Ernst May (1886–1970). Neue Städte auf drei Kontinenten

Ernst May (1886–1970). Neue Städte auf drei Kontinenten

Veranstalter
Deutsches Architekturmuseum (DAM), Frankfurt a.M., in Kooperation mit der Ernst-May-Gesellschaft e.V. (10276)
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10276
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.07.2011 - 06.11.2011

Publikation(en)

Cover
Quiring, Claudia; Voigt, Wolfgang; Schmal, Peter Cachola; Herrel, Eckhard (Hrsg.): Ernst May 1886-1970. . München 2011 : Prestel Verlag, ISBN 978-3-7913-5132-2 336 S., 471 Abb. € 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Fülscher, Institut für Architekturgeschichte, Universität Stuttgart

Pünktlich zum 125. Geburtstag von Ernst May am 27. Juli 2011 hat das Deutsche Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt a.M. dem Architekten und Stadtplaner seine dritte Ausstellung innerhalb von 25 Jahren gewidmet. Diese große Aufmerksamkeit wird May sehr wohl gerecht, da sich an seinem Wirken und Werdegang die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts in all ihren Brüchen widerspiegelt. Der gebürtige Frankfurter hatte in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre als Baudezernent das Bild seiner Heimatstadt stark verändert und prägt es bis heute. Unter seiner Führung sind innerhalb von fünf Jahren an die 10.000 Wohnungen und Häuser entstanden, die die katastrophalen innerstädtischen Wohnverhältnisse nach der Industrialisierung und dem Ersten Weltkrieg verbessern sollten. In Anlehnung an die englische Gartenstadt, mit der May während eines Praktikums beim Architekten und Stadtplaner Raymond Unwin in Berührung gekommen war, entwickelte er mit seinen Mitarbeitern am Frankfurter Stadtrand Trabantensiedlungen, die im Sinne der „Neuen Sachlichkeit“ in einer reduzierten und typisierten Formensprache gesunden und ausreichenden Wohnraum für die unteren Bevölkerungsschichten bieten sollten. Optimal organisierte Grundrisse mit Arbeitsküchen sowie hauseigenen Gartenflächen zur angeleiteten Selbstversorgung sollten die Arbeiterfamilien zu mündigen Bewohnern erziehen. Analog zum Begriff des „Neuen Bauens“ prägte May als Herausgeber einer gleichnamigen Zeitschrift den Ausdruck des „Neuen Frankfurt“, der für die erste Ausstellung des DAM unter der Leitung von Heinrich Klotz im Jahre 1986 Pate stand. Eine zweite, von Eckhard Herrel konzipierte Ausstellung folgte 2001; sie legte den Schwerpunkt auf Mays 20-jähriges Wirken in Afrika.

In der aktuellen Ausstellung präsentiert das DAM nun das Gesamtwerk von Ernst May auf zwei Etagen. Die angesichts einer Schaffenszeit von nahezu sechs Jahrzehnten sehr kurzen fünf Frankfurter Jahre werden mit der Einnahme des gesamten Obergeschosses über das vorausgegangene und anschließende Werk in der Eingangsebene gehoben, was lokalpatriotisch anmutet. Tatsächlich begründet der Zeitraum von 1925 bis 1930 den internationalen Ruhm Mays; diese Phase gilt mit der Ausrichtung des CIAM II (Congrès International d’Architecture Moderne) im Jahre 1929 in Frankfurt als Höhepunkt seiner Karriere.1 May selbst mag dies allerdings zunächst anders gesehen haben, da er mit seinem Ruf nach Moskau eine weit höhere Stellung einnehmen und dort zeitweise bis zu 800 Mitarbeiter führen konnte (Katalog, S. 157).2

