J.Gyurgyak: A Zsidokerdes Magyarorszagon

Titel
A zsidókérdés Magyarországon. Politikai Eszmetörténet (Die Judenfrage in Ungarn. Eine Politische Ideengeschichte)


Autor(en)
Gyurgyák, János
Erschienen
Budapest 2001: Osiris Kiadó
Anzahl Seiten
788 S.
Preis
€ 17,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heidemarie Petersen, Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Gesteswissenschaftliches Zentrum Universität Leipzig

Die politische Wende des Jahres 1989 bewirkte in Ungarn nicht nur eine Wiederbelebung jüdischer Kultur, sondern auch die Renaissance eines politischen Schlagwortes - der „Judenfrage“. Dutzende von Artikeln, Büchern, Aufsätzen sind seither in Ungarn unter diesem Schlagwort verfasst worden.

Was verbirgt sich hinter diesem Begriff? Ein Blick in den Katalog der Deutschen Bücherei in Leipzig fördert Eindeutiges zu Tage: rund 230 deutschsprachige Publikationen der Jahre 1880-1997 führen die „Judenfrage“ im Titel, bei den meisten handelt es sich um einschlägige Antisemitica. Vergleichbare Ergebnisse erbringen Recherchen in anderen Nationalbibliografien: ob Judenfrage, Jewish question, zsidókérdés oder kwestia zydowska - unter diesem Stichwort versammelt sich die antisemitische Internationale.1

Die „Judenfrage“ ist ein genuin nichtjüdisches Anliegen; wenn Juden es aufgreifen, dann meist in Reaktion auf die von Nichtjuden initiierte Diskussion – das bekannteste Beispiel in dieser Hinsicht ist sicher Theodor Herzls Schrift vom Judenstaat.2 Im Prozess des „nation building“ im 19. Jahrhundert wurde die „Judenfrage“ erstmals als Frage nach der Loyalität der Juden gegenüber und ihrer Zugehörigkeit zur jeweiligen Nation aufgeworfen. Ihre wiederkehrenden Konjunkturen erlebte sie stets in Zeiten des Umbruchs und der Krise: Im Umfeld der Revolution von 1848/49, im Jahrzehnt zwischen 1880 und 1890, nach dem Ersten Weltkrieg. Die Problematisierung der Stellung der jüdischen Minderheit in und zu der Mehrheitsgesellschaft war dabei auch immer ein Substitut für andere, ungelöste Probleme der jeweiligen Gesellschaften. In Ungarn war dies vor dem Ersten Weltkrieg die nationale Frage (nur knapp 50 % der Landesbevölkerung waren Magyaren, die andere Hälfte setzte sich aus verschiedenen Nationalitäten wie Slowaken, Rumänen, Kroaten und Anderen zusammen); nach 1918 waren es die Schwierigkeiten, einen um zwei Drittel seines Territoriums beschnittenen Staat zu rekonstituieren, die durch die völlig anachronistischen Sozial- und Wirtschaftsstrukturen zusätzlich verschärft wurden.

Der Begriff hat also eine durchaus problematische Geschichte, die in der aktuellen ungarischen Diskussion jedoch in aller Regel nicht reflektiert wird. Auch der - politisch jeglichen Antisemitismus‘ unverdächtige - Historiker, Verleger und Publizist János Gyurgyák, der nun ein umfangreiches Buch zur „Judenfrage in Ungarn“ vorgelegt hat, vertritt eine „positivistische“ Haltung zu dem von ihm gewählten Leitbegriff. In seinem Vorwort räumt er zwar den antisemitischen Entstehungszusammenhang des Begriffes ein, kommt aber zu dem Schluss, „daß man den Worten ihre ursprüngliche Bedeutung zurückgeben muß. Und wenn wir über die nationale Frage oder die Agrarfrage reden, dann können wir auch über die Judenfrage sprechen [...] der Gebrauch des Wortes involviert nämlich, daß hier über zwei Jahrhunderte hinweg dasselbe Problem im Mittelpunkt gestanden hat [...] daß es zwischen den einzelnen jüdischen und nichtjüdischen intellektuell-politischen Gruppierungen Konflikte gab, gibt und geben wird, halte ich nicht für tragisch, sondern für natürlich“ (S. 14 f.).

