1912. Ein Jahr im Archiv

1912. Ein Jahr im Archiv

Veranstalter
wissen & museum, finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Deutschen Literaturarchiv Marbach
Ort
Marbach
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.03.2012 - 26.08.2012

Publikation(en)

Cover
Deutsches Literaturarchiv Marbach (Hrsg.): Neunzehnhundertzwölf. Ein Jahr im Archiv. Marbach 2012 : Deutsches Literaturarchiv, ISBN 978-3-937384-81-8 132 S. € 15,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Deupmann, Institut für Literaturwissenschaft, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)

Der Abstieg in die im Tiefgeschoss gelegenen Räume des von David Chipperfield entworfenen Literaturmuseums der Moderne gleicht ein wenig dem Zugang zu einem Mysterienkult: In den konservatorisch abgekühlten, schwach erleuchteten Räumen erwartet den Besucher die Begegnung mit einer anderen, dem Alltag entrückten Welt und einer anderen Zeit. In den Vitrinen und Schaukästen liegen literarische Zeugnisse des Jahres 1912, umgeben von der Aura ihrer Originalität und von weiteren Exponaten ihres zeitlichen Zusammenhangs, um dem Jahr, dem sie entstammen, sinnliche „Präsenz“ zurückzugewinnen. Im Museum kann die Vergangenheit indes nur in die zeitliche Ekstase der Gegenwart zurückgeholt werden, wenn man sie in räumliche Konstellationen übersetzt, so dass sich im anschaulichen Nebeneinander der Notizen, Skizzen, Erstausgaben und Buchillustrationen vielleicht das Erlebnis einer Verschmelzung der Zeithorizonte einstellen mag. Ob das Archiv zum Ort dieser Ekstase werden kann, wird in der Marbacher Ausstellung noch bis zum 26. August untersucht.

Ihre Versuchsanordnung beruht auf der Auswahl von acht „Leitexponaten“, die in Konstellationen mit verwandten Objekten präsentiert werden: Guillaume Apollinaires Gedicht „Zone“ (in Fritz Cahéns Nachdichtung von 1913), Franz Kafkas maschinenschriftlicher Liebesbrief an Felice Bauer, Harry Graf Kesslers Tagebuch, ein Notizzettel mit Skizzen egologischer Exerzitien des Expressionisten Erwin Loewenson („Ich“, „Egothese“, „Ich-Pol“), Heinrich Manns erste Notizen von 1909 für den drei Jahre später ausgearbeiteten Roman „Der Untertan“, Rainer Maria Rilkes Duineser Elegie „Das Marien-Leben“ vom Januar 1912, Gottfried Benns „Kleine Aster“ aus der Gedichtsammlung „Morgue“, die Erstausgabe von Carl Einsteins Roman „Bebuquin“. Indem sie diese Exponate mit anderen Objekten ihrer „historischen Umgebung“ in Berührung kommen lässt, stattet die Ausstellung acht „Laborsituationen“ aus, wie der Katalog sie nennt: Diese sind (im expressionistischen Geist der dokumentierten Zeit) überschrieben mit „schnitt“, „schrift“, „schichten“, „form“, „glanz“, „rausch“, „wuchern“ und „leben“. Auf diese Weise werden die Exponate nicht nur museal isoliert und inszeniert, sondern auch in „syntagmatische“ (‚erzählende’) und „paradigmatische“ (beispielhafte) Zusammenhänge hineingestellt. Über die kennerische Würdigung der Dokumente hinaus soll die Ausstellung dadurch zu einem „Labor des Sehens und Lesens“ werden – und in den heraufgeholten Bruchstücken aus tieferliegenden Zeit-Schichten die „Schreib-, Bild- und Denkformeln, Farbtöne und Rhythmen, Augenblicke und Blickrichtungen“ des damaligen ästhetischen Bewusstseins neuerlich hervortreten lassen (so Heike Gfrereis und Marcel Lepper im Vorwort des Katalogs, S. 6).1