Es ist ein großes Verdienst der Ausstellung und der Kuratorin Claudia Quiring, das Œuvre Mays trotz kurzer Vorbereitungszeit in dieser Breite darzustellen. Didaktisch sehr gut aufbereitet, werden die einzelnen Stationen aus Mays (Werk-)Biographie anhand von ersten Skizzenbüchern, originalen Planzeichnungen, Fotos, Modellen und Möbelentwürfen anschaulich dokumentiert. Hervorzuheben sind hierbei die Sektionen zu Mays Tätigkeit in Breslau (1919–1925) und Moskau (1930–1933). Dank aktueller Forschungsergebnisse kann auf bisher unbekanntes Bild- und Planmaterial in neuen Zusammenhängen zurückgegriffen werden. Die Tätigkeit für die Wohnungsfürsorgegesellschaft Schlesische Heimstätte dokumentiert Mays frühe Beschäftigung mit dörflichen Siedlungsstrukturen, die sich an den Gehältern der Arbeiter orientieren sollten. Er entwickelte mehrere standardisierte Typenhäuser, von denen drei als Modelle zu sehen sind. Ein Beispiel ist das Bohlenbinderhaus in Oltaschin, das an Entwürfe von Hans Poelzig erinnert, der wenige Jahre zuvor in Breslau gewirkt hatte; ein weiteres Beispiel ist der Entwurf für ein „Nurdachhaus“, das lediglich als Mustergebäude realisiert wurde.3 Insbesondere dieses offenbart Mays Versuch, die Kosten zu reduzieren, indem örtlich verfügbare und erschwingliche Materialien verwendet werden sollten sowie zur Selbsthilfe angeleitet wurde.

Ein umfangreiches Konvolut an Aufnahmen, die May in der Sowjetunion mit seiner Stereokamera erstellte, ist für die jetzige Ausstellung digital aufbereitet worden und vermittelt nun dreidimensional das waghalsig erscheinende „Unternehmen Sowjetunion“. Mit der anschaulichen Darstellung der Uralstadt Magnitogorsk wird Mays Aufgabenspektrum deutlich. „Als Chefingenieur des Projektplanungsbüros […] der Cekombank wurde Ernst May […] am 07.10.1930 [zugleich] Chefingenieur des Städte- und Siedlungsbaus der UdSSR […].“ (Katalog, S. 161f.) Er war somit zuständig für die Errichtung ganzer Städte an Standorten der Schwerindustrie mit insgesamt 700.000 Wohnungen in standardisierten Einheiten, mit Verwaltungs- und Kulturbauten, Versorgungs- und Bildungseinrichtungen innerhalb einer Jahresfrist. Die Ideale des Neuen Bauens allerdings konnte May dort nicht einmal ansatzweise verwirklichen; sie kollidierten mit dem aus dieser Sicht rückwärtsgewandten Wunsch der sowjetischen Entscheidungsträger nach prächtigen städtebaulichen Ensembles und tradierter Repräsentationsarchitektur. May musste nach eineinhalb Jahren gar eine Degradierung mit beträchtlicher Lohnkürzung in Kauf nehmen (Katalog, S. 148, S. 169, S. 176). Dem Trugschluss, die eigenen Ideale in anderen Kontexten verbreiten zu können, ohne die politischen Mechanismen und kulturellen Eigenheiten wirklich zu durchdringen, erlagen somit auch May und seine Mitarbeiter.

In der auf Frankfurt bezogenen Sektion der Ausstellung im Obergeschoss bieten bisher unbekannte Fotos der Mitarbeiter sowie viele Möbelexponate neue Eindrücke, die natürlich um die „Frankfurter Küche“ ergänzt werden. Im Zentrum steht ein Übersichtsmodell, in dem alle unter Mays Leitung entstandenen Frankfurter Siedlungen dargestellt sind. Es schafft einen Zusammenhang zwischen allen weiteren Modellen der größeren Siedlungen in Frankfurt-Praunheim, Römerstadt und Bornheimer Hang.

Den zahlreichen Projekten, mit denen sich May ab 1954 zunächst in zweijähriger Tätigkeit als Leiter des Planungsstabs der Neuen Heimat und später als selbstständiger Architekt bis 1970 beschäftigte, wird in der Ausstellung zu wenig Raum eingeräumt. Man hätte sie vermutlich am liebsten ganz weggelassen, die nur in Ansätzen realisierte Neuordnung von Neu-Altona in Hamburg und die Großsiedlungen in Bremen bzw. Bremerhaven, die inzwischen in Teilen zu sozialen Brennpunkten geworden sind. Natürlich erlag auch May so manchem architektonischen Irrtum. Doch es ist an der Zeit, den städtebaulichen, architektonischen und soziologischen Qualitäten dieser Projekte oder auch nur ihrer Intentionen die angemessene Anerkennung zuzugestehen.

