1636 - Ihre letzte Schlacht

1636 - Ihre letzte Schlacht

Veranstalter
Archäologisches Landesmuseum Brandenburg (10464)
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10464
Ort
Brandenburg an der Havel
Land
Deutschland
Vom - Bis
31.03.2012 - 09.09.2012

Publikation(en)

1636 – Ihre letzte Schlacht. Leben im Dreißigjährigen Krieg. Stuttgart 2012 : Theiss Verlag, ISBN 978-3-8062-2632-4 207 S. € 18,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cornelia Siebeck, Berlin/Ruhr Universität Bochum

„Leider sind Sie bereits verstorben.“ verkündet der Touchscreen, der mir die Frage „Wer wäre ich im Dreißigjährigen Krieg gewesen?“ beantworten soll. Vor meinem Tod war ich eine Marketenderin im militärischen Tross, die Soldaten mit Lebensmitteln und anderen Gebrauchsgütern versorgte, sich vielleicht auch prostituierte. Im Gegensatz zu meiner Alters- und Standesgenossin von vor 376 Jahren habe ich noch einen Versuch. Also gebe ich erneut mein Geschlecht, mein Alter und meinen Verdienst ein: „Sie sind ein Soldatenweib. Sie leiden unter Karies, Syphilis, Läusen und Bandwürmern.“ Das klingt zwar auch nicht besonders angenehm – immerhin bin ich diesmal aber noch am Leben.

Vom Leben und Sterben von Menschen zur Zeit des Dreißigjährigen Krieg erzählt eine Ausstellung im Archäologischen Landesmuseum Brandenburg, die ab Oktober 2012 an weiteren Stationen zu sehen sein wird. Im Mittelpunkt steht dabei ein Massengrab, in dem 1636 nach der Schlacht von Wittstock 125 Soldaten bestattet wurden: Schweden, Schotten, Balten und Mitteleuropäer. 2007 stieß ein Baggerfahrer in der heute dort befindlichen Kiesgrube zufällig auf Schädel und Knochen. Ein interdisziplinäres Forscher/innenteam machte es sich daraufhin zur Aufgabe, nicht nur die gefundenen Skelette und das historische Schlachtfeld zu untersuchen, sondern darüber hinaus auch die Existenzbedingungen für einfache Soldaten und die vom Krieg geplagte Bevölkerung zu rekonstruieren.

Die Ergebnisse dieses mehrjährigen Forschungsprozesses werden nun einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Dabei wird einerseits in klassischer Manier historisches Kontextwissen geboten, um dann anhand einzelner Objekte spezifischere Geschichten zu vermitteln; andererseits wird im Zuge eines archäologisch-naturwissenschaftlichen Erzählstrangs die Erforschung des Wittstocker Grabes erklärt. Der Forschungsprozess wird so zum gleichberechtigten Gegenstand der Präsentation. Im Gegensatz zu konventionellen Ausstellungen wird Besucher/innen auf diese Weise ermöglicht, die Erkenntnisbildung der Forscher/innen nachvollziehen: Wo üblicherweise zu Ausstellungsobjekten nur knappe Informationen zu finden sind, wird hier stets transparent gemacht, mit welchen Fragen Wissenschaftler/innen ihnen begegnet sind, mit welchen Methoden sie zu ihren Ergebnissen kommen. Besucher/innen haben also in dieser Ausstellung nicht nur die Möglichkeit, etwas über die Zeit des Dreißigjährigen Krieges zu erfahren, sondern können sich auch mit einem im weitesten Sinne archäologischen Blick vertraut machen.

Mit den menschlichen Überresten wird zurückhaltend umgegangen. Es werden keine vollständigen Skelette, sondern nur einzelne Knochen ausgestellt; letztere auch nur dann, wenn von ihnen biohistorische Informationen paradigmatisch ‚abgelesen‘ werden können. Die 125 Toten werden mithilfe von ebenso vielen lebensgroßen Pappkameraden in knalligem Rot repräsentiert, die die Ausstellung rege bevölkern. Jeder von ihnen ist mit den jeweils verfügbaren Informationen zu Herkunft, Alter, physischer Verfassung und Todesursache bestückt; manche erzählen ihre Geschichte über Audiogeräte sogar selbst.

Nachdem die Besucher/innen mit einigen dieser roten Figuren Bekanntschaft gemacht und historische Basisinformationen bekommen haben, werden sie in den Wittstocker Fundort eingeführt. Bei dieser Gelegenheit stellen sich auch die am Projekt beteiligten Forscher/innen mitsamt ihren jeweiligen Fragen und Methoden vor – von Archäolog/innen und Geolog/innen über Historiker/innen bis hin zu Forensiker/innen und Ballistiker/innen.

