Die 68er. Kurzer Sommer - lange Wirkung

Die 68er. Kurzer Sommer - lange Wirkung

Veranstalter
Historisches Museum Frankfurt am Main (in Kooperation mit dem Ausstellungsbüro Palma3, Bern) <http://www.historisches-museum.frankfurt.de> <http://www.die-68er.de> (10279)
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10279
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.05.2008 - 02.11.2008

Publikation(en)

Cover
Schwab, Andreas; Schappach, Beate; Gogos, Manuel (Hrsg.): Die 68er. Kurzer Sommer - lange Wirkung. Essen 2008 : Klartext Verlag, ISBN 978-3-89861-887-8 304 S., 300 Abb. € 29,90 (Buchhandelsausg.), € 24,00 (Museumsausg.)
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claus Kröger, SFB 584 „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“, Universität Bielefeld

Von Ende Januar bis Ende Mai 2008 lief im Berliner Amerika-Haus die Ausstellung „’68 – Brennpunkt Berlin“.1 Die Stiftung Stadtmuseum Berlin zeigt im Ephraim-Palais noch bis zum 2. November die Ausstellung „Berlin 68. sichten einer revolte“.2 Die Frankfurter Schau „Die 68er. Kurzer Sommer – lange Wirkung“ versteht sich indes als „einzige umfassende Ausstellung zum Thema“ (<http://www.die-68er.de>). Umfassend fällt jedenfalls die mediale Begleitung aus. Neben der aufwändig gestalteten Website, auf der das umfangreiche Begleitprogramm und etliche Rezensionen der Ausstellung aus der Tagespresse zu finden sind, dem Ausstellungsführer im Mao-Bibel-Format, einem Audioguide und dem Katalog gibt es ein Hörbuch mit Zeitzeugengesprächen, ein literarisches Lesebuch sowie eine DVD mit dem Titel „68 Fragen an… Eine virtuelle Gesprächsrunde mit 8 Protagonisten“, die die von den Berliner Filmemachern Rouven Rech und Teresa Renn konzipierte Video-Installation aus dem Eingangsbereich der Ausstellung enthält.

Am Anfang steht dort die Erinnerung. Auf kreisförmig angeordneten Leinwänden in einem abgedunkelten Raum sind insgesamt acht Personen zu sehen, die heute, 40 Jahre nach den Ereignissen, über „1968“ sprechen. Bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser geschlechterparitätisch besetzten Runde handelt es sich nicht nur um die „üblichen Verdächtigen“. Neben dem damals sowohl in der französischen wie auch in der deutschen Studentenbewegung aktiven Daniel Cohn-Bendit finden sich Silvia Bovenschen (Ostermarschiererin, SDS-Mitglied und Mitbegründerin des ersten Weiberrates), Martin Dannecker (aktiv in der Schwulenbewegung der 1970er-Jahre), Gretchen Dutschke-Klotz (engagiert im SDS und in der Frauenbewegung), Beate Klarsfeld (spürte NS-Täter auf und ohrfeigte 1968 Kanzler Kiesinger wegen dessen NS-Vergangenheit), Barbara Köster (SDS-Mitglied und später aktiv in der Frauenbewegung), Bahman Nirumand (Organisator der Anti-Schah-Proteste) und Karl Dietrich („KD“) Wolff (1967/68 SDS-Vorsitzender).