Ernst May gilt als charismatische und mitreißende Person, die andere begeistern konnte. Er war ein begnadeter Organisator und Lenker, der strategisch Mitarbeiter um sich sammelte, die ihm geeignet schienen, seine Ideen mitzutragen und umzusetzen, die aber auch bereit waren, ihre gesamte Arbeitskraft für die übergeordnete Aufgabe einzusetzen. Neben vielen anderen arbeiteten Werner Hebebrand, Mart Stam, Herbert Böhm für ihn im Städtebau; Magarete Schütte-Lihotzky entwickelte die Frankfurter Küche, übernahm in der Sowjetunion aber die Planung der Kindergärten; ihr Gatte Walter Schütte beschäftigte sich bereits in Frankfurt mit Schulbau (Römerstadt); Hans Leistikow war als Grafiker für die Farbgestaltung der Projekte und der von May herausgegebenen Zeitschriften zuständig.

Während in der Ausstellung die Vielzahl der Projekte Mays im Vordergrund steht und die Aura einer herausragenden Persönlichkeit zelebriert wird, klingen im Katalog andere Töne an. Hier und da erkennt man einen Mann, der ohne Rücksicht auf Verluste zum Größenwahn neigte, der es allerdings auch verstand, sein engstes Umfeld zu motivieren. Zahlreiche Mitarbeiter folgten May von Breslau nach Frankfurt, von Frankfurt nach Moskau. Und May zehrte von diesem Netzwerk, als er 1954 nach Deutschland zurückkehrte. Doch vereinzelt werden Aussagen zitiert, dass May es mit der Urheberschaft seiner Mitarbeiter nicht so genau nahm (Katalog, S. 135). Dieser Sachverhalt zeigt die andere Seite Mays. Sie offenbart einen Mann, der, von seinem Geltungsbedürfnis gelenkt und mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein ausgestattet, ganz selbstverständlich davon ausging, von Josef Stalin persönlich empfangen zu werden, um diesem seine Ideen zum sowjetischen Städtebau erläutern zu können (Katalog, S. 147, S. 171). Die immer wieder aufkeimende Frage, wie viel May in den einzelnen Projekten tatsächlich steckt, wurde aber erst deutlich auf der Tagung diskutiert, die begleitend zur Ausstellung vom 29. September bis zum 1. Oktober 2011 unter dem Titel „Platte, Siedlung, Trabantenstadt“ in Frankfurt a.M. stattfand.4 Insgesamt entsteht nun ein differenzierteres Bild Mays – nicht dasjenige des überragenden Entwerfers, der seine eigene Handschrift entwickelt hatte. Angesichts des großen Bauvolumens, das es schon in Frankfurt zu bewältigen galt, wäre die Annahme ohnehin naiv, dass jede Idee, jedes Projekt, jede einzelne Wohnung maßgeblich der Feder Mays entstammen könne. Der Einfluss der einzelnen Mitarbeiter auf die verschiedenen Projekte, die unter dem Namen May firmieren, bleibt eine wissenschaftliche Frage, deren Klärung nach wie vor weitgehend aussteht.

Trotz Darstellung aller perfektionistischen Tendenzen, die Mays Persönlichkeit aufweist, zeigt die aktuelle Ausstellung in erster Linie einen bedeutenden Visionär, der zwar seine Ziele kompromisslos gegenüber den Mitarbeitern und Auftraggebern durchsetzen konnte, sich indes stets seiner sozialen Verantwortung als Architekt und Stadtplaner bewusst war und sich dieser Aufgabe stellte.

Anmerkungen:
1 Internationale Kongresse für Neues Bauen / Städtisches Hochbauamt Frankfurt am Main (Hrsg.), Die Wohnung für das Existenzminimum. 100 Grundrisse, Frankfurt am Main 1930.
2 Vgl. demnächst Thomas Flierl (Hrsg.), Standardstädte. Ernst May in der Sowjetunion 1930–1933. Texte und Dokumente, Frankfurt am Main 2012 (angekündigt für Januar).
3 Schlesisches Heim 1922/27, S. 110f.
4 Siehe das Programm unter <http://arthist.net/archive/1815> (23.10.2011).