Der Untertitel des Buches verspricht eine „Politische Ideengeschichte“. Tatsächlich liefert Gyurgyák auf rund 800 Seiten eine umfassende und detailgesättigte Bilanz von rund 150 Jahren „Judenfrage“ in Ungarn, von der 1848er Revolution bis zur Gegenwart. Die Abhandlung ist in zwei große Abschnitte mit jeweils mehreren Kapiteln unterteilt: im ersten, „Der historische Rahmen“ betitelten Teil skizziert Gyurgyák die Geschichte der Juden in Ungarn seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, als zum ersten Mal nach dem Ende der Türkenzeit eine nennenswerte jüdische Immigration einsetzte. Mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 wurden die Juden zu gleichberechtigten Bürgern des Landes. In den ungarischen Kerngebieten und in Siebenbürgen ging die überwiegende Mehrheit der Juden den Weg der magyarischen Assimilation und Verbürgerlichung. In Ungarn hatte es bis weit in das 19. Jahrhundert hinein ein allenfalls rudimentäres Bürgertum gegeben, so dass die Juden weniger in dieses eintraten als es formierten. Handel, Bankwesen und die so genannten freien Berufe wurden mehrheitlich von Juden betrieben. Sie wurden, mit Förderung und Zustimmung des politisch wie wirtschaftlich dominierenden Adels, zum modernisierenden bürgerlichen Element. Gleichzeitig stärkten sie durch ihre weitgehende Assimilation die knappe Mehrheit der Magyaren im multinationalen Ungarn. Nach 1918 brach die durch den „Assimilationsvertrag“ mit der herrschenden Schicht 3 gesicherte Stellung der Juden in der ungarischen Gesellschaft zusammen. Ungarn war das erste europäische Land, in dem man unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg die bereits vollzogene Emanzipation der Juden per Gesetz wieder in Frage zu stellen begann.4 Ende der 1930er Jahre führten nationalistische ungarische Regierungen in vorauseilendem Gehorsam gegenüber dem mächtigen deutschen Verbündeten Judengesetze nach dem Vorbild der Nürnberger Rassegesetze ein. Als deutsche Truppen 1944 das Land besetzten, waren seine Juden bereits ihrer Bürgerrechte beraubt worden, so dass es möglich war, innerhalb weniger Wochen rund eine halbe Million ungarischer Juden in die deutschen Vernichtungslager zu deportieren und zu ermorden.5 Etwa 200.000 ungarische Juden überlebten die Shoah, etwa so viele leben auch heute in Ungarn (überwiegend in Budapest) und bilden damit die größte jüdische Minderheit in den Ländern Ostmitteleuropas.

Im zweiten, etwa zwei Drittel des Buches umfassenden Teil wird die Behandlung der „Judenfrage“ in den Hauptströmungen des ungarischen politischen Denkens seit 1848 dargestellt. Je ein Kapitel widmet sich „Konservativen und Liberalen“, der „Radikalen Rechten“, „Bürgerlichen Radikalen und Sozialdemokraten“ sowie den „Populisten“. In etwa 50 handbuchartigen Artikeln von jeweils 5-10 Seiten wird die Haltung mehr und minder bedeutender Vertreter der einzelnen Richtungen zur „Judenfrage“ abgehandelt. In einem gesonderten Kapitel widmet sich Gyurgyák den parallel dazu verlaufenden innerjüdischen Identitätsdiskursen. Ein kurzer Epilog behandelt „die Judenfrage nach 1945“. Darüber hinaus enthält der reich bebilderte Band eine kommentierte Bibliografie, rund 60 Kurzbiografien, eine den historischen Teil ergänzende, von 1746 bis 2001 reichende Zeittafel sowie ein Personen- und Sachregister. Diese Ausstattung unterstreicht den Handbuchcharakter des Bandes.