Eine interessante Auswahl, mag man denken, auch wenn der Schwerpunkt ersichtlich auf Westdeutschland liegt. Und dennoch: Alt-68er, die in Erinnerungen schwelgen oder auch, im Gegenteil, sich von ihrer Vergangenheit distanzieren – das lädt nicht notwendigerweise zum Hinsehen und Zuhören ein. Hier schon: Die Aufnahmen, offenbar ausgewählte Antworten aus umfangreichen Einzelinterviews, wie sich aus dem Ausstellungsführer schließen lässt, sind so geschnitten worden, als diskutierten die acht miteinander – über ihre Selbstwahrnehmung als „68er“, die internationale Dimension der Proteste, die Bedeutung des 2. Juni 1967 als Mobilisierungsfaktor für die Studentenbewegung, über ihre Rezeption der NS-Vergangenheit, die Gewaltfrage, das Ende der Bewegung und die Nachwirkungen der Revolte. Zudem wechseln sich ruhige Analysen und Reflexionen mit deutlich emotional gefärbten Statements ab; mehrfach deuten sich Kontroversen an. Verstärkt wird die Vielstimmigkeit noch dadurch, dass jede Person ihr ganz persönliches Erinnerungsstück an jene Jahre präsentiert. Hier stößt sehr Verschiedenes manchmal unvermittelt aufeinander. Zeugnisse damaliger Konsumkultur, eine Packung filterloser Zigaretten oder ein bereits im Herbst 1968 erschienenes Brettspiel zum französischen Mai etwa, stehen neben einer Kriegstrophäe wie dem Fragment eines über Vietnam abgeschossenen US-amerikanischen Kampfflugzeuges oder auch einem Orden der französischen Ehrenlegion. Die Vielfalt der Meinungen, Positionen und Erinnerungen steht für die Pluralität der Aufbrüche in den 1960er-Jahren. Allzu schlichte (Vor-)Urteile über „1968“ und die „68er“ werden so gleich zu Beginn auf eine harte Probe gestellt. Kurzum: Diese Installation ist ebenso klug wie kurzweilig arrangiert und bietet einen sehr sehenswerten Auftakt der Ausstellung. Man ist gespannt, wie es weitergeht.

Im Hauptraum der Ausstellung steht eine Dia-Installation im Zentrum. Unter dem prägnanten Titel „Die Spießerhölle“ wird hier präsentiert, wogegen sich die „68er“ wandten, welches ihre Feindbilder waren. Diese Installation lässt sich durchaus als hintersinnig lesen, setzen sich die Aufnahmen doch nicht etwa aus Dokumentar-, sondern aus Werbefotografien der 1950er- und 1960er-Jahre zusammen, die jeweils kleinbürgerliche Idyllen am Frühstückstisch, zu Weihnachten oder beim Restaurantbesuch zeigen. Für den aufmerksamen Betrachter wird gleichsam nebenbei die interessante Frage aufgeworfen, wie realistisch das Gesellschaftsbild der 68er-Bewegung denn eigentlich gewesen sein mag. War die bundesrepublikanische Gesellschaft jener Zeit wirklich noch so konservativ, reformfeindlich und „spießig“, wie die Protestierenden glaubten?

Rings um die „Spießerhölle“ sind im Uhrzeigersinn die acht Themenbereiche der Ausstellung angeordnet: Den Themen „Bildung und Erziehung“, „Wohngemeinschaften und Kommune“, „Geschlechterrollen“, „Selbstverwaltung“, „Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit“, „Antiimperialismus und Demokratiebewegung“, „Aktionsformen und Gewaltfrage“ sowie „Lebensstile“ ist je eine Koje gewidmet. Hier soll demonstriert werden, wie umfassend und vielfältig die Impulse von „1968“ gewesen sind, und welches – mit den Worten des Ausstellungsflyers gesprochen – „die wichtigsten Schauplätze der gesellschaftlichen Auseinandersetzung in Westdeutschland“ waren. Präsentiert werden neben der üblichen Flachware aus Fotografien und Flugblättern auch dreidimensionale Objekte: zwei akademische Talare, ein Matrizendrucker zum Kopieren von Flugblättern, ein original WG-Küchentisch – um nur einige zu nennen. Ergänzend dazu stehen in jedem Themenbereich Multimediasäulen, an denen sich weitere Ton- und Bilddokumente abrufen lassen.

In den genannten Bereichen wird eine Fülle von Themen angesprochen: Der Bildungsnotstand, die Politisierung der Universitäten und die Entstehung der ersten Kinderläden, das Aufkommen der Wohngemeinschaften und die Versuche, die Arbeitswelt durch selbstverwaltete Betriebe umzugestalten, ebenso wie die Schwulen-, die Lesben- und die Frauenbewegung, die „sexuelle Revolution“, das Nachwirken des Nationalsozialismus, die Hausbesetzungen, die Entstehung neuer Konsummuster – „1968“ als Kaleidoskop. Die Sektion „Aktionsformen und Gewaltfrage“ spart auch den Terrorismus der 1970er-Jahre nicht aus, präsentiert ihn aber auf einem gesonderten Rondell so, dass er als Möglichkeit, aber keinesfalls als zwangsläufiges Ergebnis von „1968“ erscheint. All dies wird aus einem bundesdeutschen Blickwinkel betrachtet und reicht in zeitlicher Hinsicht bis in die späten 1970er-Jahre. Die internationale – oder transnationale? – Dimension von „1968“ wird in einer eigenen Sektion abgehandelt. Im Vergleich mit der Video-Installation des Eingangsbereichs fällt der Hauptteil der Ausstellung wesentlich konventioneller aus. Am Ende besteht die Möglichkeit, selbst das Wort zu ergreifen, präziser: den Stift zu nehmen und die Ausstellung auf einer Wandtafel oder, klassischer, im Besucherbuch zu kommentieren. Glaubt man den dortigen Einträgen, so findet die Ausstellung unter den Besucherinnen und Besuchern ganz überwiegend Zustimmung. Das kann man verstehen: Zweifelsohne hat sie Schau- und Unterhaltungswert.