Der nächste Raum widmet sich den Lebensbedingungen des 17. Jahrhunderts. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der brandenburgischen Bevölkerung. Besucher/innen lernen hier, was man an historischen Gebissen und Knochen alles erkennen kann: Mangelernährung, chronische Schmerzen und allerart Krankheiten. Die zahlreich vergrabenen persönlichen Eigentümer und Münzschätze, von denen einige hier gezeigt werden, zeugen von einem weit verbreiteten Unsicherheitsgefühl. Anschließend geht es um die Söldnerarmeen des Dreißigjährigen Krieges: Formen der Rekrutierung und Zwangsrekrutierung, Waffen und soldatische Aufgaben. Besonders eindrucksvoll ist hier die Sammlung von Projektilen, die auf dem Wittstocker Schlachtfeld gefunden wurden. Besucher/innen dürfen die Kugeln anfassen – sie sind schwerer, als man vom Anschauen her denkt. Gut verständlich wird dabei erläutert, wie von den jeweiligen Verformungen der Bleikugeln auf die von ihnen einst verursachten Verletzungen geschlossen werden kann.

Als nächstes wird der soldatische Berufsalltag dargestellt: die weiten Marschwege und das Leben in Militärlagern, die das Ausmaß einer zeitgenössischen Großstadt annehmen konnten. Während einfache Soldaten oft in Laubhütten oder Bretterverschlägen hausten, mussten ihre Befehlshaber auf den gewohnten Luxus nicht verzichten. Auch die ausgestellten Fundstücke, die an den historischen Lagerplätzen die Zeit überdauert haben, sind daher zumeist höheren Rängen zuzuordnen: aufwändige Keramik, Schmuck oder Metallbesteck. Der umfangreiche Tross, der die Armeen begleitete, wird leider nur vage skizziert. Zumal den mitziehenden Frauen und ihren spezifischen Erfahrungen wird die Ausstellung nicht gerecht. Intensiv wird jedoch auf Versorgungsschwierigkeiten, katastrophale hygienischen Zustände, auf die kaum vorhandene ärztliche Betreuung und fehlendes medizinisches Wissen eingegangen. Spätestens hier rätselt man über das damalige Schmerzempfinden: Fast jeder der roten Pappkameraden erzählt von schlecht verheilten Knochenbrüchen und daraus folgenden chronischen Schmerzen oder Behinderungen, so gut wie alle wurden von unbehandelter Karies geplagt, viele waren mehrfach verwundet – wie schafft man es da, Tausende von Kilometern zu marschieren oder in völlig überfüllten Zeltlagern zu leben?

Ein nächstes Kapitel schildert zunächst den Ablauf der Schlacht von Wittstock, um dann anhand von ausgewählten Knochen und Schädelfragmenten akribisch die Kampfverletzungen exhumierter Soldaten zu analysieren – vom schädelzertrümmernden Hellebardenhieb über tödliche Kopfschüsse mit der Muskete bis hin zum Tod durch eine Kombination verschiedener Hieb- und Schussverletzungen. Hier findet sich auch die Rekonstruktion eines schottischen Soldaten, dessen Gesicht anhand des entsprechenden Schädels von einer Forensikerin modelliert wurde; die angewandte Technik wird begleitend erklärt.

Den Abschluss der Ausstellung bildet eine Inszenierung eines Brandenburger Künstlers. In einem dunklen Kellerraum hat er die 125 Skelette nachgebildet und so arrangiert, wie sie in ihrem Grab gelegen haben. Während man auf fluoreszierende Knochen blickt, ertönt fern die Geräuschkulisse einer sommerlichen Wiese – Vogelzwitschern, Bienensummen, leises Motorenbrummen. Dann unvermittelt Schlachtgeräusche: Schüsse, vielstimmiges Geschrei und wieder Ruhe. So lauscht man aus dem Grab dem Lauf der Dinge – und liest dazu das passende Grimmelshausen-Zitat: „Adieu, Welt! Denn auf dich ist nicht zu trauen noch von dir nichts zu hoffen! In deinem Haus ist das Vergangene schon verschwunden, das Gegenwärtige verschwindet uns unter den Händen, das Zukünftige hat nie angefangen …“.

Die Inhalte der Ausstellung lassen sich im reich bebilderten Katalog noch einmal nachlesen und vertiefen. Auch hier werden informative Essays zu verschiedenen Aspekten des Alltags im Dreißigjährigen Krieg mit Erläuterungen zum Wittstocker Grabfund und seiner wissenschaftlichen Aufarbeitung kombiniert, ergänzt mit aktuellen Literaturhinweisen von der Schlachtfeldarchäologie bis hin zur forensischen Gesichtsrekonstruktion.

Schön wäre, wenn der gelungene didaktische Ansatz der Ausstellung Nachahmer/innen fände: Von einem bestimmten Problem oder Phänomen auszugehen und es aus vielen Perspektiven und mit unterschiedlichen Methoden zu befragen, den resultierenden Erkenntnisprozess jedoch gleichzeitig als (re)konstruktive Praxis erkennbar werden zu lassen. Die Macher/innen von „1636 – ihre letzte Schlacht“ haben auf den autoritativen Gestus verzichtet, eine bestimmte Realität ‚objektiv‘ zu repräsentieren. Mit wenigen Mitteln, unprätentiös und en passant ist es ihnen gelungen, zu zeigen, dass Wissen nicht einfach ‚da‘ ist und einfach nur abgebildet werden muss, sondern von Forscher/innen aktiv produziert wird. Anstatt belehrt zu werden, lernen Besucher/innen in dieser Ausstellung die wissenschaftliche Praxis neugieriger Menschen mit spannenden Fragen kennen – und das wirkt im besten Falle ansteckend.

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