Die schiere Menge der von Gyurgyák aufgeführten Positionen suggeriert, dass die „Judenfrage“ im modernen Nationswerdungsprozess der Ungarn, der mit der Revolution von 1848 einen ersten Höhepunkt erreichte, stets von zentraler Bedeutung war, da sie offensichtlich in allen politisch-ideologischen Lagern (mit Ausnahme der Kommunisten) diskutiert wurde. Dieser Eindruck ist jedoch in erster Linie dem enzyklopädischen Zuschnitt der Darstellung geschuldet: Da Gyurgyák weitgehend darauf verzichtet, die einzelnen Positionen analysierend ihrem soziopolitischen Umfeld zuzuordnen, fällt es dem Leser schwer, ihr tatsächliches Gewicht im ungarischen politischen Diskurs der vergangenen 150 Jahre zu ermessen.

Dass es der verlorene Erste Weltkrieg und der Schock von Trianon waren, die die „Judenfrage“ – neben der Revision der Grenzen – erstmals zu einem zentralen Thema machten, erschließt sich allenfalls aus der quantitativen Zunahme der entsprechenden Statements nach 1918. Erst im schwierigen Prozess der Rekonstituierung des um zwei Drittel seines Territoriums und rund die Hälfte seiner Bevölkerung reduzierten Landes trat auch der substituelle Charakter dieses Diskurses deutlicher hervor. Die Entscheidung des Autors, die Geschichte der „Judenfrage“ vor allem an den Personen festzumachen, die sie stellten, erweist sich besonders in diesem Punkt als Nachteil. Die außerordentliche Virulenz der „Judenfrage“ im Ungarn der Zwischenkriegszeit lässt sich nicht ausreichend erklären, indem man sie als politischen Standpunkt einzelner Personen darstellt; sondern nur, wenn man sie als Ausdruck tief greifender struktureller Probleme der gesamten Gesellschaft begreift.

Insgesamt hinterlässt das Buch beim Leser einen zwiespältigen Eindruck. „Die Judenfrage in Ungarn“ ist, sowohl der Ausstattung als auch dem methodischen Zugriff nach, ein veritables Handbuch, in dem der Leser buchstäblich jede Einzelheit aufgelistet und belegt findet. Die im Vorwort annoncierte „Problemgeschichte“ hat Gyurgyák freilich nicht geschrieben, denn dazu fehlt ihm, bei aller Detailkenntnis, die analytische Distanz zu seinem Gegenstand. Indem er es unterlässt, den um die „Judenfrage“ entfalteten Diskurs an seine vielschichtigen sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Kontexte anzubinden und entsprechend zu problematisieren, schreibt er jenen Diskurs nolens volens fort, statt ihn kritisch in den Blick zu nehmen. Solche Art der Unbedarftheit ist nicht zuletzt deswegen ärgerlich, weil sie es Antisemiten leicht macht, das Buch in ihrem Sinne aufzufassen - nicht zufällig liegt es in Budapester Straßenbuchhandlungen stets gemeinsam mit einschlägigen Titeln von „Auschwitzlüge“ bis „zionistischer Weltverschwörung“ aus.

Anmerkungen:
1 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung in diesem Jahr herausgegebene Microfiche-Edition „Die Judenfrage. Schriften zur Begründung des modernen Antisemitismus 1780-1918“, die allein 600 deutschsprachige Publikationen versammelt.
2 Theodor Herzl: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, Leipzig 1896.
3 Dieser Begriff wurde von dem ungarischen, in Paris lehrenden Soziologen und Historiker Viktor Karády geprägt, vgl. ders.: Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne, Frankfurt a.M. 1999.
4 1920 wurde ein Numerus clausus festgelegt, der den Anteil jüdischer Studenten an den ungarischen Hochschulen entsprechend dem Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung auf 6% festlegte.
5 Zum Holocaust an den ungarischen Juden ist erst kürzlich eine ausgezeichnete Studie in deutscher Sprache erschienen: Götz Aly; Christian Gerlach: Das letzte Kapitel. Realpolitik, Ideologie und der Mord an den ungarischen Juden 1944/1945, Stuttgart 2002.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension