders als von den Ausstellungsmachern intendiert, drängt sich beim Gang durch die labyrinthartige Schau der Eindruck auf, dass die Mehrzahl der Skandale trotz der Gerichtsverfahren, die sich ihnen häufig anschlossen, allenfalls mittelfristig zu einer Korrektur des inkriminierten Verhaltens geführt haben: So folgten auf die Flick-Affäre weitere Spendenaffären – vor allen Dingen die in der Ausstellung unverständlicherweise ignorierte CDU-Spendenaffäre aus dem Jahr 1999 –, und auch die Hormonskandale der frühen 1980er-Jahre fanden diverse Wiedergänger, wie Clenbuterol-, Dioxin-, Nitrofen- und Gammelfleischskandal belegen.

Die Medienvielfalt der Ausstellung (neben Zeitungsausschnitten werden meist interaktiv abrufbare Radiobeiträge sowie Film- und Fernsehsequenzen gezeigt) ist dem Gegenstand angemessen. Allerdings entsteht dadurch ein Geräuschpegel, der eine intensive Auseinandersetzung mit den Exponaten und den gut lesbaren Texten eher erschwert. Vor allem Barschels „Ehrenwort“, das sich in einer kurz getakteten Endlosschleife wiederholt, dürfte manchen Ausstellungsbesucher eher in die Flucht treiben, als zur eingehenden Lektüre der umliegenden Informationstafeln anzuregen.

Diese Kritik schmälert aber nicht den insgesamt sehr positiven Eindruck der Ausstellung, zu dem speziell das Begleitbuch und die Exponate beitragen. Wie die Ausstellung selbst ist der reich illustrierte Katalog, an dem namhafte Autoren aus Wissenschaft und Medienbetrieb mitgewirkt haben (u.a. Ulrich von Alemann, Hans Leyendecker, Herfried Münkler, Jürgen Wilke), vom Bemühen gekennzeichnet, die verschiedenen Skandale hinsichtlich ihrer spezifischen Merkmale, historischen Bedingungen und Folgen zu analysieren. Zu betonen ist ferner die gelungene, detailgetreue Rekonstruktion der Skandale. Sie profitiert stark von den Ausstellungsstücken: ob die Visitenkarte eines Freiers von Rosemarie Nitribitt, das Original-Manuskript von Bundestagspräsident Jenninger (mit Anführungszeichen) oder der einem Contergan-geschädigten Mädchen von Mitschülern zugesteckte Zettel mit der Aufschrift „Krüppel“ – die Skandale werden auf mitunter beklemmende Weise lebendig.

Welche Prognosen lassen sich zur Zukunft des Skandals treffen? Zum einen stößt die heute inflationär anmutende Berichterstattung über vermeintliche Skandale auf eine „Ökonomie des Skandalbewusstseins“ (Christian Schütze). Das Maß an öffentlicher Erregung und deren Frequenz lassen sich nicht endlos steigern. Zum anderen sind die strukturellen Voraussetzungen zur Aufdeckung von Skandalen in der Bundesrepublik günstig. Wachsende Medienkonkurrenz, sinkende Loyalitätsbindungen und Pluralisierung politischer Lager – all dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass skandalöses Verhalten aufgedeckt oder aber medial erst produziert wird. Dazu wird in Zukunft auch das als Gerüchteküche und Geburtshelfer für Skandale geradezu prädestinierte Internet beitragen. Dabei werden sich die Hauptdarsteller von Skandalen vermutlich nicht mehr vorrangig aus politischen Akteuren rekrutieren. Vielmehr indizieren Zumwinkel-Affäre, Lidl-Überwachungsskandal und Siemens-Skandal, dass sich Skandale zunehmend im Wirtschaftsbereich abspielen (werden), der mit der zunehmenden Entfremdung des Managements von der Bevölkerungsmehrheit den fruchtbaren Bodensatz für Skandalisierungen und Skandale bereithält. Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Bedürfnisses nach einer „moralischen Ökonomie“ wächst die Empörung, wenn Skandale nicht mehr als Einzelfälle, sondern als Beispiele eines übergreifenden Skandalkomplexes empfunden werden. Insofern gibt der letzte Fall der Ausstellung, der Mannesmann-Vodafone-Skandal, einen durchaus realistischen Ausblick auf die Gestalt zukünftiger Skandale.

Anmerkungen:
1 Vgl. Laermann, Klaus, Die gräßliche Bescherung. Zur Anatomie des politischen Skandals, in: Kursbuch 77 (1984), S. 159-172, hier S. 159; Neckel, Sighard, Das Stellhölzchen der Macht. Zur Soziologie des politischen Skandals, in: Leviathan 14 (1986), S. 581-605, hier S. 581.
2 Beule, Jürgen; Hondrich, Karl Otto, Skandale als Kristallisationspunkte politischen Streits, in: Sarcinelli, Ulrich (Hrsg.), Demokratische Streitkultur. Theoretische Grundpositionen und Handlungsalternativen in Politikfeldern, Bonn 1990, S. 144-156, hier S. 145.
3 Für eine abweichende Perspektive auf Skandale in Diktaturen vgl. Sabrow, Martin (Hrsg.), Skandal und Diktatur. Formen öffentlicher Empörung im NS-Staat und in der DDR, Göttingen 2004.
4 Vgl. Hafner, Georg M.; Jacoby, Edmund (Hrsg.), Die Skandale der Republik, Hamburg 1990.

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