Fastnacht der Hölle. Der Erste Weltkrieg und die Sinne

Fastnacht der Hölle. Der Erste Weltkrieg und die Sinne

Veranstalter
Haus der Geschichte Baden-Württemberg <http://www.krieg-und-sinne.de>
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.04.2014 - 01.03.2015

Publikation(en)

Cover
Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.): Fastnacht der Hölle. Der Erste Weltkrieg und die Sinne. Stuttgart 2014 : Haus der Geschichte Baden-Württemberg, ISBN 978-3-933726-47-6 187 S., zahlr. Abb. € 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Thiemeyer, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Ernst Jünger, dieser kalte Chronist des Ersten Weltkriegs, war ein großer Wortschöpfer. Die Urgewalt der Kämpfe galt ihm als „Ausbruch der Elemente“, die granatreichen Materialschlachten nannte er „Stahlgewitter“, aus dem Krieg machte seine Prosa schon 1916 eine „Fastnacht der Hölle“, ein Sinnesspektakel, das zwar die Wahrnehmung permanent überfordere, „heftige Kopf- und Ohrenschmerzen“ verursache und das logische Denken ausschalte, Jünger aber dennoch faszinierte. Diese Ambivalenz zwischen Spektakel und Debakel ist kennzeichnend für Jüngers Blick auf den Ersten Weltkrieg und hat ihm den Ruf des Kriegsverherrlichers eingetragen.

Nun kehrt seine Metapher im Titel der Landesausstellung „Fastnacht der Hölle. Der Erste Weltkrieg und die Sinne“ im Stuttgarter Haus der Geschichte Baden-Württemberg zurück. Die Ausstellung will den Ersten Weltkrieg als sinnliches Erlebnis erfahrbar machen, um sich mit dieser neuen Perspektive von anderen Medien (und anderen Weltkriegsschauen) durch einen Ansatz zu unterscheiden, der nur im Ausstellungsraum umsetzbar ist, wo der Rezipient Dinge berühren, riechen und fühlen kann.

Die Idee ist gut, weil sie einen klaren Zugriff verspricht und sich auf neuere Forschungen stützen kann.1 Allein, die Ausstellung hält nicht, was der Titel ankündigt. Während die Konzeptidee darauf abzielt, den Krieg als sinnliches Erlebnis spürbar zu machen, fangen die Exponate die Ereignisse nur selten sinnfällig ein – dafür erzählen sie aber ganz eigene, faszinierende Geschichten. Die Kuratoren Paula Lutum-Lenger, Johannes Dörfler, Franziska Dunkel und Johannes Häußler haben ihre Exponate nicht konsequent auf das Thema hin gewählt, sondern sind der Attraktivität der Bestände (das allermeiste stammt von Archiven und Museen aus Baden-Württemberg) und deren Geschichten gefolgt. So hat diese Ausstellung eine schwache Kontur, aber starke Objekte. Ihr Besuch lohnt sich, weil „Fastnacht der Hölle“ auch ästhetisch überzeugt, didaktisch provoziert und inszenatorisch überrascht.

Die Stuttgarter Schau besteht aus vier weitgehend unverbundenen Raumsegmenten: fünf Kabinetten zu den fünf Sinnen als Auftakt, einem chronologischen Band, das den Raum an der Außenwand umläuft und kalendarisch wichtige Kriegsereignisse aufführt, drei großen Vitrinen zu Front, Etappe und Heimat mit Objekten aus dem Krieg sowie einem Epilog zu den Nachwirkungen des Krieges bis in die Gegenwart. Den Auftakt bilden fünf Stelen, die von der Decke herunterhängen und vermitteln sollen, wie der Krieg schmeckte, roch, sich anfühlte, wie man ihn hörte und sah. Hier kann man Kriegs-Zwieback probieren, der ohne Eier und Milch gebacken werden musste; man kann an Phiolen schnüffeln, die den fauligen Geruch aus den Schützengräben und das Tod bringende Phosgengas simulieren sollen (was nicht gelingt); man fühlt, wie kalt 15 Grad Celsius sind, die das Hochbauamt Freiburg 1917 aufgrund des Kohlenmangels als Raumtemperatur für öffentliche Gebäude festlegte; man hört Trommelfeuer, leichte Schrapnells und MG-Salven aus dem Film „Im Westen nichts Neues“ (Lewis Milestone, 1930); und man sieht farbige deutsche Propagandafotografien, die Vieles zeigen, nur nicht die hässlichen Seiten des Krieges – also Tote, Verwundete, schlammige Gräben und hoffnungslose Soldaten. Solche Stationen, die auf sinnliches Nachempfinden zielen, wirken in Ausstellungen häufig infantil. In der Stuttgarter Ausstellung funktionieren sie, weil sie das Thema fundieren, indem sie es multisensorisch aufbereiten, und weil die Kuratoren auf Distanz zu der suggerierten Nähe gehen: Alles, was man hier sinnlich wahrnimmt, ist nicht authentisch, sondern inszeniert, wurde zu Propagandazwecken hergestellt oder später simuliert. Die abstrakte Architektur tut das Ihre, um den Eindruck des direkten Eintauchens in den Krieg zu vermeiden.2