Implizit wird mit dieser Funktionszuweisung an die gezeigten Exponate Hans Blumenbergs Rede von Metaphern als „Leitfossilien“2 der Bewusstseinsgeschichte zitiert und appliziert. Näher aber liegt für die Ausstellung „1912“ und ihre Kuratoren – Heike Gfrereis, Marcel Lepper und die Mitarbeiter des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts „wissen & museum. Archiv – Exponat – Evidenz“ (Felicitas Hartmann, Yvonne Schweizer und Thomas Thiemeyer)3 – der Rekurs auf Hans Ulrich Gumbrechts Buch „1926. Ein Jahr am Rand der Zeit“ (Frankfurt am Main 2001), zu dem das Marbacher Museum eine begleitende „fluxus-Ausstellung“ eingerichtet hat. Wer hier die lange Reihe von Gumbrechts eng beschriebenen Karteikarten mit ihren Stichwortlisten abschreitet, kann einen Einblick in „Techniken der Präsenzerzeugung“ gewinnen, deren umfassende Materialbegehrlichkeit sich von der konzentrierten Konstellierungspraxis der benachbarten Ausstellung doch recht deutlich unterscheidet. Anders nämlich als das nach dem Motto „pick a random year“ ausgewählte Jahr 1926 ist das Marbacher Jahr 1912 kein beliebiges Datum, sondern tritt aus der Reihe der Jahre mit der Behauptung seiner ästhetischen Signifikanz hervor. Denn die Idee der Ausstellung schließt an einen älteren Vorschlag des Romanisten Hans Robert Jauß an, das Jahr 1912 als literarische „Epochenschwelle“ zu verstehen, an der sich in der „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“, also im Nebeneinander von ästhetischen Erwartungen und deren Überbietung, ein neues Konzept der ästhetischen Moderne herauszubilden begann. Mit Rilkes „Duineser Elegien“ und Kafkas Arbeit am Amerika-Roman („Der Verschollene“) werde das Jahr zum „annus mirabilis“ insbesondere der deutschsprachigen Literatur.4 Diese Moderne mache die vom großstädtischen Leben geprägten Erfahrungen der Simultaneität, Heterogenität und ihre Folgen – Dezentrierung des ‚Ich’, Brüchigkeit jeglicher Sinnkonstruktion – zum ästhetischen Verfahren. Das zeigt sich vor Apollinaires symptomatischem „Zone“-Gedicht bereits im Zeilenstil von Jakob van Hoddis’ Gedicht „Weltende“ von 1911, dessen Schulheft-Entwurf in der Vitrine gleich neben einer Mappe mit Zeitungsausschnitten des schwäbischen Prosalyrikers Cäsar Flaischlen liegt. Der Titel der ersten Laborsituation „schnitt“ ist also offenbar doppelt zu lesen: im Blick auf ästhetische Verfahren, die als Simultan- oder Kinostil im Austausch mit den Medien der Zeit ebenso wie in Picassos Collagen mit Zeitungsausschnitten angewandt werden, und zugleich im Sinne einer Zäsur, deren Festlegung auf ein einzelnes Jahr man allerdings nicht ganz genau nehmen muss.