Welche weiteren Kernaussagen und Leitthesen der Ausstellung lassen sich beobachten? Folgt sie einem zentralen Narrativ, und wie verhält sie sich zur fachwissenschaftlichen Diskussion des Themas „1968“? Mit Blick auf die im Eingangsbereich zu sehende virtuelle Debatte der ehemaligen Akteure schreiben die Kuratoren im Katalog, hier werde „auf eine abschließende Mastererzählung verzichtet“ (S. 19). Das scheint gleichsam das Motto der gesamten Ausstellung zu sein, denn einige Seiten weiter steht zu lesen: „Einer einseitigen Bewertung von 1968 schließt sich die Ausstellung bewusst nicht an.“ (S. 22) Diese Selbsteinschätzung trifft aber nur teilweise zu. Immerhin postuliert die Ausstellung ja bereits im Titel langfristige und tiefgreifende gesellschaftliche Auswirkungen der Protestereignisse und versteht die Politisierungsprozesse sowie den soziokulturellen Wandel der 1970er-Jahre als Folgen der Zäsur „1968“.3 Das ist eine sehr starke Kausalitätsannahme, die argumentativ nicht hinreichend gestützt wird. Angemessener wäre es gewesen, den Untertitel als Frage zu formulieren. Denn die derzeitige Historiographie plädiert mit guten Gründen für eine Historisierung von „1968“ im Kontext der „langen 1960er-Jahre“ und erkennt den Beginn der gesellschaftlichen Liberalisierung bereits in den späten 1950er-Jahren.4 Festzuhalten bleibt aber, dass ein differenzierteres Urteil über den Stellenwert von „1968“ erst möglich sein wird, wenn wir auch mehr über die Gesellschaftsgeschichte der 1970er-Jahre wissen.5

Anmerkungen:
1 Rezensiert von Andreas Schneider: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=66&type=rezausstellungenngen>.
2 <http://www.stadtmuseum.de/index3.php?museum=ep&id=324=324>.
3 Darin ähnelt die Ausstellung augenscheinlich sehr ihrem Berliner Gegenstück „’68 – Brennpunkt Berlin“. In der neueren Forschung hingegen steht die Zäsurthese, die ihre Anziehungskraft in erheblichem Maße durch die Eigenlogik von Jahrestagen erhält, nicht mehr so deutlich im Vordergrund. Vgl. Klimke, Martin; Scharloth, Joachim (Hrsg.), 1968 in Europe. A History of Protest and Activism, 1956–1977, Basingstoke 2008. Die beiden Herausgeber schreiben bereits im Vorwort auf S. 6, dass „nobody today seriously doubts that European societies were fundamentally transformed as a result of the events of ‘1968’.“ Andererseits relativieren sie dies, indem sie und die übrigen Autoren mit ihren Analysen bewusst schon in den 1950er-Jahren einsetzen.
4 Vgl. den Forschungsbericht von Detlef Siegfried (Dezember 2002, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=2327>) und die Sammelrezension von Philipp Gassert (Juni 2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-2-183>). Zwar wird dieser Forschungsstand im Katalog gleich eingangs knapp zur Kenntnis genommen (vgl. S. 13), doch bleibt dies für die Ausstellung und die anderen Katalogbeiträge folgenlos.
5 Vgl. etwa Jarausch, Konrad H., Krise oder Aufbruch? Historische Annäherungen an die 1970er-Jahre, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), S. 334-341, auch online unter URL: <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Jarausch-3-2006>.

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