Die Geburt der modernen Medizin

Die Geburt der modernen Medizin

Veranstalter
Medizinhistorisches Museum Hamburg Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Martinistr. 52, 20246 Hamburg (Gebäude N30) <http://www.uke.de/medizinhistorisches-museum>
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.10.2013 -
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Britta-Marie Schenk, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Wann wurde die moderne Medizin geboren? Als das Experiment Methode wurde, Mikroskope und Röntgenapparate Unsichtbares sichtbar machten und das moderne Krankenhaus entstand, lautet die Antwort, die einem die Dauerausstellung „Die Geburt der modernen Medizin“ im neu eröffneten Hamburger Medizinhistorischen Museum nahelegt. Museumsdirektor Heinz-Peter Schmiedebach, Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin, würde diese Geburt wohl auf die Jahre um 1870 datieren.1 Immer schärfer zeichneten sich damals Kristallisationspunkte und Reibungsflächen zwischen Medizin, Staat und Gesellschaft ab, wie die Trends der Medikalisierung, Professionalisierung und Bevölkerungspolitik im ausgehenden 19. Jahrhundert verdeutlichen.2 Vielleicht ist es dieses Verhältnis, was das spezifisch Moderne ausmacht, erhöhte es doch den Stellenwert von Medizin als angewandter Wissenschaft in der Gesellschaft.

Anders als der Titel suggeriert, beschränkt sich die Ausstellung keineswegs auf die Geburtsstunde der modernen Medizin. Dies wird bereits am geographischen Schwerpunkt deutlich: dem Fokus auf Hamburg. Die Geschichte der Medizin wird hier mit der Geschichte Hamburgs verwoben, von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein. Besucherinnen und Besucher erwartet jedoch kein streng chronologischer Spaziergang durch die Hamburger Medizingeschichte. Zuerst fühlt man sich in die 1920er-Jahre zurückversetzt. Das hängt damit zusammen, dass sich das Museum in der denkmalgeschützten und frisch restaurierten ehemaligen Pathologie befindet: ein Gebäude des Architekten, Stadtplaners und Hamburger Oberbaudirektors Fritz Schumacher (1869–1947), das 1926 fertiggestellt wurde.

Auf dem riesigen Gelände des heutigen Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf muss man einige Zeit suchen, bis man zu dem dunkelroten Backsteinbau gelangt. Im Inneren umschließen warme Ockertöne holzgeschnitzte Treppengeländer; dunkles Braun dominiert wie in einer Schiffskajüte. Die Lichtverhältnisse ändern sich schlagartig, wenn man den ehemaligen Sektionssaal betritt, in dem Pathologen bis 2006 noch Leichen sezierten – und der als historischer Ort gewissermaßen das größte Objekt der Ausstellung ist; auf Stellwände oder Vitrinen wurde hier bewusst verzichtet. Glasdach und Hängelampen tauchen acht steinerne Seziertische in ein helles, leicht milchiges Licht. Zuerst sucht das Auge nach Bekanntem. Es findet moderne Waschbecken und Papiertuchspender an den Seitenwänden sowie Duschköpfe und -schläuche am Rand der Seziertische. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man tiefe Kerben von abgerutschten oder mit Kraft gebrauchten Instrumenten auf den Tischen. Diese Gebrauchsspuren lassen die vielen tausend Leichen erahnen, die auf diesen Tischen bearbeitet wurden. Allein gelassen mit vielen Fragen zum medizinischen Umgang mit toten Körpern, fällt der Blick auf das neue, nicht aus den 1920er-Jahren stammende Gemälde „Es ist das Gehen, der Weg und weiter nichts“ von Rainer Mekelburg, das im Sektionssaal hängt. Der Tod wird als Schatten dargestellt, der Menschen in die Schattenwelt zieht; die Lebenden stehen passiv daneben. Ist das Bild als Rechtfertigung für die Arbeit der Pathologen zu lesen? Als gangbarer Weg, zu akzeptieren, was das Leben und die Medizin leisten können und wo die Grenzen liegen?