Das eigentliche Zentrum der Schau sind drei raumgreifende Großvitrinen (Grundfläche je sechs mal acht Meter), die akkurat in Szene gesetzte Stücke aus dem Krieg zeigen. Bei diesen Vitrinen verliert sich das Leitmotiv der Ausstellung, weil sich die Struktur ändert, die Themen beliebig werden und der Hang zur umfassenden Darstellung des Ereignisses dominiert. Statt der fünf Sinne strukturieren jetzt die Kriegsräume Front, Etappe und Heimat das Thema. Die Kuratoren verstehen sie als Wahrnehmungsräume, in denen der Krieg jeweils anders auf die Betroffenen wirkte. Da es aber keine Einleitungs- und Bereichstexte gibt, bleibt dieser Transfer unverständlich. Die textliche Zurückhaltung verwehrt den Blick auf größere Zusammenhänge und Kontexte; sie bringt den Betrachter stattdessen direkt zum Objekt, ohne ihn zuvor belehren zu wollen. Das ist bewundernswert konsequent, weil es die Ausstellung als sinnliches Medium ernstnimmt, und irritierend, weil strukturierende Hinweise fehlen.

Die Exponate hingegen erzählen viel. Sie sind beeindruckende Zeugnisse der großen Gefahren und kleinen Abnormitäten: die obligatorische Gasmaske oder der durchschossene Stahlhelm Ernst Jüngers, die Tod und Massenvernichtung ganz nah heranholen, oder die als Tableau ausgelegten Feldpostbriefe von Friedrich und Alwine Steinle, denen stets Blumen beigefügt waren, um etwas Normalität im Krieg zu behaupten. Die sinnliche Dimension des Krieges machen die Sachzeugnisse aber nur selten augenfällig. Die Bezüge, die die Exponattexte herstellen, wirken oft gesucht, weil sie nicht mit den sichtbaren Spuren an den Dingen argumentieren (können), also mit dem, was am konkreten Objekt sichtbar würde.3

Dennoch bestechen die drei Zentralvitrinen nicht nur durch ihre Dinge, sondern auch durch ihre Ästhetik und einen inszenatorischen Kunstgriff. Als massive weiße Quader, die vom Boden bis zur Decke ragen, sind sie einzig durch einen gläsernen Sichtschlitz unterbrochen und übersetzen so das Brachiale des Krieges in ein passendes Raumbild. Überhaupt ist die Schau dankenswert klar gegliedert und mit ihrer Beschränkung auf die Grundtöne grau und weiß sowie mit den klaren Formen der Ausstellungseinbauten wohltuend nüchtern inszeniert. Expositorisch aufregend macht sie ein alter, im 18. Jahrhundert entwickelter Illusionstrick aus dem Theater namens „Pepper’s Ghost“. Die Stuttgarter Ausstellungsgestalter „Jangled Nerves“ haben Zitate aus Tagebüchern, Zeitzeugenberichten und Feldpostbriefen so auf das schräge Glas gespiegelt, dass die Projektionen in der Vitrine zwischen und über den Objekten zu stehen scheinen, diese kommentieren, überblenden, auftauchen und wieder vergehen. Der Effekt ist ungeheuer, da die Qualität der Projektionen tadellos ist und sie die ansonsten statische Objektpräsentation dynamisieren: Die Zitate bewegen sich und werden mitunter vor den Augen der Betrachter transkribiert. „Pepper’s Ghost“ macht die Erlebnisberichte der Zeitzeugen, die nur als Worte existieren, zu ausstellbaren Objekten. Sie sind Exponate im Raum und fügen der Schau jene Erlebnisnähe, jene sensuelle und emotionale Eindrücklichkeit hinzu, die ihr im Laufe des Parcours abhanden zu kommen droht.

Die flüchtige Schrift auf dem Glas ist der passende Kunstgriff einer Präsentation, die Wahrnehmungen dingfest machen will und die Vergänglichkeit des Menschen im Krieg als unterschwelliges Narrativ stets mitführt. Über dem hölzernen Grabkreuz des Soldaten Wilhelm Petzold, das Ehrenkreuz und Eichenlaub zieren, erscheint aus dem Nichts der projizierte letzte Eintrag seiner Krankenakte: „28.11. Sehr bleich. Ad finem vergebens. 30.11. d. Nachts 2 1/2 exitus.“ Dann verschwindet die Schrift. Was bleibt, ist ein starker Eindruck.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Julia Encke, Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne 1914–1934, Paderborn 2006; Roger Chickering, Freiburg im Ersten Weltkrieg. Totaler Krieg und städtischer Alltag 1914–1918, Paderborn 2009; Juliette Courmont, L’odeur de l’ennemi 1914–1918, Paris 2010; Gerhard Paul / Ralph Schock (Hrsg.), Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen 1889 bis heute, Bonn 2013.
2 Einen optischen Eindruck von den Ausstellungsräumen gibt die Bildstrecke unter <https://www.flickr.com/photos/hdgbw/13620515355/in/set-72157634108695376> (20.05.2014).
3 Vgl. auch die allgemeineren Überlegungen von Detlef Hoffmann, Zeitgeschichte aus Spuren ermitteln. Ein Plädoyer für ein Denken vom Objekt aus, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 4 (2007), S. 200-210, URL: <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Hoffmann-2-2007> (20.05.2014).