An dieser ästhetischen Illuminierung des Jahres 1912 wird damit auch deutlich, dass die Marbacher Ausstellung trotz des Bezugs auf Gumbrechts „1926“ tatsächlich etwas ganz anderes unternimmt. Denn die 51 durch Querverweise verknüpften Einträge in Gumbrechts Buch spannen ein Netz über das „Jahr am Rand der Zeit“, das populärkulturelle Phänomene wie Boxkämpfe oder technische Leistungen wie Fernsprecher und Ozeandampfer genauso aus der Tiefe der Zeit hervorholt wie die intakten und kollabierenden „Codes“, die etwa die ästhetischen Werke und Experimente der Zeit bestimmten. Dieser Ansatz macht mit einer Geschichte nach dem Ende der großen Erzählungen ebenso Ernst wie mit der antihermeneutischen Haltung und dem kulturwissenschaftlichen Interesse. Demgegenüber begrenzt sich der Fundus in Marbach institutionell auf das literarische Archiv, dem das Museum angeschlossen ist; und die angenommene ästhetische Signifikanz des Datums lässt die nichtästhetischen Kontexte allenfalls als indirekte Reflexe ein. Dass am 17. Januar 1912 Robert Falcon Scott den Südpol erreichte, am 14. April die Titanic versank und im selben Jahr der Tango zum Modetanz wurde, muss dem Begleittext entnommen werden. Was unter den Laborbedingungen Gumbrechts relativ problemlos funktioniert: der Querschnitt durch ein (letztlich beliebiges) Jahr, um durch materialreiche, an Details geschärfte Beschreibung einen Effekt des ‚Darinseins’ zu erzeugen, muss unter dem Blick auf literaturgeschichtliche „Verschiebungen“ und „Schwellen“ etwas unscharf geraten. Zwischen synchroner ‚Präsenz’ des Jahres 1912 und diachroner (literaturgeschichtlicher) Deutung, zwischen Jauß’ hermeneutischem und Gumbrechts antihermeneutischem Zugang zur Geschichte scheinen sich die Marbacher Ausstellungsveranstalter nicht ganz entschieden zu haben. Die leitende Fragestellung steckt vielleicht auch deshalb den Rahmen der musealen „Präsenzerzeugung“ bescheidener ab; denn sie heißt nicht: Wie lässt sich die ‚Stimmung’ von 1912 in die Gegenwart holen, sondern: „Wie erscheint mit solchen Methoden ein Jahr wie 1912 im Literaturarchiv?“ (Gfrereis und Lepper im Vorwort des Katalogs, S. 7)

Aus der Folge der Jahre ein einzelnes, auf den ersten Blick nicht bedeutsames herauszulösen und unter dem Mikroskop zu betrachten, kennzeichnet eine gegenwärtig offenbar geschätzte museale Praxis, um Erwartungen und Gewohnheiten des ‚Gedenkens’ zu durchkreuzen: Das Centre Pompidou-Metz, eine Dependance der großen Pariser Kulturinstitution, präsentiert zeitgleich (bis zum 24. September) eine Ausstellung zum Kriegsjahr 1917. Auch dort wird freilich am (womöglich paradoxen) ‚Sinn’ des „unmöglichen Jahres“ konstruiert.5 Dass die Wahl in Marbach auf das Jahr 1912 fiel, enthält daher unabhängig von der Überzeugungskraft der ästhetischen Schwellenbehauptung ebenfalls einen wichtigen Hinweis: Zwei Jahre vor der 100. Wiederkehr des Beginns des Ersten Weltkriegs erinnert die Ausstellung schon einmal nachdrücklich daran, dass sich der Blick ins Archiv der Literaturgeschichte nicht an Markierungen der politischen Geschichte ausrichten muss. Nicht zufällig hat der popliterarisch ausgebildete ‚Archivist’ Florian Illies unlängst sein Buch „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“, das Ende Oktober erscheinen soll, in Marbach vorgestellt. In zwei Jahren kommt man um die rote Zahl im politischen Kalender ohnehin nicht mehr herum: Dann widmet sich das Literaturmuseum der Moderne der Zäsur „1914. Literatur und Krieg“.

Anmerkungen:
1 Ergänzt wird die Ausstellung durch die Verlagsschau „Suhrkamp-Insel 6: 1912. Ein Jahr auf der Insel“ aus Anlass des 100. Jubiläums des ersten Bandes der Insel-Bücherei: Rainer Maria Rilkes „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ im Zeitschriftendruck der Zweitfassung von 1904 und in den vielfältigen, bibliophil ausgestatteten Buchausgaben seit 1912.
2 Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main 1997, S. 87.
3 Vgl. <http://www.wissen-und-museum.uni-tuebingen.de> (11.7.2012).
4 Hans Robert Jauß, Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaires „Zone“ und „Lundi Rue Christine“, in: ders., Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne, Frankfurt am Main 1989, S. 216-256, hier S. 243.
5 Vgl. <http://www.centrepompidou-metz.fr/de/1917> (11.7.2012).