Philosophische und ethische Fragen evoziert auch das Thema Moulagen, dem ein ganzer Ausstellungsraum gewidmet ist. Hauptsächlich wegen dieser Objekte wird ganz zu Recht empfohlen, dass Kinder und Jugendliche bis 16 Jahre die Ausstellung nur in Begleitung von Erwachsenen besuchen sollen. Die wächsernen Nachbildungen von Körperteilen, die von Krankheitszeichen betroffen waren, stammen in Hamburg aus zwei Sammlungen, die zwischen den 1880er- und den 1940er-Jahren angelegt wurden. Für die Negativformen war ein Gipsabdruck der verletzten und befallenen Stellen der Haut erforderlich. Zwar wäre es problematisch, heutiges Schmerzempfinden auf die damalige Zeit zu übertragen. Trotzdem stellt sich hier die Frage nach der Einwilligung der Patientinnen und Patienten in einen sicher nicht schmerzfreien Vorgang. Diese Frage bleibt leider auch auf den Schautafeln unbeantwortet. Nachvollziehbar ist dagegen die Auswahl der Exponate: Obwohl die Moulagensammlung des Hamburger Universitätsklinikums mit ungefähr 650 Objekten eine der größten weltweit ist, wird nur eine kleine Auswahl von ca. 30 Moulagen präsentiert (vornehmlich Nachbildungen mit Syphilis befallener Körperteile). Schließlich würde bei einer noch größeren Anzahl ausgestellter Moulagen die Gefahr bestehen, dass der individuelle Mensch und ein humaner Umgang mit ihm in der Masse verschwinden könnten – Michael Fehr hat dies kürzlich am Beispiel des „Mütter Museum“ in Philadelphia problematisiert.3

Von einem Gang im Seitenflügel des Gebäudes zweigen fünf weitere Ausstellungsräume ab, von denen drei der Medizintechnik gewidmet sind. Mikroskope, Röntgen- und Zahntechnik spiegeln die enge Verbindung zwischen Medizin und Technik wider. Einige der vielen Mikroskope aus dem 19. Jahrhundert wurden auch von privaten Spendern beigesteuert. Ein Pedoskop, auf dem Schuhkäufer in den 1950er- bis 1970er-Jahren aufgefordert wurden: „Lassen Sie sich Ihren Fuß kostenlos durchleuchten“, zeigt den sorglosen Umgang mit Röntgenstrahlen vor noch gar nicht langer Zeit. Ähnlich abschreckend wirkt das größte Exponat der zahnmedizinischen Sammlung, eine „Seitenrad-Tretbohrmaschine“, mit der von 1850 bis 1900 Karies abgetragen wurde. Diese umfängliche Sammlung reicht von Prothesen und Zahnersatz bis hin zur Geschichte der Zahnfee, die Kindern ein Geschenk bringt, wenn sie einen herausgefallenen Milchzahn unters Kopfkissen legen.

Bis heute ist der Hafen Hamburgs Aushängeschild. Für die Medizin war der Hafen jedoch eine besondere Herausforderung, denn Krankheiten wurden dort ein- und ausgeschleust. Der großen Choleraepidemie von 1892, bei der über 8.600 Menschen starben, begegnete die Stadt mit der Einrichtung eines Hafenärztlichen Dienstes, der insbesondere Seeleuten und Auswanderern strenge Gesundheitskontrollen auferlegte, um Seuchen zu verhindern. Die Zusammenarbeit zwischen Stadt und Medizin intensivierte sich auch beim Thema Geschlechtskrankheiten – die Prostitution in Hamburgs Hafenviertel St. Pauli unterlag seit Ende des 19. Jahrhunderts staatlicher Kontrolle. Auf Fotos, Schautafeln und Karten, die die Ausbreitung von Krankheiten in der Stadt nachzeichnen, wird über die lokale und regionale Perspektive hinaus die globale Dimension von Krankheiten verdeutlicht.

Während der NS-Zeit hatte die Krankheitskontrolle vielfach tödliche Auswirkungen. Das Museum stellt sich der NS-Herrschaft ausschnittsweise: Hervorgehoben wird die Tötung von als unheilbar geltenden Tuberkulose-Kranken sowie die Attestierung einer geistigen Behinderung, die ebenfalls tödliche Folgen haben konnte. Anhand des akribisch recherchierten Einzelschicksals des Hamburger Mädchens Irma Sperling wird die Tötung von Kindern greifbar, die den Gesundheitsnormen des Regimes nicht entsprachen. Ausgestellt ist auch ein „Binetarium“, ein Kasten mit Material zur Intelligenzmessung, in dem sich neben einem Würfel und kleinen Sprichwortkärtchen noch viele andere Utensilien finden, bei denen man gern erfahren würde, wie sie angewandt wurden und welche Schlüsse aus den Ergebnissen gezogen wurden. In Hamburg gab es jedoch nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Gegenüber vom „Binetarium“ hängt eine Schautafel, auf der zwei Täterbiographien nachvollzogen werden können: Friedrich H.F. Knigge (1900–1947) leitete von 1941 bis 1945 die Kinderfachabteilung der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn, Wilhelm A. Bayer (1900–1972) war ab 1934 Chefarzt des Kinderkrankenhauses Rothenburgsort. Beide Ärzte waren verantwortlich für die Tötung von insgesamt über 80 Kindern, die der „Kinder-Euthanasie“ zum Opfer fielen.

Die Konzeption, an einzelnen Biographien die Verflechtungen von Medizin und Gesellschaft deutlich zu machen, ist nicht neu.4 In der Hamburger Ausstellung funktioniert dieser Zugriff aber besonders gut, weil er nur behutsam eingesetzt wird und die Beispiele sorgfältig ausgewählt sind. Die Geschichte von Charlotte Kahle, einer langjährigen Krankenschwester (von 1927 bis 1966 am Universitätskrankenhaus tätig), liefert nicht nur einen Einblick in ihren Alltag, sondern bietet zugleich einen gelungenen Kontrapunkt zu den „Göttern in Weiß“. Auf eine Liste von mit Preisen ausgezeichneten Hamburger Ärzten, unter ihnen lediglich eine Ärztin, verzichtet allerdings auch das Medizinhistorische Museum Hamburg nicht.

Insgesamt hat die Hamburger Dauerausstellung (zu der es bisher leider keinen Katalog gibt) aber eine Falle umschifft, in die viele medizinhistorische Museen tappen: eine reine Fortschrittsgeschichte westlicher Schulmedizin zu erzählen, die hinter Technik und Krankheiten die Menschen verschwinden lässt. Die klare Entscheidung für den Schwerpunkt Hamburg öffnet die Medizinwelt für die Stadt und deren Bewohnerinnen und Bewohner. Der Mikrokosmos Medizin und Krankenhaus wird als Teil der Gesellschaft historisiert. Damit wird diesem engen Verhältnis seit der „Geburt der modernen Medizin“ ebenso Rechnung getragen wie einem sozial- und kulturgeschichtlich erweiterten Verständnis von Medizingeschichte.

Anmerkungen:
1 Heinz-Peter Schmiedebach, Konzept für die Dauerausstellung des Hamburger Medizinhistorischen Museums, in: Jahrbuch. Freundes- und Förderkreis des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf 2012, S. 41ff., hier S. 43.
2 Malte Thießen, Medizingeschichte in der Erweiterung. Perspektiven für eine Sozial- und Kulturgeschichte der Moderne, in: Archiv für Sozialgeschichte 53 (2013), S. 535-599, hier S. 539f.
3 Michael Fehr, Im Fluchtpunkt der Mensch. Beobachtungen in Medizinhistorischen Museen, in: Bettina Habsburg-Lothringen (Hrsg.), Dauerausstellungen. Schlaglichter auf ein Format, Bielefeld 2012, S. 97-111, hier S. 101. Zum erwähnten Museum siehe <http://www.collegeofphysicians.org/mutter-museum/> (21.12.2013).
4 Vgl. etwa Jüdisches Museum Berlin (Hrsg.), Tödliche Medizin. Rassenwahn im Nationalsozialismus, Göttingen 2009.